Inklusion: Mehrheit fordert bessere Bedingungen für Schule und Arbeit

Stand: 04.12.2023 05:00 Uhr

Wo steht Deutschland bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung? Die Mehrheit der Teilnehmenden an einer #NDRfragt-Umfrage ist der Meinung, dass die Inklusion hierzulande schlecht läuft.

von Sabine Leipertz

#NDRfragt wollte wissen: Wie gut funktioniert die Inklusion von Menschen mit Behinderung in Deutschland? Was sind die Chancen von Inklusion und wie kann die Teilhabe von Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft verbessert werden? Für die großen Lebensbereiche Schule und Arbeit findet sich teils eine deutliche Mehrheit, dass Inklusion sinnvoll ist. Nach den Vorteilen von Inklusion gefragt, finden zwei Drittel der Umfrageteilnehmenden, dass sie zu einer toleranteren Gesellschaft führt, 70 Prozent sehen in ihr ein Zeichen für mehr Solidarität und Zusammengehörigkeitsgefühl. Für sieben von zehn Befragten aus der #NDRfragt-Gemeinschaft läuft die Inklusion in Deutschland jedoch schlecht.

Alle Ergebnisse dieser nicht repräsentativen, aber gewichteten Umfrage gibt es als PDF zum Herunterladen.
Im Zuge der Befragung haben die Teilnehmenden per Selbsteinschätzung angeben, ob sie eine Behinderung haben oder nicht.

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Menschen mit Behinderung in Inklusionsprozesse einbeziehen

Am besten funktioniert die Inklusion in Deutschland in der Kultur, den Medien und im Sport, findet die #NDRfragt-Gemeinschaft. Die größten Hindernisse sehen die Umfrageteilnehmenden in den Bereichen Mobilität, Arbeit und Wohnen sowie Schule. Die Gesamtsituation von Menschen mit Behinderung beschreibt #NDRfragt-Mitglied Thordis aus Niedersachsen so:

"Ich verstehe mich eigentlich nicht als Mensch MIT Behinderung, sondern vielmehr als Mensch, der behindert wird. Ich bin genau dieselbe Person, wie ich es vor meiner Erkrankung war. Nur, dass mir jetzt überall Barrieren begegnen." Thordis (31) aus Niedersachsen, #NDRfragt-Mitglied mit Behinderung

Damit wichtige Aspekte bei der Gestaltung von Inklusionsmaßnahmen nicht übersehen werden und dadurch deren Umsetzung ineffektiv bleibt, wünschen sich Menschen mit Behinderung häufiger in die Planungen einbezogen zu werden. Das fordert auch #NDRfragt-Mitglied Phil aus Mecklenburg-Vorpommern:

"Es müssen mehr Maßnahmen gemeinsam mit Personen mit Behinderung umgesetzt werden und es muss mehr Kommunikation mit Personen mit Behinderung stattfinden, um Lösungen zu finden und umzusetzen." Phil (22) aus Mecklenburg-Vorpommern, #NDRfragt-Mitglied mit Behinderung

Barrieren im Alltag überwinden - und in den Köpfen

42 Prozent der befragten Menschen mit Behinderung geben an, dass Treppen und Stufen im öffentlichen Raum zu den größten Alltagshindernissen zählen. Knapp ein Drittel zählt dazu auch nicht barrierefreie Haltestellen, Busse und Bahnen. Es sind aber häufig nicht nur die für alle sichtbaren Barrieren, die den Alltag von Menschen mit Behinderung einschränken. Mehr als die Hälfte aller Umfrageteilnehmenden ist der Meinung, dass Inklusion bei Verwaltungsangelegenheiten - beispielsweise in Ämtern oder Krankenkassen - schlecht läuft. 29 Prozent der Teilnehmenden, die angegeben haben, eine Behinderung zu haben, fühlen sich durch schwierige Formulare eingeschränkt.

