Inklusion: "Deutschland muss sich mehr anstrengen"
Weil er selbst nicht die Chancen im Leben bekommen hat, die er sich gewünscht hätte, engagiert sich Joachim Busch seit vielen Jahren für Inklusion. Er bringt die Sichtweise von Menschen mit Behinderung in die Politik ein.
Wenn es sich Joachim Busch hätte aussuchen können, hätte er sein Leben anders gelebt. Er wäre gerne auf eine normale Schule gegangen, hätte gerne eine Ausbildung zum Verkäufer gemacht und seinen Lebensunterhalt damit verdient. Sein Wunsch: hinter einer Ladentheke zu stehen und Menschen beim Einkauf zu beraten. Doch diese Wege standen dem Lübecker nicht offen. Dabei könnte man sich den gut gekleideten 65-Jährigen mit dem akkuraten Haarschnitt und den wachen blauen Augen gut als Verkäufer vorstellen. Doch mit vier Jahren hatte er einen epileptischer Anfall. Seitdem lebt er mit einer Gleichgewichtsstörung, gilt als körperlich behindert und bekommt seinen weiteren Lebensweg vorgezeichnet: Erst Förderschule, dann Arbeit in der Metallverarbeitung einer Werkstatt für behinderte Menschen. Statt in die Verbitterung hat ihn dieser Mangel an Chancen in die Politik geführt. "Ich will Sachen verändern und verbessern", sagt er. Damit es anderen Menschen mit Beeinträchtigung nicht genauso ergeht.
Ansprache vor Vereinten Nationen in Genf
Joachim Busch gehört zu den sogenannten Selbstvertretern der Bundesvereinigung der Lebenshilfe. Das bedeutet, dass er seine eigenen und die Interessen anderer Menschen mit Beeinträchtigung vertritt. Erst im August hat er zum Beispiel zum dritten Mal als Vertreter der deutschen Zivilgesellschaft vor den Vereinten Nationen in Genf gesprochen. Es ging um die Frage, wie es um die Inklusion in Deutschland steht. "Es war irgendwie herrlich", beschreibt er das Gefühl an einer so wichtigen Stelle seine Stimme erheben zu können.
"Deutschland muss sich mehr anstrengen"
Doch sein Fazit in Sachen Inklusion lautet: "Deutschland muss sich mehr anstrengen." Zwar gebe es Hilfen, doch man müsse unterscheiden zwischen gut gemeinter und gut gemachter Hilfe, erklärt der 65-Jährige. Inklusion an Schulen befürwortet er zwar, doch bei der Umsetzung hake es noch. Er überlegt kurz, wie er das genauer beschreiben kann und bemüht das Bild einer Person, die am Rand einer Straße steht. Sie schaut sich um, wirkt verloren und hilfebedürftig. Also kommt jemand und hilft ihr über die Straße. Dabei wollte sich die Person vielleicht einfach die Häuser und Autos anschauen.
Inklusion: Menschen müssen mehr als Individuen gesehen werden
Auf die Frage, was denn bei der Inklusion in Deutschland schon gut laufe, antwortet er: "Das ist ein bisschen schwierig." Er fordert mehr Gemeinschaft bei der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt, aber auch beim Wohnen. Und vor allem keine Pauschallösungen: Werkstätten als Arbeitsmaßnahme, Betreuer für gesundheitliche oder finanzielle Fragen oder bestimmte Wohnformen. Viele Menschen mit Beeinträchtigung haben da keine Wahlmöglichkeit. "Menschen müssten als Individuen gesehen werden und mehr Chancen bekommen, als den einen vorgezeichneten Weg, den auch er gehen musste. "Personenorientiert", nennt Joachim Busch das. Doch damit diese Chancen, wenn es sie dann gibt, auch umgesetzt und angenommen werden können, braucht es viel Vorarbeit - Angebote in leichter Sprache oder barrierefreien ÖPNV. Damit es auch hier vorangeht, engagiert sich Joachim Busch auch in der Wir-Gruppe der Lebenshilfe in Kiel.
Wir-Gruppe engagiert sich in der Landespolitik
In regelmäßigen Treffen berichten die Mitglieder über ihr aktuelles Engagement und sie überlegen zusammen, an welcher Stelle sie sich noch politisch einbringen wollen. Immer wieder wird die Gruppe oder ein einzelner Selbstvertreter von der Landesregierung zu Barrierefreiheit, Beteiligung und Mitsprache befragt - zum Beispiel bei der Überarbeitung des Landesbehindertengleichstellungsgesetz, erzählt André Delor, Ansprechpartner für Selbstvertreter bei der Lebenshilfe. Durch die Wir-Gruppe wird ein Blickwinkel auf Themen geöffnet, der an vielen Stellen ansonsten fehlt.
Es würden sich gerne noch mehr, auch jüngere Menschen daran beteiligen, diesen Blickwinkel aufzuzeigen, doch das scheitert ganz profan an der Anfahrt, erzählt André Delor. Viele bräuchten Hilfe dabei, mit öffentlichen Verkehrsmitteln quer durchs Land zu fahren. Dafür braucht es aber Ehrenamtler und Mittel für eine Ehrenamtspauschale. Für eine kleine Gruppe aus Lübeck übernimmt Joachim Busch die Organisation. Er legt den Treffpunkt in Lübeck fest, sucht die Zugverbindung raus und kümmert sich um all die kleinen Dinge, die andere vielleicht alleine nicht so gut schaffen, damit sie sich in der Wir-Gruppe einbringen können.
Politisches Engagement noch lange nicht vorbei
Auch privat lebt Joachim Busch das, was er von der Gesellschaft fordert. Er geht raus, sucht die Gemeinschaft, beispielsweise im Schwimmverein. "Vielleicht brauchen wir mehr Zeit füreinander", überlegt er. Und verbindet es mit einem Appell an Menschen mit Beeinträchtigung: "Es ist wichtig rauszugehen!" Die Lebenshilfe könne da ein guter Ansprechpartner sein, neue Interessen zu entdecken und darüber einen Anschluss an die Gesellschaft zu finden. Seit zwei Monaten ist Joachim Busch in Rente. Geht nicht mehr täglich in die Werkstatt. Mit seinem politischen Engagement will er aber noch lange nicht aufhören. Wenn richtige Gleichberechtigung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung herrscht, dann würde sich Joachim Busch auch aus der Politik zurückziehen. Das ist sein Ziel und mit weniger wird er sich nicht zufrieden geben.