Gebietstausch am Schaalsee: Leben unter Russen oder Briten?
Mit dem Gadebuscher Vertrag - oder Barber-Lyaschenko-Abkommen - vom 13. November 1945 fallen britisch besetzte Gebiete östlich des Schaalsees an die Sowjetunion. Auf den Gebietstausch vor 76 Jahren folgt die große Evakuierung.
"An alle Einwohner der Gemeinde Lassahn,
durch ein Abkommen zwischen der engl. und russ. Militärregierung wird u.a. das Gebiet unserer Gemeinde in der Nacht vom 27. auf den 28. November von russischen Truppen besetzt. Die gesamte Bevölkerung muß bis heute, den 14.11.1945, 11 Uhr eine mündliche Erklärung abgegeben haben, wer evakuiert werden will oder nicht. Die Erklärung ist endgültig und kann nicht rückgängig gemacht werden."
Aus der Bekanntmachung des Lassahner Bürgermeisters Helmers
Was der Bürgermeister der Gemeinde Lassahn per Aushang mitteilt, stellt ein gutes halbes Jahr nach Kriegsende das Leben von Hunderten Menschen in den bislang britisch besetzten Gebieten östlich des Schaalsees erneut auf den Kopf. Sie müssen sich innerhalb nur eines Tages entscheiden, ob sie unter sowjetischer Besatzung leben wollen - oder ihre Heimat innerhalb von zwei Wochen verlassen.
"Die Evakuierung ist beschlossene Sache, dagegen ist nichts zu machen, wir müssen uns damit abfinden." Aus der Bekanntmachung des Lassahner Bürgermeisters Helmers
Am Tag zuvor, am 13. November 1945, hatten Briten und Sowjets einen weitreichenden Gebietstausch beschlossen. Dieser wurde im Gadebuscher Gasthof "Goldener Löwe" offiziell vollzogen. Der Gadebuscher Vertrag ist auch als Barber-Lyaschenko-Abkommen bekannt, benannt nach dem Kommandeur der britischen Rheinarmee Colin Muir Barber und dem Generalmajor der Roten Armee, Nikolaj Lyaschenko.
Zoneneinteilung am Schaalsee ein Problem für die Briten
Nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg hatten englische Truppen die lauenburgischen Gemeinden Dechow, Thurow, Lassahn, Bernstorf, Stintenburg und Techin östlich des Schaalsees besetzt. Sowjetische Einheiten nahmen die mecklenburgischen Gemeinden Bäk, Mechow, Römnitz und Ziethen östlich des Ratzeburger Sees ein. So hatten es die alliierten Siegermächte zuvor auf den Konferenzen von Jalta und Teheran beschlossen: Die Besatzungszonen sollten sich nach den bestehenden Landes- und Provinzgrenzen richten.
Doch an der bisherigen lauenburgisch-mecklenburgischen Grenze erweist sich eine derartige Einteilung vor allem für die Briten als Problem. Denn sie führt in den Folgemonaten dazu, dass die zu den britischen Gebieten östlich des Schaalsees führende Reichsstraße 208 (heute Bundesstraße 208) kurz hinter Ratzeburg von den Sowjets gesperrt wird, da sie durch deren Gebiet rund um die Gemeinde Ziethen führt.
Schlechte Erreichbarkeit und strategische Überlegungen
Die britischen Dörfer am Schaalsee sind somit logistisch schwer zu erreichen - vor allem die Gegend um Lassahn und Techin liegt fast wie in einer Exklave abgeschlossen. Die britische Militärführung befindet:
"Das Gebiet östlich des Schaalsees ist wirtschaftlich abgeschnürt, schlecht zu erreichen und vom strategischen Gesichtspunkt her unerwünscht. In dem Gebiet Dechow und Thurow befinden sich schlechte Straßenverhältnisse, es liegt strategisch ungünstig." Quelle: Archiv des Kreises Herzogtum Lauenburg
Aus diesen Gründen drängt die britische Militärführung auf den Gebietstausch mit den Russen.
Barber-Lyaschenko-Abkommen: Vertrag mit dramatischen Folgen
Im Gadebuscher Vertrag ist festgehalten, dass die bisher lauenburgischen Gebiete unter englischer Verwaltung in die russische Besatzungszone wechseln. Im Gegenzug kommen die bislang mecklenburgischen Gemeinden unter sowjetischer Verwaltung in die englische Besatzungszone. Die über 650 Jahre alte Landesgrenze wird damit neu gezogen.