Von den Teilnehmenden mit Behinderung geben 32 Prozent an, oft im Alltag auf ihre Behinderung reduziert zu werden. Mehr als die Hälfte sagt, dass ihre Fähigkeiten von anderen unterschätzt werden. Drei von zehn kritisieren zudem, oft mit weniger Respekt behandelt zu werden. Das beschreibt #NDRfragt-Mitglied Natalie aus Mecklenburg-Vorpommern so:

"Ich werde oft draußen stehen gelassen, weil ich einen Assistenzhund habe. Dass diese Hunde überall Zutritt haben, interessiert kaum jemanden. Im Prinzip könnte man auch ein Schild an die Tür hängen: Behinderte müssen draußen bleiben." Natalie (24) aus Mecklenburg-Vorpommern, #NDRfragt-Mitglied mit Behinderung

Inklusion in der Schule: Mehr Fachkräfte gefordert

Eine behinderte Schülerin sitzt in ihrem Rollstuhl im Klassenraum einer Schule. © dpa/picture-alliance Foto: Holger Hollemann
Damit Inklusion im Bildungssystem besser läuft, braucht es mehr ausgebildete Fachkräfte beispielsweise für die Betreuung von Kindern mit Behinderung.

Gut zwei Drittel der Befragten (67 Prozent) finden es sinnvoll, dass Kinder mit Behinderung am Unterricht in Regelschulen teilnehmen anstatt in Förder- und sogenannten Sonderschulen zu lernen. 57 Prozent der Teilnehmenden denken aber auch, dass es in Deutschland um die Inklusion im Bildungsbereich schlecht bestellt ist. Knapp ein Drittel ist der Meinung, dass es an Regelschulen mehr betreuende Fachkräfte geben müsste, damit Kinder mit Behinderung besser und häufiger am Unterricht teilnehmen können. Aber auch in der Stärkung der Kompetenz von Lehrkräften und Schulen insgesamt sowie mehr Akzeptanz bei Schülerinnen, Schülern und Eltern sehen die Befragten Maßnahmen, um die Inklusion in diesem Bereich voranzutreiben. #NDRfragt-Teilnehmerin Mareike aus Niedersachsen bringt es auf den Punkt:

"Die Inklusion an Schulen ist eine gute Idee, um Inklusion in der Gesellschaft zu normalisieren. Allerdings ist das Betreuungsverhältnis viel zu schlecht und das Personal nicht ausreichend geschult. Oft fehlt es auch an der Akzeptanz der Eltern. Digitale Medien bieten ein gutes Hilfsmittel, um Inklusion an Regelschulen umzusetzen, aber leider fehlt hier das nötige Geld. Inklusive Bildung sollte die Zukunft sein, um alle SchülerInnen zu partizipieren." Mareike (33) aus Niedersachsen, #NDRfragt-Mitglied mit Behinderung

Kritiker beklagen schlechte Basis für Inklusion an Schulen

Aber es gibt auch Kritik an Inklusion im Regelschulbetrieb. 56 Prozent der Umfrageteilnehmenden, die sie dort als nicht sinnvoll erachten, denken, dass die Bedingungen an den Schulen beispielsweise hinsichtlich Betreuung und Barrierefreiheit nicht ausreichen. Ein Drittel (32 Prozent) findet Inklusion an der Schule nicht sinnvoll, weil sie prinzipiell schwierig sei - auch unter guten Bedingungen. #NDRfragt-Teilnehmer Thorben aus Niedersachsen ist der Meinung, dass das gemeinsame Lernen allein keine ausreichende Förderung bietet.

