"Behinderte Menschen spielen in der Gesellschaft keine Rolle"
Die Aktivistin und Schauspielerin Alina Buschmann hat das Buch "Angry Cripples" herausgegeben. Im Interview spricht sie über die alltägliche Diskriminierung von behinderten Menschen.
"Ich bin eine behinderte Frau." Heute kann Alina Buschmann diesen Satz selbstverständlich sagen. Doch bis hierher war es ein schmerzhafter Weg, erzählt die Schauspielerin: "Ich hätte mir gewünscht, dass mir jemand gesagt hätte, dass sich meine Lebensrealität durch den Unfall verändert hat und dass es okay ist so." Stattdessen hat Alina Buschmann jahrelang gegen ihre Behinderung angekämpft, weil ihr gesagt wurde, sie müsse sich nur genug anstrengen.
"Angry Cripples": Plattform und Buch
Als Aktivistin setzt sie sich mittlerweile für die Belange von Menschen mit Behinderung ein. Mit der Plattform "Angry Cripples" hat sie einen Ort für Austausch und Empowerment geschaffen. Sie ist auch Mit-Herausgeberin eines gleichnamigen Buches, in dem Texte und Illustrationen von behinderten Menschen zusammengestellt sind.
Lesen Sie hier einen Auszug aus einem Interview mit Buschmann in der Sendung "Das Gespräch". Das Audio mit dem gesamten Interview finden Sie auch in der ARD Audiothek.
Frau Buschmann, Sie haben die Online-Plattform "Angry Cripples", also "wütende Krüppel", mitgegründet. Dieser Begriff kommt krass daher - was hat es damit auf sich?
Alina Buschmann: Behinderte Menschen werden oft abfällig so genannt - denn egal, was wir tun oder wie nett wir sind, werden wir häufig als zu wütend, zu laut und zu anstrengend wahrgenommen. Wir dachten uns, wir holen uns den Begriff "Angry Cripple" zurück und nutzen ihn für uns. Meine Mitgründerin Luisa L'Audace und ich finden, dass es völlig legitim sein sollte, wenn wir laut und wütend sind, wenn wir Rechte einfordern. Deswegen erschien uns der Name sehr passend für das Projekt.
Was macht Sie wütend?
Buschmann: Mich macht sehr viel wütend. Aber vor allem macht mich wütend, dass behinderte Menschen in unserer Gesellschaft keine Rolle spielen. Ich weiß, dass das in individuellen Fällen anders ist, aber wenn wir auf die Mehrheitsgesellschaft gucken, spielen wir keine Rolle. Es sei denn, mit uns wird Charity gemacht oder Geld verdient. Nichtbehinderte Menschen instrumentalisieren uns häufig, damit sie als besonders nett und gütig gelten, weil sie etwas mit behinderten Menschen zu tun haben. Gleichzeitig haben wir wenig Rechte, die wir tatsächlich auch barrierearm umsetzen können. Und ich möchte einfach, dass sich das ändert. Ich möchte, dass behinderte Menschen in unserer Gesellschaft stattfinden, als potenzielle Kund*innen, Freund*innen, Künstler*innen, was auch immer. Ich möchte einfach, dass wir als Teil dieser Gesellschaft gesehen werden.
Aktuell sind wir eine Gruppe, mit der sich Menschen nicht identifizieren. Und das merke ich auch sehr oft, wenn ich über unser Buch spreche. Mir wird zum Beispiel gesagt: Wir wissen jetzt gar nicht so richtig, für wen wir eine Lesung machen sollen. Wir könnten bei der Lebenshilfe anfragen. Und dann sage ich immer: Naja, ich glaube, dieses Buch hat vor allem auch einen Platz bei nichtbehinderten Menschen, die noch gar nicht wissen, dass sie auch die Zielgruppe sind.
Sie haben gesagt, dass Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft selten stattfinden oder nicht gesehen werden. Welche Chance bietet denn das Internet? Merken Sie, dass sie da besser gesehen werden können?
Buschmann: Ich glaube, es hat vor allem damit zu tun, dass ich mich verstanden fühle. Als sich meine Barrierefreiheits-Anforderungen geändert haben, ich also auf deutlich mehr Barrieren gestoßen bin, weniger Kapazitäten hatte und nicht mehr so in unserer Leistungsgesellschaft stattfinden konnte, wie sie das von uns verlangt, habe ich gemerkt: Okay, ich bin gerade in meinem Umfeld die einzige Person mit dieser Lebensrealität. Das führt erstmal dazu, dass man sich selbst hinterfragt. Ich dachte mir: Hä, was mache ich falsch? Ich dachte immer, ich müsste mich mehr anstrengen, um wieder besser reinzupassen.
