Als 2013 die Esso-Häuser an der Reeperbahn geräumt wurden
Die Esso-Häuser um die bekannte Tankstelle nahe der Hamburger Reeperbahn auf St. Pauli waren einsturzgefährdet. In der Nacht vom 14. auf den 15. Dezember 2013 mussten alle Bewohner raus. Der Abriss folgte 2014. Bis heute ist die Fläche unbebaut.
14. Dezember 2013: Es ist gegen 22.30 Uhr, als Lampen an den Decken schwanken und Wände wackeln. Sogar von einem heftigen Ruck durch eins der Esso-Häuser ist die Rede. Im legendären Musikclub Molotow am Hamburger Spielbudenplatz, wo gerade die Band Madsen gespielt hat, bröckelt Putz von der Wand. Bewohner rufen wegen der Erschütterungen die Polizei. Das Bezirksamt Mitte schickt umgehend eine Bauprüferin in die Gebäude. Sie kann aber auf den ersten Blick nichts feststellen. Trotzdem werden aus Sicherheitsgründen alle Mieter aus den Häusern geholt - sofort, mitten in der Nacht. Zusätzlich werden die Tankstelle und die umliegenden Clubs geschlossen.
"Einige Boulevardzeitungen wollten uns ja andichten, dass wir die Einsturzgefahr verursacht haben. Also, so laut spielen wir ja nun auch wieder nicht." Sascha und Sebastian Madsen über das Konzert ("Hamburger Abendblatt", 19.08.2015)
In den 1960er-Jahren als Plattenbauten errichtet
Als Esso-Häuser wird ein Gebäudekomplex auf St. Pauli bezeichnet, der sich zwischen Spielbudenplatz, Taubenstraße und Kastanienallee befand. Sie wurden in den 1960er-Jahren als Plattenbauten errichtet. In den zwei achtstöckigen Gebäuden gab es etwa 110 Wohnungen in unterschiedlichen Größen, hinzu kamen zweigeschossige Gewerbebauten.
Sozialarbeiter Steffen Jörg sagte dem NDR: "Man kann schon sagen, dass in den Esso-Häusern überdurchschnittlich viele Menschen gewohnt haben, die zu den Geringverdienern gehört haben." Der Großteil habe sehr günstige Mieten mit langjährigen Mietverträgen gehabt. Diese Menschen hätten auf St. Pauli oder auch anderswo kaum eine Chance auf anderen Wohnraum.
Namensgebend war die berühmte Kiez-Tankstelle, die Tag und Nacht geöffnet hatte und das Partyvolk versorgte und fast schon eher nebenbei auch Kraftstoff anbot. Großen Bekanntheitsstatus erarbeitete sich der Musikclub Molotow. Dort gaben spätere Stars ihre ersten Konzerte: Gossip, Tocotronic, Mando Diao oder The Killers beispielsweise.
Längerer Streit über marode Esso-Häuser vorangegangen
Der marode Zustand der Häuser ist 2013 schon lange bekannt. Der Streit darüber spitzt sich im Verlauf des Jahres zu - und zwar zwischen dem Immobilienunternehmen Bayerische Hausbau, das die Gebäude vom Vorbesitzer 2009 gekauft hat, der Stadt und den Mietern. Die Konfliktlinien sind klar: Der neue Eigentümer will nicht in die vom Vorbesitzer vernachlässigten und heruntergekommenen Häuser investieren, sondern sie abreißen. Das Grundstück soll mit einem Neubau umstrukturiert werden. Die Mieter, die sich zu einer Initiative zusammengeschlossen haben, wollen das verhindern. Anwohner und Gewerbetreibende befürchten, die Mieten nach einem Umbau nicht mehr bezahlen zu können.