"Es ist für mich völlig ausgeschlossen, dass Kinder mit Behinderung am regulären Unterricht teilnehmen. Es hat Gründe, dass die für sie vorgesehenen Schulen 'Förderschule' heißen. Man nimmt diesen Kindern die Förderung in erheblichem Umfang und hofft schlicht, dass der Umgang mit normalen Kindern die Förderung ersetzt." Thorben (27) aus Niedersachsen, #NDRfragt-Teilnehmer ohne Behinderung

Nachholbedarf bei Barrierefreiheit am Arbeitsplatz

Für 92 Prozent der Befragten ist Inklusion am freien Arbeitsmarkt eine sinnvolle Maßnahme. Damit sie gelingt, spricht sich jeder Fünfte für Verbesserungen bei barrierefreien Arbeitsplätzen aus. Für etwa jeden Sechsten müssten vor allem mehr Unterstützungsdienste (17 Prozent) und Schulungen (15 Prozent) für Mitarbeitende und Führungskräfte her, damit Inklusion am Arbeitsplatz besser funktioniert. Aber auch die allgemeine Sicht der Gesellschaft auf arbeitende Menschen mit Behinderung ist wichtig, findet #NDRfragt-Mitglied Robert aus Mecklenburg-Vorpommern:

"Wir haben einen Mangel an Fachkräften. Und auch die meisten Menschen mit Behinderungen haben Fähigkeiten oder Talente, die am Arbeitsmarkt wertvoll sind. Dieses Potenzial nicht auszuschöpfen, ist einfach dumm." Robert (34) aus Mecklenburg-Vorpommern, #NDRfragt-Mitglied ohne Behinderung

Trotz Verbesserungsbedarfs: Es gibt auch Beispiele aus der #NDRfragt-Gemeinschaft, die zeigen, dass Inklusion am Arbeitsplatz sehr gut funktionieren kann.

"In unserem Unternehmen gibt es einige Mitarbeiter mit Behinderung. Sie bekommen leichtere beziehungsweise auf sie zugeschnittene Aufgaben und gehen darin oftmals richtig auf. Sie fühlen sich wichtig und machen ihre Aufgaben gut. Bei uns funktioniert die Inklusion wirklich gut." Nancy (31) aus Mecklenburg-Vorpommern, #NDRfragt-Mitglied ohne Behinderung

 

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Über diese Befragung

Die Antworten stammen aus der Umfrage "Menschen mit Behinderung: mitten drin oder außen vor?", an der sich 13.141 Norddeutsche beteiligt haben. Die Teilnehmenden an der Umfrage haben per Selbsteinschätzung angegeben, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Für die Ergebnisse wurden Antworten ausgewertet, die vom 21. bis zum 27. November 2023 um 9 Uhr abgegeben wurden. An den Umfragen von #NDRfragt nehmen Menschen aus Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen teil. Die Umfragen werden online ausgefüllt.

Die Ergebnisse der Befragung sind nicht repräsentativ. Wir haben sie allerdings nach den statistischen Merkmalen Alter, Geschlecht, Bundesland und Schulabschluss gewichtet. Das heißt: Antworten von Bevölkerungsgruppen, die unter den Befragten seltener vertreten sind als in der norddeutschen Bevölkerung, fließen stärker gewichtet in die Umfrage-Ergebnisse ein. Und die Antworten von in der Befragung überrepräsentierten Gruppen werden schwächer gewichtet. Insgesamt verteilen sich die Antworten dann am Ende eher so, wie es der tatsächlichen Verteilung der Bevölkerungsgruppen in Norddeutschland entspricht.

Wachsende #NDRfragt-Community mit mehr als 36.000 Norddeutschen

#NDRfragt ist das Meinungsbarometer für den Norden. Mittlerweile haben sich mehr als 36.000 Norddeutsche für die Community angemeldet. Wer noch nicht dabei ist, aber mitmachen will, kann sich registrieren und wird zu den Umfragen per E-Mail eingeladen. Mitglied kann werden, wer in Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg oder Bremen wohnt und mindestens 16 Jahre alt ist.

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Eine Frau schaut auf einen Monitor mit dem Schriftzug "#NDRfragt" (Montage) © Colourbox

#NDRfragt - das Meinungsbarometer für den Norden

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