Inklusion und Teilhabe - Wie kann das gelingen?
Jeder Mensch, egal ob mit oder ohne Behinderung, soll die Chance haben an allen Bereichen des Lebens, also Lernen, Arbeiten, Wohnen und Freizeit, teilzunehmen und sie nach seinen Möglichkeiten mitzugestalten. "Mittendrin statt nur dabei" sollte hier der prägende Satz sein. Dafür braucht es gesellschaftliche Akzeptanz und strukturellen Veränderungswillen. Wie wird Inklusion in Deutschland gehandhabt? Was läuft gut und was noch nicht?
Teilhabe bedeutet: Eine Gesellschaft, in der alle dazugehören
2006 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) von der Generalversammlung angenommen, seit 2009 ist sie auch in Deutschland in Kraft und trägt zur gesetzlichen Grundlage für Inklusion und Teilhabe bei. Die UN-BRK stellt klar: Die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist kein Akt der Fürsorge oder Gnade, sondern ein Menschenrecht.
Mit der Abkehr vom Gedanken der Fürsorge hin zur Unterstützung für mehr Selbstbestimmung vollzog sich in der deutschen Behindertenpolitik ein Paradigmenwechsel. Auch das sogenannte Wechselwirkungsmodell veränderte die politische Grundhaltung: Demzufolge besteht eine Behinderung, wenn die Strukturen einem Menschen im Wege stehen und nicht, weil der Mensch "anders" ist. Das Wechselwirkungsmodell ist seit der Ratifizierung der UN-Konvention für Menschen mit Behinderung auch in Deutschland gesetzlich verankert und Grundlage staatlichen Handelns.
Heute gilt: Inklusion statt Integration
Konkret bedeutet Inklusion, dass "alle Menschen gleichberechtigt an allen gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen. Sie sollen unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten, ihrer ethischen und sozialen Herkunft sowie von Geschlecht und Alter an den verschiedenen Lebensbereichen teilnehmen können", so das Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung Mecklenburg-Vorpommern. Im Gegensatz zur Integration, bei der ein Mensch in ein bereits bestehendes System eingebunden werde, gehe Inklusion von einem gemeinsamen Leben von Anfang an aus.
Inklusion und Teilhabe im täglichen Leben
Im täglichen Leben bedeutet Inklusion und Teilhabe, dass Menschen mit Behinderung ebenso wie Menschen ohne Behinderung beim Einkaufen, bei Freizeitveranstaltungen, beim Sport, in der Schule, an der Uni, bei der Arbeit, im Verein oder in ihrer Familie so akzeptiert werden wie sie sind und sich ohne Hürden bewegen können.
Dazu gehört unter anderem der barrierefreie Ausbau des öffentlichen Raums, der mithilfe von Rampen, breiteren Türen und Aufzügen Gebäude und Nahverkehr für jeden zugänglich macht. Doch "barrierefrei" bezieht sich auch auf Informations- und Kommunikationstechnologien, die so gestaltet sein müssen, dass jeder sie nutzen und sich informieren kann.
Barrierefrei im Alltag und im Internet
Die Bedürfnisse unterschiedlicher Gruppen sind dabei sehr individuell: Menschen mit einer Sehbehinderung haben etwa andere Anforderungen an eine Website als Menschen mit Lernschwierigkeiten. Menschen mit Behinderung stehen dabei unterschiedliche Hilfsmittel, sogenannte assistive Technologien, zur Verfügung, wie zum Beispiel Screen- und Webreader für blinde Menschen, Vergrößerungssysteme für Menschen mit Sehbehinderung oder Spracherkennungssoftware.
Darüber hinaus ist die barrierefreie Gestaltung von Websites wichtig, um sie allen Menschen zugänglich zu machen. 78 international gültige Kriterien wurden dafür festgelegt. Hier einige Beispiele:
- Alternativtexte für informative Grafiken und Bilder für blinde Nutzer
- Geräteunabhängigkeit, also die Möglichkeit mit Tastatur statt Maus auf einer Website zu navigieren.
- Untertitel für Videos, Transkriptionen für Audios (wie etwa Podcastangebote) und Videos in Gebärdensprache für gehörlose oder schwerhörige Menschen
- Texte und Überschriften in Einfacher oder Leichter Sprache, die Menschen mit Lernschwierigkeiten ermöglichen, komplexe Inhalte zu verstehen.
Selbstbestimmt leben auch bei schwerer Behinderung
Sich selbstständig informieren zu können ist wesentlich, um Entscheidungen treffen und somit ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Der Ausbau der Barrierefreiheit im Internet ist also mindestens ebenso wichtig für eine inklusive Gesellschaft wie der Bau von Aufzügen. In der UN-Behindertenrechtskonvention sind Rechte festgeschrieben, die ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen, wie etwa:
- eine unabhängige Lebensführung, also selbst zu entscheiden, wo man sich aufhält und mit wem man lebt.
