NDR Serie "Was war da los?": Als der Boss noch König war
Aufgebahrt inmitten Zehntausender des "Volkes" - doch weder ein blaublütiger Monarch noch ein Papst verabschiedet sich hier 1968 von der Welt. Im Wolfsburger VW-Werk hat sich eine Trauergemeinde versammelt. Die NDR Serie "Was war da los?" blickt zurück.
Der Abschied von Heinrich Nordhoff gleicht einem Staatsakt. Am 12. April 1968 ist der Vorstandsvorsitzende von Volkswagen einem Herzinfarkt erlegen - fünf Tage später steht der offene Sarg in einer Versuchshalle auf dem Wolfsburger Werksgelände, geschmückt mit Kerzen, Blumen und Symbolen des päpstlichen Ordens "Ritter vom Heiligen Grabe". Zwölf Stunden lang ziehen Vorstand, Manager und die sage und schreibe 46.000 Beschäftigten daran vorbei.
Letztes Geleit mit der VW-Pritsche
Zur offiziellen Trauerfeier kommen tags darauf rund 1.700 geladene Gäste ins Werk - unter ihnen Bundesschatzminister Kurt Schmücker (CDU). Mehrere Zehntausend Wolfsburger säumen die Straßen, als der Sarg auf einer schwarz lackierten VW-Pritsche zur St.-Christophorus-Kirche gebracht wird. Der Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen hält dort das Requiem. Am Abend berichtet - wie bereits am Vortag - die Tagesschau.
"Zauberer des VW-Wunders" prägt Wolfsburg sonst keiner
Die Trauerfeier ist der letzte große Akt um den Spitzenmanager und ungekrönten König von Wolfsburg. Wie niemand sonst prägt Nordhoff ab 1948 Volkswagen und die junge Stadt. Sein Reich führt er mit dem Selbstverständnis eines Autokraten. Gleichzeitig steigt er dank rasant steigender Absatzzahlen und guter Publicity zu einer der bekanntesten westdeutschen Unternehmerpersönlichkeiten und zur Projektionsfläche für den Aufschwung der 1950er-Jahre auf. "Zauberer des VW-Wunders" nennt ihn etwa die "Welt am Sonntag" in einem Nachruf, das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" verabschiedet "Mister Volkswagen" als den "größten Nachkriegs-Manager" der Bundesrepublik.
Nordhoff lernt Produktion und Vertrieb bei General Motors
Dabei scheint Nordhoffs Karriere nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst beendet zu sein. Im Zuge der Entnazifizierung in der amerikanischen Zone verliert er 1946 seine Posten als Mitglied im Opel-Vorstand und Leiter des Lastkraftwagenwerks Brandenburg und geht nach Hamburg. Der pragmatischeren britischen Militärregierung erscheint er dagegen als der geeignete Mann für die Führung eines Automobilherstellers: Bei Opel hatte Nordhoff im Mutterkonzern General Motors US-amerikanische Produktions- und Vertriebsmethoden kennen und schätzen gelernt. Am 1. Januar 1948 wird Nordhoff in Wolfsburg Generaldirektor der Volkswagenwerk GmbH.
Selbstinszenierung als Retter in der "Stunde Null"
Von Beginn an setzt er sowohl sich selbst wie auch das Unternehmen gekonnt in Szene. So übernimmt er etwa früh den westdeutschen Mythos der "Stunde Null" nach Kriegsende, um sich zum Helden des vermeintlichen VW-Wiederaufbaus zu machen, sagt Historiker Manfred Grieger von der Universität Göttingen. Nordhoff behauptet etwa, dass Volkswagen bei seinem Antritt in Schutt und Asche gelegen habe. "Stimmt nicht", so VW-Experte Grieger. Die britische Militärregierung, die das Werk ab 1945 treuhänderisch verwaltet, lässt die Schäden seinerzeit erfassen: Nur eine der vier Werkshallen ist weitgehend zerstört, mehr als 90 Prozent der Maschinen sind intakt. Die Briten stellen das Werk auf Zivilproduktion um und exportieren erste Volkswagen. Nordhoff übernimmt also ein funktionierendes Unternehmen, so der Historiker.
