"Verhältnisse treiben, statt sich treiben zu lassen"
An knapp 50 Orten in Niedersachsen erinnert die Initiative "frauenORTE" an besondere, kluge und zielstrebige Frauen. Die multimedialen Porträts machen Mut und zeigen, dass es sich lohnt, zu kämpfen. Eine Spurensuche.
Eine enge Gasse in der Innenstadt von Norden (Landkreis Aurich): rote Pflastersteine, rechts und links typisch ostfriesische Klinkerhäuser. In einem dieser rot geklinkerten Häuser kommt am 29. Oktober 1892 ein Mädchen auf die Welt, das später fast 10.000 jüdische Jugendliche aus Nazi-Deutschland retten und ihnen so eine Zukunft ermöglichen wird. Warum aber hat trotzdem kaum jemand von Recha Freier gehört? "Das hat mich damals auch gewundert, dass ich das nicht gewusst habe", sagt Ursula Thümler im Jahr 2018 anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Initiative "frauenORTE Niedersachsen". Thümler ist ehemalige Vorsitzende des Landesfrauenrates Niedersachsen und mittlerweile Vorsitzende des "frauenORTE"-Kuratoriums. 2008 hat sie diese Initiative mit ins Leben gerufen: zum einen, damit Frauen wie Recha Freier die Würdigung erhalten, die sie verdienen. Zum anderen aber auch, weil Frauen wie sie auch heute noch Vorbilder sein können - und sollten.
"Andere Frauen haben das für uns erkämpft"
"Wir Frauen können heute nur so leben und eigentlich alles machen, weil wir andere Frauen vor uns hatten, die das für uns erkämpft haben", so Thümler. Und daran müsse man erinnern. Die in Norden geborene Jüdin Recha Freier ist bei Weitem nicht die einzige Frau, deren Leistung und Verdienste über die Jahre in Vergessenheit geraten sind. An mittlerweile fast 50 "frauenORTEN" erinnert das Projekt des Landesfrauenrats an historische Frauenpersönlichkeiten, die in Niedersachsen geboren sind oder im Land gewirkt haben. Der erste "frauenORT" wurde am 11. April 2008 in Verden eröffnet: für die Frauenrechtlerin, Politikerin, Publizistin, Lehrerin, Schauspielerin, Fotografin und erste deutsche promovierte Juristin Anita Augspurg.
Lesungen, Führungen, Theaterstücke
Die Idee selbst ist fast zehn weitere Jahre älter - und kommt aus Sachsen-Anhalt. Der Landesfrauenrat des Nachbarlandes hatte anlässlich der "Expo 2000" ein gleichnamiges Projekt gestartet. Innerhalb von zwei Jahren waren dort mehr als 30 "frauenOrte Sachsen-Anhalt" entstanden, auf die mit Schildern im öffentlichen Raum aufmerksam gemacht wird. Thümler und die Geschäftsführerin des Landesfrauenrats, Antje Peters, waren begeistert von der Idee, griffen sie auf - und veränderten sie. Von Anfang an holten sie Kooperationspartner vor Ort mit ins Boot, die rund um den jeweiligen "frauenORT" kulturtouristische Angebote wie Führungen, Lesungen oder Theaterstücke entwickeln. "Wir wollten die Orte noch stärker in der Gesellschaft verankern", so Thümler, "damit sich die Menschen in der Region noch mehr mit der jeweiligen Frau identifizieren können". Zu jedem der "frauenORTE" entsteht zudem ein Flyer in einheitlichem Design. Darin sind Informationen über die Frau zusammengefasst, oft enthält er einen Stadtplan, mit dessen Hilfe man sich vor Ort auf eigene Faust auf die Spuren der jeweiligen Frau begeben kann.
Knapp 50 "frauenORTE" in Niedersachsen
Mittlerweile deckt die Initiative einen Zeitraum von mehr als 1.000 Jahren ab und verschiedene Themenfelder, wie etwa Politik, Bildung und Beruf, Kunst und Kultur sowie Konfessionen. Sie erinnert an völlig unterschiedliche, immer aber besondere, kluge und zielstrebige Frauen. Möglich ist das vor allem durch das große ehrenamtliche Engagement der vielen Mitstreiter - und vor allem Mitstreiterinnen, die vor Ort die Erinnerung an Frauen wie Recha Freier und Anita Augspurg lebendig halten. Das Angebot soll auch in den kommenden Jahren um weitere "frauenORTE" in Niedersachsen ausgebaut werden, insgesamt sollen es mindestens 50 werden.
Die "frauenORTE" in Niedersachsen im Überblick:
- 1: Anita Augspurg, Verden
- 2: Mary Wigman, Hannover
- 3: Ricarda Huch, Braunschweig
- 4: Helene Lange, Oldenburg
- 5: Eléonore d'Olbreuse, Celle
- 6: Theanolte Bähnisch, Bad Pyrmont
- 7: Helene Hartmeyer, Rotenburg (Wümme)
- 8: Elise Bartels, Hildesheim
- 9: Agnes von Dincklage, Obernkirchen
- 10: Wilhelmine Siefkes, Leer
- 11: Dorothea Schlözer, Göttingen
- 12: Charlotte von Veltheim, Helmstedt
- 13: Herzogin Elisabeth, Hann.Münden
- 14: Katharina Kardorff-Oheimb, Goslar
- 15: Hermine Heusler-Edenhuizen, Krummhörn
- 16: Hertha Peters, Peine
- 17: Susanna Abraham, Nienburg (Weser)
- 18: Dora Garbade, Ganderkesee
- 19: Eleonore Prochaska, Dannenberg (Elbe)
- 20: Roswitha von Gandersheim, Bad Gandersheim
- 21: Fürstin Juliane, Bückeburg
- 22: Luzie Uptmoor, Lohne
- 23: Recha Freier, Norden
- 24: Cato Bontjes van Beek, Fischerhude/Achim
- 25: Sibylle von Schieszl, Wolfsburg
- 26: Maria Aurora von Königsmarck, Agathenburg
- 27: Greten Handorf, Cuxhaven
- 28: Henriette Schrader-Breymann, Wolfenbüttel
- 29: Antje Brons, Emden
- 30: Maria von Jever, Jever
- 31: Elisabeth "Lia" Maske, Lüneburg
- 32: Frieda Duensing, Diepholz
- 33: Äbtissin Odilie von Ahlden, Mariensee
- 34: Paula Tobias, Bevern
- 35: Cilli-Maria Kroneck-Salis, Osnabrück/Bad Iburg
- 36: Ingrid Buck, Aurich
- 37: Ruth Müller, Delmenhorst
- 38: Minna Faßhauer, Braunschweig
- 39: Mathilde Vaerting, Messingen
- 40: Schwester Kunigunde, Haren (Ems)
- 41: Emy Rogge, Nordenham
- 42: Ada Lessing, Hannover
- 43: Paula Modersohn-Becker, Worpswede
- 44: Kaiserin Richenza, Königslutter am Elm
- 45: Marianne Fritzen, Lüchow (Wendland)
- 46: Henriette Praesent, Uelzen
- 47: Sara Oppenheimer, Esens
- 48: Martha Fuchs, Braunschweig
Die "frauenORTE Niedersachsen" sind Kulturpartner von NDR Kultur.