Blinder Uni-Dozent kämpft für Barrierefreiheit in Dithmarschen
An der FH Westküste in Heide leitet der blinde Dozent Carsten Dethlefs das Seminar "Menschen mit Behinderung als Zielgruppe - Barrierefreiheit als Wettbewerbsvorteil". Es ist einzigartig in Deutschland.
Wenn Carsten Dehtlefs Geld bei der Bank abheben möchte, nimmt er einen Kopfhörer mit. "Viele Automaten haben einen Kopfhörer-Anschluss. Eine Stimme leitet einen dann durch die Anwendung. Sie wiederholt zum Beispiel den Betrag, den ich abheben möchte", erklärt er. Dethlefs ist Dozent an der Fachhochschule (FH) Westküste in Heide (Kreis Dithmarschen). Er war vier Jahre alt, als er wegen eines Gehirntumors erblindete.
Dank guter Betreuung kam der heute 43-Jährige an der Schule gut zurecht. "Ich hatte aber auch tolle Lehrer. Einer meiner Lehrer hat extra für mich die Blindenschrift gelernt." Als Dozent hat Dethlefs den Kampf für Barrierefreiheit im Kreis Dithmarschen aufgenommen - mit einem einzigartigen Seminar.
Barrierefreiheit als Standortfaktor in SH
Dethlefs studierte BWL und schrieb seine Doktorarbeit an der Goethe-Universität in Frankfurt. Schließlich wurde er Dozent in Heide. Ein Bekannter hatte ihn vermittelt. Dethlefs wollte schon länger in der Bildung arbeiten und bringt sein Thema an der Fachhochschule ein. Je barrierefreier zum Beispiel der Kreis Dithmarschen werde, umso besser könne er die Zielgruppe gewinnen, sagt Dethlefs.
"Die Menschen geben dann lieber hier ihr Geld aus als woanders", bringt es der Marketing-Dozent auf den Punkt. Jedes Semester leitet er das Seminar "Menschen mit Behinderung als Zielgruppe - Barrierefreiheit als Wettbewerbsvorteil". Zwischen 10 und 20 Studenten melden sich an. Mit der Forschungsarbeit und der Dozententätigkeit sei ein Traum für ihn in Erfüllung gegangen, wie er sagt.
Mit Bauchgrummeln im Alltag unterwegs
Der Marketingexperte gehört nicht zu den blinden Menschen, die überallhin alleine gehen und sich mit ihrem Blindenstock in der Stadt orientieren. "Das liegt an meinen eigenen Ängsten. Ich bin mal als Kind vergessen worden und fand mich in der Umgebung nicht zurecht. Deswegen fühle ich mich wohler in Umgebungen, in denen ich regelmäßig bin." Andererseits ist er auch schon allein nach Brüssel geflogen oder mit der Bahn von Heide nach Köln gefahren. "Ein leichtes Bauchgrummeln ist immer dabei", sagt er. Vor Ort wird er von Bekannten abgeholt, auf die er sich verlassen kann. Bei Terminen im Alltag begleitet ihn seit zehn Jahren seine Assistentin Susanne Junge.
Assistentin begleitet Dethlefs im Alltag
Um zum Heider Campus zu kommen, fährt er entweder bei seiner Assistentin mit oder nimmt sich ein Taxi. Der Fahrer bringt ihn dann in den Hörsaal. Dort schließt ihm Susanne Junge den Laptop an. Den braucht Carsten Dethlefs, denn um möglichst anschaulich über Marketing und PR zu unterrichten, zeigt Junge den Studenten Werbespots. "Das macht sein Seminar natürlich lebendiger und der Unterhaltungsfaktor kommt bei ihm nie zu kurz", findet Student Niels Bremes.
Wer im Seminar reden will, muss klopfen
Carsten Dethlefs hält seine Seminare ohne Skript. Er stellt seinen Studenten immer wieder Fragen, will, dass sie sich einbringen. Wer antworten möchte, klopft hörbar auf den Tisch. Dethlefs bewegt seinen Kopf dann in die Richtung, aus der das Klopfen kommt. "Das war schon eine Umstellung. Normalerweise melden wir uns", berichtet Ines Kay. "Aber ich hatte mich nach den ersten fünf Minuten daran gewöhnt, das ist voll cool."