Freie Hand bei Entscheidungen über Volkswagen-Geschicke
Innerhalb von rund zehn Jahren wird Volkswagen das größte Industriewerk der Bundesrepublik - und die größte Automobilfabrik in Europa. Dabei spielt dem Generaldirektor unter anderem die Währungsreform im Sommer 1948 in die Hände. Nordhoff kurbelt zudem den internationalen Export an, setzt auf Qualität, standardisiert die Fertigung, ordnet Sparrunden an und setzt entgegen aller Kritik insbesondere auf ein Modell: den schlichten massentauglichen Käfer. VW wächst und wächst. In seinen Entscheidungen ist Nordhoff weitgehend frei. Betriebsrat und IG Metall drängt der Spitzenmanager früh beiseite - und die Politik unter Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) ist marktliberal. Als der Bund und das Land Niedersachsen 1960 zur Umwandlung des Unternehmens in eine Aktiengesellschaft VW-Volksaktien herausgeben wollen, stellt Finanzminister Franz Etzel (CDU) gegenüber dem Manager klar: "Niemand will Ihre Verdienste schmälern und niemand in Ihre Unternehmensführung eingreifen."
Medienwirksames Spektakel - und "Wohltaten über sein Volk"
Das Image Nordhoffs nährt sich auch durch publicityträchtige Aktionen seines Kommunikationschefs Frank Novotny. Die Marke von einer Million verkaufter Volkswagen im August 1955 etwa wird zum medienwirksamen Spektakel. Das Unternehmen richtet eine dreitägige Feier aus - mehr als 1.000 Journalisten aus aller Welt lädt Novotny dazu ein. Gefeiert wird mit mehr als 100.000 Wolfsburgern und prominenten Gästen aus der Bundesrepublik und den VW-Exportländern. Bekannte Medien berichten von dem Ereignis am Mittellandkanal wie erhofft. Ein "Spiegel"-Redakteur schreibt über "König Nordhoffs Reich": "In einer Stadt, auf deren Boden noch vor weniger als zwei Jahrzehnten das schwarzbunte Tieflandrind graste, filmten die Kameramänner die größte Schau, die je ein deutscher Industriebetrieb aus Anlaß eines Jubiläums arrangierte." Nordhoff scheint an der Spitze angekommen: "Dieser Mann steht fast im Glanze eines überirdischen Gottes, der Wohltaten über sein Volk ergießt", heißt es in den "Evening News" in London.
Manager Nordhoff gibt sich als fürsorglicher Patriarch
Nordhoffs Erfolg ist auch der Tatsache zu verdanken, dass er die Belegschaft hinter sich versammeln und auf seine Ziele einschwören kann. Sein Führungsstil ist katholisch geprägt und autoritär. Viele Mitarbeiter sind militärisch sozialisiert und sein Auftreten als fürsorglicher Patriarch bietet ihnen Sicherheit, wie Historiker Grieger erklärt. "Er nimmt der Belegschaft alle Probleme ab." Nordhoff führt unter anderem Sozialleistungen wie Lohnfortzahlung bei Krankheit ein, erhöht Löhne und Gehälter - und bekommt dafür Loyalität. Und Nordhoff glaubt offenbar, seine Belegschaft hätte seinen speziellen Führungsstil dringend nötig: Zu seinem Amtsantritt habe er bei VW "einen trostlosen Trümmerhaufen, eine Schar verzweifelter Menschen, den Torso einer liegengelassenen Stadt" vorgefunden. "Eine amorphe Masse, die nie ein ordnendes Prinzip, nie eine Fabrikorganisation im eigentlichen Sinn des Wortes, nie ein Programm und nie die Notwendigkeit oder auch nur die Möglichkeit zu rationeller Arbeit gehabt hatte", so Nordhoffs Worte in einem Vortrag vor Ingenieuren der Industrie 1955.