Was wie ein formaler Verwaltungsakt klingt, hat für die Bevölkerung in den östlich des Schaalsees gelegenen Gemeinden binnen Tagen grundlegende und dramatische Folgen - nicht nur, weil alles sehr schnell gehen muss:
"Oma war gerade beim Buttern, als die Nachricht vom Gebietstausch kam. Der Vater besaß ein Fischerboot, mit dem er das meiste Hab und Gut nach Niendorf herüberbrachte. Alles was sich transportieren ließ, wurde mitgenommen, Hausstand, zwei Kühe, Stroh, Holz zum Feuern. Den letzten Rest verlud man auf einen Lkw, der dann vom Stintenburger Werder mit der Fähre nach Groß Zecher gebracht wurde." Aus dem Bericht einer Zeitzeugin aus Bernstorf
Dableibende müssen fast den gesamten Besitz abgeben
Zum einen ist die Angst vor den sowjetischen Besatzern ein Grund, dem britischen Angebot der Evakuierung zu folgen. Zum anderen dürften auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle gespielt haben. Denn diejenigen, die unter den Sowjets bleiben wollen, dürfen nur wenige Dinge behalten:
"Wer nicht evakuiert werden will, behält höchstens: 1 Pferd, 1 Kuh, 1 Schwein, 1 Schaf, 1 Wagen, 1 Egge, 1 Pflug, also höchstens 1 Stück von jeder Sorte. Alle anderen Tiere und Sachen werden evtl. zwangsweise evakuiert." Aus der Bekanntmachung des Lassahner Bürgermeisters Helmers
Außerdem werden den Menschen nur Lebensmittel für 30 Tage erlaubt. "Die überschüssigen Mengen werden abtransportiert", heißt es in der Bekanntmachung des Lassahner Bürgermeisters.
Halbinsel Stintenburg als Hauptumschlagsplatz
Über die Halbinsel Stintenburg läuft die Hauptroute der Evakuierung. Am nordwestlichen Ende des Werders legen Tag und Nacht Schiffe zur westlichen Seite des Schaalsees in Groß Zecher ab. Die Briten stellen Amphibienfahrzeuge zum Gütertransport und eine größere Fähre zur Verfügung. Auch Fischerboote werden für den Transport von Menschen, Maschinen, Vieh und Hausstand genutzt. Alle Güter und Personen aus Lassahn, Stintenburg und Techin müssen über den Wasserweg befördert werden, da die Straßen durch die russische Zone führen und gesperrt sind für die Evakuierung.
Im Schlussbericht an den Landrat heißt es zum Ablauf: "Über die Fähre sind insgesamt etwa 800 beladene Lastkraftwagen - zum größten Teil mit Anhänger - herübergegangen." Zudem seien transportiert worden: "22.000 Zentner Korn, 17.000 Zentner Kartoffeln, 1.000 Zentner Steckrüben, 1.000 Stück Rindvieh, 400 Stück Schafe, 100 Stück Schweine".
Die Wirtschaft in der britischen Zone des neu zugeschnittenen Kreises Herzogtum Lauenburg sollte mit den evakuierten Gütern gefördert werden.
"Zusammenfassend ist festzustellen, daß durch den restlosen Einsatz aller Beteiligten es gelungen ist, nicht nur die unbedingt vorgesehenen Gegenstände abzubefördern, sondern darüber hinaus auch noch sonst manche wertvollen Dinge, die der Wirtschaft bzw. Landwirtschaft des Kreises fehlen." Aus dem Schlussbericht zur Evakuierung
90 Prozent folgen Aufruf zur Evakuierung - trotz ungewisser Zukunft
Den Ortsteil Stintenburg selbst verlassen 106 von 108 Bewohnern. Aus Lassahn gehen 506 Menschen weg, 120 bleiben in der künftig sowjetischen Zone. Darunter sind vornehmlich ältere Personen, die den Aufbruch ins Ungewisse nicht mitmachen wollen. Aber auch einige Jüngere bleiben, wie etwa Elisabeth B., die allein mit ihrer Oma lebt. "Die Heimat verlässt man nicht", hatte ihr Vater ihr vor seinem Tod laut einer Ortschronik mit auf den Weg gegeben.
Doch 90 Prozent der Menschen folgen dem Aufruf zur Evakuierung. Und das, obwohl im Westen auf die meisten nicht gerade komfortable Zustände warteten.
"Die Familie kam zunächst in Dargow unter, Vieh und Stroh lagerten in einer alten Fliegerhalle, sie selber zogen in eine ehemalige Waschküche, in der es bitterkalt war. Einige Monate später fand man eine leerstehende Wohnung in Mechow. Dort fanden Vater und Großvater Arbeit auf der Domäne. Dort traf man dann auf vertraute Gesichter, Personen, die früher ebenfalls auf dem Gut in Bernstorf gearbeitet haben. Mit den Jahren erwuchs ihnen hier eine neue Heimat." Aus dem Bericht einer Zeitzeugin aus Bernstorf
Die nahezu menschenleeren Orte werden von den Sowjets mit Flüchtlingen aus dem Sudetenland und aus Bessarabien aufgefüllt. Die russichen Truppen verlassen ihre zu übergebenden Orte übrigens ohne Information der Bevölkerung. Nur wenige Einwohner aus Bäk, Mechow, Römnitz und Ziethen folgen ihnen in den Osten.
Grenze hat über die Wiedervereinigung hinaus Bestand
Nach der Wende und der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wird der Gebietstausch nicht rückgängig gemacht, die Grenzen von Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern bleiben wie am 13. November 1945 von den Generalmajoren Barber und Lyaschenko im "Goldenen Löwen" festgelegt. Der Schleswig-Holsteinische Landtag streicht erst 2014 bei einer Änderung der Landesverfassung den bis dahin in Artikel 58 noch bestehenden einzigen Hinweis auf den Gebietstausch ersatzlos.