Aus einer Verzweiflung heraus dachte ich: Okay, ich sitze hier, ich fühle mich wie ein Alien und vielleicht gibt es ja Menschen, die das verstehen. So habe ich angefangen, auf Instagram meine Gedanken und Sorgen mitzuteilen und vor allem auf die Barrieren, auf die ich im Gesundheitssystem gestoßen bin, hinzuweisen. Und daraus ist so viel mehr geworden, weil ich mich in dieser Zeit als behinderte Frau identifizieren konnte und schließlich gelernt habe: Du bist nicht das Problem. Es gibt Ableismus, also die strukturelle Diskriminierung von behinderten und/oder chronisch kranken Menschen. Das, was dir widerfährt, ist Diskriminierung. Und vor allem bist du damit auch nicht allein. Es gibt nämlich sehr, sehr viele behinderte und chronisch kranke Menschen, denen ähnliche Sachen passieren. Da entsteht natürlich auch schnell ein Community-Gefühl, was ich so in meinem Umfeld gar nicht hätte gewinnen können. Natürlich hat sich das mit der Zeit geändert und ich habe viele Freund*innen gefunden, die selbst behindert sind. Ich stehe im Austausch mit sehr vielen behinderten Menschen und möchte das auch nicht mehr missen, weil es mich einfach in meiner Lebensrealität viel wohler fühlen lässt.
Sie sind seit einem Unfall geh- und sehbehindert. Was für ein Prozess war das, dass Sie sich schließlich hinstellen und sagen konnten: Ich bin eine behinderte Frau - und ich bin nicht das Problem, sondern das Problem ist das System?
Buschmann: Das war vor allem ein super schmerzhafter Prozess. Im Nachhinein kann ich sagen, dass dieser Unfall zwar etwas war, was dazu geführt hat, dass sich meine Barrierefreiheits-Anforderungen an mein Leben und auch an meinen Beruf geändert haben, aber rückblickend habe ich mich einfach mehr mit mir und meiner Lebensrealität auseinandergesetzt. Ich kann sagen, dass ich zwar sehr privilegiert in meiner Behinderung war, aber eigentlich auch schon lange, länger als dieser Unfall her ist, behindert bin. Ich glaube, das ist sehr heilsam. Gleichzeitig wird dieses Merkmal, was ja in erster Linie einfach die Lebensrealität beschreibt und ein Teil der Identität ist, weggedrückt, weil wir Behinderungen in der Gesellschaft als etwas Schlechtes wahrnehmen. Aber ich merke in meinem Umfeld, dass dieser Satz, "Ich bin behindert.", jetzt Alltag geworden ist, während am Anfang viele Menschen dort so ein bisschen zusammengezuckt sind. Ich habe richtig gemerkt, wie unangenehm es Menschen ist, wenn Leute ihre Selbstbezeichnung nutzen, weil sie einfach so negativ konnotiert ist. Und ich wünsche mir, dass sich das ändert - dass behinderte Menschen, die jetzt aufwachsen, wissen, dass nicht sie das Problem sind, sondern der Ableismus.
Können Sie einmal erklären, was mit dem Begriff Ableismus genau gemeint ist?
Buschmann: Ableismus ist die strukturelle Diskriminierung von Behinderten und/oder chronisch kranken Menschen. Häufig denken Menschen, die sich nicht mit Diskriminierung auseinandersetzen, ableistisch zu sein bedeute, aktiv zu sagen: Ich hasse behinderte Menschen. Das Konzept Ableismus beschreibt aber vielmehr die Strukturen und das System dahinter. Es muss eben nicht eine direkte Beleidigung gegenüber einer behinderten Person sein. Ein nett gemeintes, "oh, das ist ja schön, dass du das jetzt trotzdem machst", ist auch ableistisch.
Woher kommt es Ihrer Meinung nach, dass behinderte Menschen in unserer Gesellschaft so wenig stattfinden?
Buschmann: Das Leben von behinderten Menschen wurde schon immer abgewertet. In der NS-Zeit wurden behinderte Menschen systematisch ermordet, weil sie behindert sind. Das vergessen wir leider oft, wenn wir über die Opfer des Nationalsozialismus sprechen. Wenn es einen Punkt in unserer Geschichte gab, an dem sehr viele behinderte Menschen getötet wurden, weil ihr Leben als lebensunwert eingestuft wurde, geht es ja irgendwann weiter: Es gibt logischerweise wieder mehr behinderte Menschen, weil sie nicht mehr getötet werden. Dann hat halt eine Form von Separation stattgefunden, die es immer noch gibt.
