Der "Würger vom Lichtenmoor": Als die Angst vorm Wolf umgeht
Im Sommer 1948 reißt ein Wolf zwischen Aller und Weser angeblich Hunderte Rinder, Pferde und Schafe. Der "Würger vom Lichtenmoor" sorgt für eine regelrechte Hysterie. Am 27. August 1948 erlegt ein Jäger das Tier.
Der sagenumwobene "Würger" ist zwar tot - ganz verschwunden ist er aber nicht. Das, was von ihm übrig geblieben ist, lagert heute in einem vergilbten Pappkarton im Landesmuseum Hannover: das Original-Skelett eines Wolfes.
Die Überreste des einst "geheimnisvollen Untiers" vom Lichtenmoor sind in Papier eingewickelt. Wirbelsäule, Rippen, Schulterblatt - alles ist fast vollständig vorhanden, wie Kuratorin Christiane Schilling mitteilt. Kleinere Knochen haben sie und ihre Kollegen in wieder verschließbare Tütchen sortiert. Der Schädel des "kräftigen Rüden", wie ihn die Wissenschaftlerin beschreibt, beeindruckt mit seinen mächtigen Reißzähnen noch immer. Das Landesmuseum Hannover besitzt eine Rekonstruktion des Wolfskopfs, die nach einem Gipsabdruck angefertigt wurde.
"Würger vom Lichtenmoor" wird zum Sommerloch-Ereignis
Hunderte Schafe und Rinder soll der gefräßige "Würger" ab Mai 1948 gerissen haben. Wie viele es tatsächlich gewesen sind, bleibt sein Geheimnis. Ein sensationslüsterner Journalist eines Wochenblatts verleiht dem Wolf, der bei Nienburg durch die Wälder schleicht, damals seinen mörderisch klingenden Beinamen. Die Aufregung um den "Würger" wird wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zum medialen Sommerloch-Ereignis.
Auch die von Briten und US-Amerikanern produzierte Wochenschau "Welt im Film" berichtet in dramatischem Ton: "Der Würger geht um. Seit vier Monaten sind die Bauern in der Nähe des Lichtenmoors zwischen Weser und Aller von einem geheimnisvollen Raubtier in Angst und Schrecken gejagt worden. Fast jeden Morgen fand man auf den Weiden gerissene Rinder, Pferde und Schafe. 182 Stück Vieh waren schon Opfer des nächtlichen Tiermörders geworden."
Wolf-Hysterie nimmt groteske Züge an
"Rätselhaft, grauenvoll", heißt es in Zeitungsberichten aus jener Zeit. Die Fantasie der Menschen glüht. Eine Zeitzeugin erinnert sich: "Die Leute waren ängstlich. Es war die Blaubeerzeit, keiner ging mehr in den Wald Blaubeeren pflücken. Und einige haben gerochen, dass es nach Löwe oder nach Puma riecht."
Die Hysterie nimmt damals groteske Züge an. Das wird aus den Schilderungen von Museums-Kuratorin Christiane Schilling deutlich. Sogar der Tierpark in Hamburg sei zu Hilfe gerufen worden, um dem mysteriösen Raubtier auf die Spur zu kommen: "Hagenbeck ist gekommen und hat keine Puma-Spuren gefunden. Dann gab es eine riesige Treibjagd: 1.500 Treiber waren am 15. Juni 1948 unterwegs und keiner hat ihn gefunden." Fazit: ein sehr großer Aufwand ohne den geringsten Ertrag. Und von Artenschutz ist damals noch keine Rede.
"Problemwolf" kommt der Bevölkerung nicht ungelegen
Christiane Schilling hat sich ausführlich mit dem "Würger" beschäftigt und für die Jahre 2017 und 2019 eine Wanderausstellung des Landesmuseums Hannover mit vorbereitet. Dass sich in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre ein regelrechter Wolfshype entwickelt hat, liegt ihr zufolge vor allem an der umfangreichen und reißerischen Presseberichterstattung 1948. Denn Wölfe gelten damals seit 1850 eigentlich als ausgestorben. Und bei aller Urangst vor dem sagenumwobenen Tier: Auch die Menschen auf dem Land hätten ihren Anteil an der Legende um den "Würger" gehabt, sagt sie. Während es den Wolf ja tatsächlich gegeben und er einige Tiere gerissen hat, so sind es doch eher die Taten, die er nicht begangen hat, die ihn zur Legende werden ließen.
Denn: Niedersachsens wohl erster "Problemwolf" sei der hungernden Bevölkerung damals offenbar nicht ungelegen gekommen, so die Wissenschaftlerin: "Ich weiß, dass im Dorf so manchen Sonntag auf so manchem Braten dem Wolfe zugeprostet wurde. Nach dem Motto: Möge er noch lange bestehen. Viele Leute haben natürlich schwarz geschlachtet und dann gesagt: 'Das war der Würger.' Damit hatten sie einen Freifahrtschein, um sich den Bauch vollzuschlagen."