Gutachten: Sperrung der Balkone und Einsturzgefahr
Die Balkone werden nach einem ersten Gutachten des Bezirkamts Mitte im Februar 2013 gesichert und gesperrt. Im Juni desselben Jahres kommt ein weiteres Gutachten der Behörde zu dem Schluss, dass der Zustand der Esso-Häuser "kritisch" sei. Auch von Einsturzgefahr ist die Rede. Bis zum Sommer 2014, so die Anweisung, müssten die Bewohner ihre Wohnungen räumen. Auch die Tankstelle, der Musikclub Molotow, der Planet Pauli Pub, der Western-Store Hundertmark und die anderen Läden in der Häuserzeile an der Reeperbahn sollen sich nach einer neuen Bleibe umsehen.
Die Abriss-Pläne rufen vielfache Proteste hervor. Mehrmals finden Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmern statt. Prominente Vertreter aus Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft veröffentlichen ein Manifest, in dem der Erhalt der Gebäude gefordert wird. Unter ihnen sind zum Beispiel Peter Lohmeyer, Rocko Schamoni sowie die Musiker Jan Delay und Udo Lindenberg.
Esso-Häuser nicht mehr zu retten - Abrissgenehmigung
Doch dann geht alles ganz schnell. Nach der überraschenden Räumung in der Nacht zum 15. Dezember 2013 werden die Häuser genauer inspiziert. Dabei stellen Experten fest: akute Einsturzgefahr. Am 17. Dezember teilt das Bezirksamt mit, dass die Häuser nicht wieder bezogen werden können. Die Gebäude seien nicht mehr zu retten.
Diese Ankündigung zieht erneut Demonstrationen nach sich. Die Abrissgegner vermuten Immobilienspekulation und Vertreibung der Altmieter. Am 21. Dezember gehen rund 7.300 Menschen auf die Straße. Das Motto: "Die Stadt gehört allen! Refugees, Esso-Häuser und Rote Flora bleiben."
Doch die Proteste sind erfolglos: Ende Januar 2014 wird die Abrissgenehmigung erteilt, am 12. Februar rollen die ersten Bagger an. In der Folge werden die Häuser Stück für Stück abgetragen. Auch die Esso-Tankstelle muss weichen. Eine riesige Freifläche - ungefähr so groß wie ein Fußballfeld - direkt auf dem Kiez entsteht.
Planungen für Neubau: Anwohner können sich beteiligen
Und was soll mit dem Grundstück passieren? In einem aufwendigen Beteiligungsverfahren werden Pläne für die Neubebauung erarbeitet. Die PlanBude, ein neugegründetes Büro aus Architekten, Planern und Künstlern, sammelt mehrere Monate lang Vorschläge von Anwohnenden und Interessierten. In der Folge entstehen ein Eckpunktepapier und die Grundlage für einen städtebaulichen Wettbewerb. Der sogenannte St. Pauli Code umreißt dabei die Ausgestaltung des Neubaus. So soll eine kleinteilige Mischung aus Wohnen, Kleingewerbe, Unterhaltung und öffentlichen Bereichen entstehen - originell, vielfältig, sozial, mit Freiräumen für alle. Es folgt ein Architekturwettbewerb. Mehrere Büros sollen für den Bau tätig werden. Ende 2017 findet ein Namenswettbwerb statt. Das neue Areal soll Paloma-Viertel heißen. Mit der Unterzeichnung eines städtebaulichen Vertrags 2018 scheint dann die Lösung mit bezahlbaren Räumen für Clubs und Sozialwohnungen gefunden worden zu sein.
Jahrelanger Stillstand im Paloma-Viertel
Viel mehr als einen Namen hat die 6.100 Quadratmeter große Fläche in Top-Lage allerdings bis heute nicht. Es hat sich nichts getan. Eine hohe Holzwand umrandet das Areal, dahinter eine Brachlandschaft. Warum geht es nicht voran mit dem Paloma-Viertel?