Ich bin sehr privilegiert, weil ich auf eine Regelschule gehen konnte, weil ich Chancen auf Bildung hatte, weil ich ein Abitur habe, auf eine Schauspielschule gehen konnte und so weiter. Ganz viele andere behinderte Menschen aus unserer Community haben das alles nicht. Es gibt ein ganzes Sonderwelten-System, in das wir abgeschoben werden und in dem wir existieren sollen, während die Gesellschaft parallel existiert. Natürlich kommt es dann dazu, dass sich nichtbehinderte Menschen weniger mit uns identifizieren, weil sie von behinderten Menschen immer nur in bestimmten Kontexten hören, sei es in irgendwelchen Einrichtungen oder in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Dann wird gedacht, dass es ein besonders sozialer Akt wäre, dort etwas zu kaufen, während diese Menschen dort für sehr, sehr wenig Geld arbeiten müssen. Sie haben fast keine Chance, da rauszukommen, während der erste Arbeitsmarkt nicht inklusiv ist. Das bedeutet: Wir haben schlechtere Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt und ein deutlich höheres Risiko, von Armut betroffen zu sein. Zusätzlich ist es auch einfach teuer, behindert und/oder chronisch krank zu sein. Wenn wir zum Beispiel von Wohnraum sprechen: Behinderte Menschen haben oft Anforderungen, die leider dazu führen, dass dieser Wohnraum noch teurer wird, weil die meisten barrierearmen Sachen tatsächlich Neubau sind.
Sie haben beschrieben, dass Sie im Gesundheitssystem Schwierigkeiten hatten, Ansprechpartner zu finden, die Sie ernst nehmen.
Buschmann: Ich glaube, das ist etwas, was sehr vielen Menschen passiert, die eine einschneidende Krankheit hatten oder denen etwas Einschneidendes passiert ist. Es wird oft gar nicht erst in Erwägung gezogen, dass die Personen jetzt tatsächlich behindert sein könnte. Ich habe Jahre damit verbracht, zu versuchen, meine Behinderung wieder wegzukriegen oder quasi die Barrieren, auf die ich stoße, vielleicht auch die Symptome, die dazugekommen sind, wegzubekommen. Während mir von außen immer wieder gespiegelt wurde: Sie machen das nicht gut genug. Sie müssen mehr Physiotherapie machen. Sie müssen dieses oder jenes machen. Sie müssen mit dem Kopf dabei sein.
Mein Problem war, dass ich wirklich sehr, sehr intensiv versucht habe, alles zu tun, was mir Menschen gesagt haben. Und es hat einfach nicht geholfen, weil mein Körper jetzt einfach andere Grenzen hat als vorher. Ich bin in vielen Dingen weniger privilegiert als ich vorher war. Und ich hätte mir wirklich gewünscht, dass mir früher gesagt wird: Hey, das ist eine andere Lebensrealität, es kann dauern, bis Menschen sich darin zurechtfinden und das ist völlig okay. Ich glaube, das passiert sehr vielen behinderten und/oder chronisch kranken Menschen, dass sie quasi dazu animiert werden, gegen etwas anzukämpfen, was sie de facto nicht ändern können. Dabei wird ein behinderter Körper als der worst case dargestellt, der er nicht ist.
Dazu passt ein Satz aus ihrem Buch: "Behinderte Menschen fühlen sich durch diese Erwartungshaltung oft dazu gedrängt, so nichtbehindert wie möglich rüberzukommen."
Buschmann: Sobald du irgendwelche Barrierefreiheits-Anforderungen äußerst - also sagst, ich brauche das und das, um hier stattzufinden - und dabei ist es völlig egal, ob es um Arbeit geht oder darum, dass man gerne ins Kino gehen möchte oder was auch immer - wirst du sofort abgewertet. Diese Hilfsmittel, die wir oft für Teilhabe brauchen, werden komplett negativ konnotiert. Dadurch trauen sich viele behinderte Menschen zunächst gar nicht, sie zu nutzen oder lehnen sie sogar aktiv ab, selbst wenn sie ihnen angeraten werden.
In ihrem Buch "Angry Cripples" erzählt ein Mann, wie er das Schulsystem durchlaufen hat und wie schwierig es ist, im Berufsleben anzukommen. Er beschreibt, dass er manchmal dachte, er sitze nur in der Inklusionsklasse, damit sich die Schule mit ihm schmücken kann. Das tut weh beim Lesen.
Buschmann: Deswegen ist es so wichtig, dass wir diese Perspektiven hören. Ich sage immer gerne, dass dieses Buch der Anfang ist. Und dass es nicht damit getan ist, dass wir jetzt einmal allen Menschen zuhören, denen wir hier eine Bühne bieten. Es gibt so viel mehr Perspektiven, die gehört werden müssen. Dieser Schmerz und diese Erkenntnis, die eine nichtbehinderte Person haben kann, wenn sie diese Dinge liest, kann Einfluss darauf haben, wie wir weiterhin in unserer Gesellschaft stattfinden. Fakt ist, dass es unterschiedliche Menschen mit Macht und Privilegien gibt. Und wenn diese Menschen anfangen zu reflektieren, dass sie in unseren Strukturen, ob sie wollen oder nicht, Ableismus reproduzieren, dann sind das auch die Menschen, die anfangen können, aktiv etwas zu ändern. Natürlich in Verbindung damit, dass es mehr Rechte und Gesetze gibt, die auch aktiv durchgesetzt werden. Teilhabe ist tatsächlich ein Recht - aber sie findet viel zu wenig statt.
Das Gespräch führte Andrea Schwyzer.