"Ein ausgewachsener Wolfsbastard"
Damals ist das ein offenes Geheimnis. Zu weit voneinander entfernt liegen die Tatorte, zu glatt erscheinen die Wunden an manchem Schaf und Rind. Viele Tiere werden nachweislich von Menschen getötet. Bezeichnenderweise nimmt die Zahl "gerissener" Tiere nach der Währungsreform am 21. Juni 1948 und der sich daraus entwickelnden Marktwirtschaft deutlich ab.
Jäger Hermann Gaatz aus Eilte hat es sich zum Ziel gesetzt, den Wolf zu erlegen. In seinem Tagebuch beschreibt er ausführlich, wie er das Tier am 27. August 1948 zur Strecke bringt. Tags darauf habe er das geschossene Raubtier vor versammelter Journalistenschar präsentiert, berichtet die im Bundesarchiv dokumentierte Wochenschau "Welt im Film" in allen Einzelheiten und spürbar beeindruckt: "Es war ein ausgewachsener Wolfsbastard von 1,70 Meter Länge. Das mörderische Gebiss zeigte fünf Zentimeter lange Hauzähne. Der glückliche Raubtierjäger wurde geehrt und gefilmt - und die erfundenen Fabelwesen verschwanden aus der erhitzten Fantasie der Bevölkerung."
Gaatz' Wunsch: Wolf soll ausgestopft im Museum stehen
Gaatz will das tote Tier dem Landesmuseum in Hannover zur Verfügung stellen. Der Wolf soll präpariert werden und ausgestopft im Museum stehen - "als Denkmal für die 100.000 Mark Schaden, die er angerichtet hat", berichtet der "Spiegel" am 4. September 1948. Doch es kommt anders - und der Wolf nicht an: Der Jäger transportiert das Tier nicht selbst, sondern er gibt dem Magazin zufolge den Kadaver einem Journalisten des Wochenblatts aus Hannover mit, der im Auto in die Landeshauptstadt fährt und den toten Wolf zum Landesmuseum bringen soll. Gaatz vereinbart eine Übergabe an Oberforstmeister Freiherr von Hammerstein in Hannover. In seinem Buch "Die Rückkehr der Wölfe" schreibt Wolfgang Hachtel 2018 leicht abweichend vom "Spiegel"-Bericht, dass bei Gaatz "zwei seriös wirkende Herren [erschienen seien], stellten sich als 'Dr. Soundso' vor und packten den Kadaver ein."
Trotz dieser Ungenauigkeiten ergibt sich der Verdacht, dass der tote Wolf sozusagen entführt worden ist. Warum? Womöglich im Kampf um Schlagzeilen und Zeitungsverkäufe. Denn Hannover ist 1948 eine deutsche Zeitungsmetropole, in der die "Hannoversche Presse", der "Spiegel", der "stern" und das Wochenblatt miteinander konkurrieren.
Kadaver des Wolfs verwest im Auto eines Journalisten
Jedenfalls wartet das Landesmuseum vergebens auf die Lieferung. Erst nach zwei Tagen sommerlicher Hitze wird der tote Wolf entdeckt. Er liegt im Kofferraum eines Autos, das vor dem hannoverschen Presse-Hochhaus steht, in dem die rivalisierenden Blätter residieren. "Der Wolf erfüllte den Gepäckraum des Journalisten-Autos mit Verwesungsgeruch", schreibt der "Spiegel". Man habe ihm die Haare schon büschelweise ausreißen können, heißt es. An ein Präparieren ist nicht mehr zu denken. So erklärt es sich, dass der Wolf nicht mehr als Ganzes erhalten ist, sondern nur noch in einzelnen Teilen.
Herkunft des "Würgers" bis heute nicht geklärt
Woher der Wolf damals stammte, ist unklar. Oft sei zu hören gewesen, dass Soldaten ihn aus Russland mitgebracht hätten, berichtet Wolfgang Hachtel in seinem Buch. Experten seien aber von der Geschichte des dann ausgesetzten Wolfs nicht überzeugt gewesen, schließlich hätten sich nach Kriegsende auch Wölfe in der Lüneburger Heide herumgetrieben. Oder war der Wolf in den Wirren der letzten Kriegswochen womöglich aus einem Zoo oder einer Tierschau ausgebrochen? Letztlich bleiben alle Versuche einer Erklärung Spekulation.
Wolfs-Debatte "auch immer viel Klatsch und Tratsch"
Das Skelett im Museumsarchiv, der Schädel mit den mächtigen Reißzähnen und auch das Kopf-Präparat erinnern noch heute an das Raubtier aus dem Moorgebiet. Die Legende um den "Würger vom Lichtenmoor" ist zu einem Stück Regionalgeschichte geworden. An der Stelle, an der das Tier erlegt wurde, hat der niedersächsische Jagdverband einen "Wolfstein" zum Gedenken errichten lassen.
Wenn es um Wölfe gehe, sagt Kuratorin Christiane Schilling, dann sei da auch immer viel Klatsch und Tratsch dabei. Oft werde übertrieben. Aber: "Die Urangst vor einem großen Raubtier, und das ist der Wolf einfach, die kann ich heute keinem nehmen." Bauern und Tierbesitzer sind heute aber besser vorbereitet, um ihre Bestände zur schützen.