Anna-Maria Salvi erinnert sich noch gut an die ersten Vorlesungen mit ihrem blinden Dozenten. "Ich wusste zuerst nicht, was ich machen sollte. Jetzt passiert es mir auch in anderen Seminaren, dass ich klopfe", lacht sie. Und Jolina Kretz ergänzt: "Wir kommen nicht einfach nur in den Seminarraum herein und setzen uns wortlos hin. Sondern sagen laut 'Guten Morgen', damit er weiß, dass jemand da ist. Das mache ich seitdem auch in den anderen Kursen, was ich an sich sehr schön finde."
Dethlefs bindet seine Studenten auch ganz praktisch mit ein. Verteilt an sie Augenbinden, lässt sie in Begleitung in der Caféteria einen Kaffee holen gehen. Damit sie die mangelnde Barrierefreiheit am eigenen Leib erfahren. "Man überwindet dann auch mal seine eigene Komfortzone. Das finde ich sehr gut", findet Samira Azizi.
Studenten ermitteln Barrierefreiheit in Dithmarschens Kneipen
Vor wenigen Tagen ließ Carsten Dethlefs seine Studenten in Heide ausschwärmen. Sie hatten die Aufgabe, die Gastroszene der Stadt auf Barrierefreiheit zu überprüfen und auf einer Skala von 1 bis 10 zu bewerten. Im Seminar befragt er sie systematisch von links nach rechts nach ihren Erfahrungen. Zur besseren Orientierung sitzen seine Studenten alle nebeneinander in einer Reihe. Ihr Fazit: In den Locations in der Innenstadt oder am Schumacherort war nicht alles optimal. Dafür war das Personal in den Kneipen immer sehr hilfsbereit. Zum Teil waren die Toiletten rollstuhlgerecht ausgebaut. Mit Bewertungen zwischen 7 bis 8 von 10 Punkten schneiden die Locations bei ihnen relativ gut ab.
Mensa an FH Westküste in Heide ist bedingt barrierefrei
Student Niels Bremes hingegen war nicht in einer Kneipe, sondern in der eigenen Mensa. "Die Selbstbedienung ist sehr schwierig gewesen, das kann man eigentlich nicht alleine schaffen", berichtet er. Zwar ist die Essensauswahl der Mensa auch online verfügbar: "Ich habe es aber nicht geschafft, mir das am Handy alles vorlesen zu lassen, sondern lieber gefragt." Auch das Tablett bei der Essensausgabe war nur bedingt hilfreich.
Der Nachteil: Blinde haben beim Tragen keine Hand mehr frei, um sich irgendwo abzustützen oder vorzutasten. "Da brauchte ich Hilfe von meinem Kommilitonen." Dafür lande das Essen nicht auf dem Tisch oder auf dem Boden, wenn man versehentlich etwas vom Teller schiebt, erklärt er. "Ich würde auch nicht alleine in die Mensa gehen", gibt sein blinder Dozent dann offen zu. Schon allein barrierefrei eine Currywurst essen zu gehen, ist für ihn eine Herausforderung. Die muss schon geschnitten auf den Teller kommen.
Erste Erfolge im Kampf für die Barrierefreiheit
Um die Barrierefreiheit in seiner Stadt Heide zu verbessern, wird Carsten Dethlefs auch selbst aktiv. Im Heider Rathaus wurde auf seine Initiative im Fahrstuhl die Stockwerk-Ansage lauter gestellt. "Da hat sich die Assistentin vom Bürgermeister drum gekümmert." Auch Bürgermeister Oliver Schmidt-Gutzat (SPD) ist Barrierefreiheit in seiner Stadt wichtig. "Als Verwaltungschef ist es meine Aufgabe, dass wir nicht nur bei Neubauten, sondern auch den Bestand auf Barrierefreiheit hin umbauen, mit dem Ziel, dass wir unsere Stadt nach und nach barrierefrei bekommen." Dabei denkt Schmidt-Gutzat auch an Menschen, die mit einem Rollator oder mit Kinderwagen unterwegs sind.
Und auch mit seinem Seminar kann Carsten Dethlefs sensibilisieren. Sein ehemaliger Student Erik Kolle arbeitet im Restaurant und Hotel seines Vaters in Büsum (Kreis Dithmarschen) mit. Als sie das Hotel um einen Neubau erweiterten, war es Kolle wichtig, die Zimmer rollstuhlgerecht zu gestalten. Die Gänge in den Zimmern sind breit genug, damit auch Gäste mit einem Rollstuhl oder Rollator sich bewegen können. Fazit von Carsten Dethlefs: "Es gibt acht Millionen Menschen mit Handicap in Deutschland. Wer diese Zielgruppe nicht anspricht, verschenkt bares Geld."