Wolfsburg gehört zum Reich des Generaldirektors
Nordhoff gibt nicht nur im Werk, sondern auch in der Stadt den Ton an. Denn mit Volkswagen wächst auch Wolfsburg. Ob Wohnungsbau, Schwimmbad oder Kunstausstellungen - der Autobauer gestaltet Alltag und Freizeit, unterstützt Kirchen, Vereine und Kliniken. Politiker und Beamte sind bemüht, Nordhoffs Forderungen nachzukommen. "Der Spiegel" zitiert 1955 aus einem Protokoll einer Beratung zum Straßenbau: "Herr Dr. Nordhoff bittet, sich künftig in noch viel stärkerem Maße Gedanken zu machen, welches Gesicht und welche Ordnung die Stadt Wolfsburg einmal bekommen solle. Beides müsse der Bedeutung entsprechen, die das Werk habe, durch das sie lebe." Die Mehrheit der Stadtratsmitglieder ist seinerzeit bei Volkswagen beschäftigt.
Geschäfte schließt der Manager bei der Jagd
Ebenso wichtig wie gutes Marketing und eine loyale Belegschaft sind für Nordhoff seine vielfältigen Kontakte. Zu seinem Netzwerk gehören Politiker, Unternehmer und andere Größen seiner Zeit. Als Kulisse für Geschäfte nutzt er gern die gesellschaftlich angesehene Jagd. In Wolfsburg lädt er Großhändler dazu ein und bemüht sich, interessante Reviere in der Region - etwa im Harz - bereitzuhalten. Volkswagen hat seinerzeit sogar einen Jagdbeauftragten, der bekannten Politikern wie Franz-Josef Strauß (CSU) erleichterte Jagdprüfungen ermöglicht. Von einem Besuch in Südafrika bringt Nordhoff zwei Löwenköpfe mit, die in seiner Villa ausgestellt werden - in der Öffentlichkeit gibt er sich dagegen gern bescheiden, wie Historiker Grieger sagt. Auch sein Sportwagen passe nicht zu dem Image, das er nach außen gerne pflege.
"Auto-Hochzeit des Jahres": Tochter heiratet Porsche-Enkel Piëch
Nordhoff selbst sieht sich dem Volkswagen-Experten zufolge in der Tradition großer deutscher Industrieller. Ein Beispiel dafür sei die Hochzeit seiner Tochter Elisabeth mit Ernst Piëch, einem Enkel des Porsche-Gründers Ferdinand Porsche. Für Grieger verdeutlicht die Verbindung zweier Autobauer-Familien Nordhoffs "dynastischen Anspruch". Der inszeniert die Feier 1959 wie die eines Promi-Paares: Brautpaar und Gäste werden im Hochzeitskorso aus 22 weißen VW-Cabriolets durch die Stadt chauffiert - Neugierige säumen die Straßen. Das "Hamburger Abendblatt" druckt ein Foto der Angetrauten mit dem Titel "Auto-Hochzeit des Jahres".
Historiker: "Punkt verpasst, an dem hätte gehen sollen"
In den 1960er-Jahren schwinden Kraft und Einfluss des Top-Managers. Er ist gesundheitlich zunehmend angeschlagen und das Käfer-Unternehmen "verliert durch sein auf ewig gestelltes Erfolgsmodell seine Innovationskraft", wie VW-Experte Grieger sagt. Bei Porsche etwa lässt Nordhoff zahlreiche neue Modelle entwickeln - schickt jedoch keines in Serie. "Wie fast alle, die erfolgreich sind, hat er den Punkt verpasst, an dem er hätte nach Hause gehen sollen", sagt Grieger. Nordhoff will auch nach seinem Ausscheiden aus dem Unternehmen noch "weiterwirken" und einen Nachfolger benennen - doch er scheitert. Zuerst wird ihm 1966 mit Josef Rust ein neuer Aufsichtsratsvorsitzender präsentiert und dann benennt Rust den Mannheimer Manager Kurt Lotz als potenziellen nächsten Vorstandsvorsitzenden. Nordhoffs Tage bei Volkswagen sind gezählt. Zuletzt kann er kaum noch hören, hat Probleme beim Sprechen und ist auch sonst von Krankheit gezeichnet. Seine Trauerfeier ist der letzte große Auftritt, den ihm sein Kommunikationschef Novotny ermöglicht - und sie bleibt einmalig in der Geschichte des Unternehmens. Denn: Der König ist tot.