- persönliche Mobilität, also sich frei in seiner Umgebung bewegen zu können, eine barrierefreie Umwelt und das Recht auf Mobilitätshilfen (wie einen Rollstuhl).
- Zugang zu Informationen und freie Meinungsäußerung: Informationen müssen rechtzeitig und ohne zusätzliche Kosten zugänglich sein, auch in Form spezieller Formate und Technologien, die für unterschiedliche Arten der Behinderung geeignet sind.
- Achtung der Privatssphäre, also keine willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffe in das Privatleben. Das Private muss besonders geschützt werden, gerade Menschen mit Behinderung fehlt oft der Rückzugsraum ins Private.
Hilfe ja, Fremdbestimmung nein
Selbstbestimmung und Unterstützungsbedarf im Alltag schließen sich dabei nicht aus. "Menschen mit Behinderungen haben das Recht, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihr Leben nach ihren Wünschen zu gestalten. Das beinhaltet auch die freie Wahl von Wohnform und -ort und das Recht auf Unterstützungsangebote wie Assistenzen für ein selbstbestimmtes Leben", erläutert die Aktion Mensch, die sich für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention einsetzt. Ziel der UN-BRK ist es, Selbstbestimmung so weit wie möglich aufrecht zu erhalten, auch und gerade bei Menschen, deren Behinderung so stark ist, dass andere teilweise für sie entscheiden müssen.
Wo steht Deutschland beim Thema Inklusion?
Während Teilhabe und Inklusion im Großen oft schwer greifbar sind, zeigen Beispiele im Kleinen, wie ein gemeinsames Leben gelingen kann: in der Kita, in der Kinder mit und ohne Behinderung selbstverständlich zusammen spielen, in der Schule, wo es - trotz aller Kritik - oft auch gelingt, dass alle miteinander lernen, im Sportverein oder in der Familie, wo ein Kind mit Behinderung als Bereicherung erlebt wird. Die Lebenshilfe e.V. hat mit "Geschichten aus dem Leben" zahlreiche Beispiele gesammelt, die helfen, Inklusion erfahrbar zu machen und die zeigen, wie jeder Einzelne sie mitgestalten kann. Bei allen Beispielen wird klar: Die Persönlichkeit eines Menschen steht im Vordergrund, nicht seine Behinderung.
Probleme im Gesundheitswesen
Gesamtgesellschaftlich ist dieses Ziel jedoch noch nicht erreicht, denn Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen stoßen immer wieder an Grenzen, wie zum Beispiel im Gesundheitswesen. Der Umgang mit Kindern oder Erwachsenen mit Behinderung erfordert in vielen Fällen individuelle Lösungen, die vom Alltagsgeschäft abweichen.
Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung kritisiert die Hürden, denen Menschen mit Behinderung im Krankheitsfall oft gegenüberstehen: "Wir haben ein Qualitätsproblem im deutschen Gesundheitssystem, weil es eben nicht barrierefrei ist. Das gilt auch für Arztpraxen. Dort werden oft nur standardisierte Leistungen vergütet und Menschen mit Behinderung stoßen teilweise auf Abwehr, weil ihre Behandlung für den Arzt oder die Ärztin erstmal komplizierter ist." Auch im Krankenhaus stehen Menschen mit Behinderung vor großen Problemen. Viele brauchen Unterstützung, die über das, was das Krankenhauspersonal leisten kann, hinaus geht. Hier mussten bislang oft Angehörige unter großem persönlichen und finanziellen Aufwand einspringen.
"Recht auf Assistenz": Ein Schritt nach vorn
Zumindest diesbezüglich gibt es positive Veränderungen: Seit November 2022 haben Menschen mit Behinderung das Recht auf Assistenz, also eine Begleitperson im Krankenhaus, die von der Krankenkasse finanziert wird. Ein großer Schritt, sagt Dusel, denn dieses Problem wurde jahrelang von einer Stelle zur nächsten geschoben, ohne gelöst zu werden.
Inklusion funktioniert nur mit gesellschaftlicher Akzeptanz
Oberstes Ziel sei, dass Menschen mit Behinderung in den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten kommen, so die Lebenshilfe e.V.. Das beginnt im Kleinen, zum Beispiel bei einer respektvollen Wortwahl etwa "Menschen mit Behinderung" statt "Behinderte". Der Verein sieht hier nicht nur die Politik in der Pflicht, sondern jeden Einzelnen: "Die Schärfung des Bewusstseins für die Belange von Menschen mit Behinderung steht an erster Stelle. Denn ohne die Akzeptanz der Gesellschaft und das Miteinander-leben-Wollen ist Inklusion nicht möglich."