Wie NDR 90,3 berichtet, hat es immer neue Hürden gegeben. Der Genossenschaftsanteil des Projekts steht auf der Kippe, das Molotow braucht finanzielle Unterstützung und die Änderung des Bebauungsplans. Auch habe es immer wieder Verzögerungen wegen des einzuhaltenden Lärmschutzes gegeben, heißt es. Und: Der Investor, die Bayerische Hausbau, hätte für das Grundstück viel eher Bauanträge stellen können - so lautet die Kritik. Margit Czenki vom Team der PlanBude sagt dem Hamburg Journal des NDR Fernsehens 2021: "Die ganze Begeisterung für das Besondere - und dass der Stadtteil so dahinterstand - ist völlig weg. Dazu hat es vielleicht zu lange gedauert."
Bayerische Hausbau möchte Grundstück verkaufen
2023 sickert durch: Die Bayerische Hausbau möchte das Grundstück offenbar verkaufen. Jenny Maruhn von der Initiative Esso-Häuser sieht das kritisch: Wenn der Investor jetzt verkaufe und von dieser Wertsteigerung profitieren könne, dann werde er ja dafür belohnt, dass er Verträge und Vereinbarungen nicht einhalte, sagt sie dem NDR.
Die städtische Wohnungsbaugesellschaft SAGA wird als Käuferin ins Spiel gebracht. Christoph Schäfer von der Initiative PlanBude betont: "Das wäre unser Anspruch, wenn die Stadt das übernimmt, dass sie diese Ergebnisse ganz ernst nimmt und das dann mit der PlanBude auf der Basis des 'St. Pauli Codes' weiterentwickelt."
Noch gibt es aber keine Einigung. Sollte es so kommen, könnte ein kompletter Neustart für die Bebauung die Folge sein. So zumindest sieht das der Hamburger SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf. Er betrachtet das ursprüngliche Projekt bei einem Kauf durch die SAGA als gescheitert. Was das konkret heißt, ist unklar: Von der Behörde für Stadtentwicklung gibt es dazu keine Informationen. Auch die SAGA und die Bayerische Hausbau äußern sich nicht. Nur so viel: Angeblich sollen möglichst viele Sozialwohnungen gebaut werden.
Rückkehrrecht für die Mieter
Die meisten der ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner haben vertraglich ein Rückkehrrecht in einen Neubau zugesichert bekommen - ein Ergebnis der erbitterten Proteste gegen Räumung und Abriss. Aber einige Mieter sind inzwischen gestorben, andere haben sich in ihren neuen Wohnungen eingelebt und wollen nicht mehr zurück. Andere hingegen schon, zum Beispiel Monika Secka. Sie hat 33 Jahre in den Esso-Häusern gelebt. Seit der Evakuierung wohnt sie einige Straßen entfernt. Aber sie würde sofort wiederkommen, wenn ein neues Haus gebaut wird, sagt sie dem NDR. Ehemalige Mieter, Sozialarbeiter und weitere St.-Pauli-Bewohner sind sich einig: Das erarbeitete Konzept zum Paloma-Viertel soll - egal von wem - beibehalten werden.
Molotow würde gerne zurück an alten Standort
Der Musikclub Molotow, der aktuell weiter westlich an der Reeperbahn logiert, hat ebenfalls ein Rückkehrrecht. Bereits 2013 hatte der damalige Leiter des Bezirksamts Mitte und heutiger Innensenator, Andy Grote (SPD), im Gespräch mit NDR 90,3 klargestellt: "Das Molotow muss Bestandteil der Neubau-Planung werden. Der Club ist unverzichtbar an dem Standort."
Auf einen Umzug an die frühere Stätte wartet Club-Betreiber Andi Schmidt schon lange. Dem NDR sagt er 2023: "Wir sind sehr daran interessiert, an den alten Standort zurückzukehren, zu alten Preisen. Das war alles mal ausgehandelt und es würde mich freuen, wenn das tatsächlich so klappen würde." Folglich dürften im Molotow auch wieder die Wände wackeln. Die sind dann sicher wesentlich robuster als die alten.