Der Hindenburgdamm: Die einst größte Baustelle Europas

Stand: 19.08.2024 09:45 Uhr

In den 1920er-Jahren ist der Hindenburgdamm Europas größte Baustelle. Die Eisenbahnverbindung zwischen Sylt und dem Festland soll die Insulaner zunächst tief spalten. Seit rund 100 Jahren prägt der Damm das dortige Leben.

von Stefanie Grossmann

Von Baubeginn bis zur Fertigstellung des Hindenburgdamms vergehen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganze 13 Jahre. Nicht nur die äußeren Begebenheiten wie die Gezeiten stellen die Ingenieure vor immense Herausforderungen. Auch der Widerstand der Bevölkerung gefährdet das Projekt zwischenzeitlich: Viele Sylter wehren sich gegen einen Damm, wie das Doku-Drama "Sylt, das Blumenmädchen und der Damm" zeigt. Zudem sind die Kosten für einen staatlichen Bau dieser Größenordnung beträchtlich: Zehn Millionen Mark werden veranschlagt. Doch bevor es richtig losgeht, ist schon wieder alles vorbei: Als der Erste Weltkrieg beginnt, wird das Geld anderweitig benötigt - und so liegt das Bauprojekt zunächst auf Eis. Anfang der 1920er-Jahre wird der Ruf nach einer Landverbindung vom Festland auf die Insel dann wieder lauter, denn nach dem Kriegsende und dem Beschluss des Versailler Vertrages müssen Deutsche zwangsläufig dänisches Staatsgebiet queren, um nach Sylt zu gelangen - was das Reisen deutlich komplizierter und teurer macht.

19. Jahrhundert: Sylt ist nur mit dem Schiff zu erreichen

Als Insel ist Sylt bis dahin nur mit dem Schiff zu erreichen, sprich: Die Bewohner sind mehr oder weniger isoliert. Ihr Leben ist einfach und von den Jahreszeiten bestimmt. Gerade im Winter ist Sylt oft völlig abgeschottet - denn das das Eis im Wattenmeer bildet eine natürliche Barriere. Die Insellage prägt die Bevölkerung, viele sind verschlossen und fürchten sich vor Veränderungen. Allerdings zieht es im 19. Jahrhundert immer mehr Badegäste nach Westerland, sie landen am Anleger am Munkmarscher Fährhaus an. Und sie bringen Geld auf die Insel. Ein Damm könnte das Geschäft noch profitabler machen. Die zunehmende Bedeutung Westerlands als Seebad führt 1910 schließlich zur Aufnahme von amtlichen Planungen eines Damms.


1914: Baubeginn und Baustopp durch Ersten Weltkrieg

Der preußische Landtag genehmigt den Bau 1913. Im Jahr darauf beginnen die Bauvorbereitungen unter der Leitung von Hans Pfeiffer als Vorstands des Preußischen Wasserneubauamtes Dammbau Sylt. Zehn Millionen Reichsmark stehen ihm für das ehrgeizige Projekt zur Verfügung. Als Erbauer der Drehbrücke Rendsburg bringt Pfeiffer technisches Know-how mit. Doch der Dammbau stellt selbst den erfahrenen Ingenieur vor die Frage: Wie kann ein Damm trotz Tide gebaut werden? Da scheint der Widerstand vieler Sylter, insbesondere der Morsumer, zunächst das geringere Problem zu sein. Doch bevor der Bau richtig beginnt, stoppt der Erste Weltkrieg die Arbeiten. Das Geld wird für die Kriegskasse benötigt.

1920: Grenzverschiebung lässt Ruf nach Damm lauter werden

Nach dem Krieg herrschen unruhige Zeiten im Kreis Tondern: Aufgrund des Friedensvertrages von Versailles müssen sich die Nordschleswiger entscheiden, zu welchem Land sie gehören möchten - Deutschland oder Dänemark. In Folge der Volksabstimmung im Jahr 1920 spaltet sich Tondern, Sylt bleibt in deutscher Hand. Um jetzt auf die Insel zu gelangen, müssen Deutsche durch dänisches Staatsgebiet - und brauchen dafür ein Visum. Eine Landverbindung für den Bahnverkehr scheint dringender denn je.

Die Gezeiten und das Watt sind unberechenbar

Der nächste Bauversuch startet mit Vorarbeiten 1921. Der Auftakt des Dammbaus ist ein Wagnis: Einen künstlichen Damm durchs Watt zu bauen, stellt die Ingenieure und Arbeiter vor große Herausforderungen. Denn sie betreten technisches Neuland. Keiner weiß, ob es funktioniert, 28 Millionen Kubikmeter Wasser, das viermal täglich an- und wieder abfließt, zu überwinden. Priele und Strömung müssen getrennt werden. Einen Damm von 50 Meter Breite anzulegen, bedeutet Sand aufzuspülen, Rohre zu verlegen und Zäune im Meer zu errichten. Die Beschaffenheit des Sandes spielt dabei eine große Rolle: Vor Sylt ist er so feinkörnig, so dass er nicht liegen bleibt. Die Flut spült ihn immer wieder weg. In den darauffolgenden Jahren entwickelt sich das Projekt zur größten Baustelle Europas - mit ungewissem Ausgang.

Der Dammbau spaltet die Sylter Bevölkerung

Durch Spülleitungen und mit Lorenzügen wurde der zum Bau benötigte Sand auf den Damm gebracht. © Jochen Pförtner Foto: Jochen Pförtner
Der Dammbau hat etliche Gegner: Viele Sylter fürchten sich vor zu vielen fremden Einflüssen von außen.

Doch nicht nur baulich erweist sich der Damm als Herkulesaufgabe. Viele Sylter sind skeptisch. Sie haben Angst vor allem Fremden - vor allem dem "Gesindel", das mit dem Damm auf die Insel kommen könnte. Den Dammbau und die Anbindung ans Festland betrachten viele Bewohner als Verlust ihrer Insel. Sylt ist gespalten: Die Westerländer sind für den Damm, weil sie sich dadurch mehr Tourismus und wirtschaftlichen Aufschwung erhoffen. Zahlreiche Bewohner wollen an dem Damm schlichtweg Geld verdienen, Zimmer vermieten oder Essen anbieten. Die Morsumer aber bleiben hartnäckig - die Menschen die gleich hinter dem Deich leben, befürchten nur Nachteile durch den Bau.

Pastor Hans Johler aus Morsum versucht zu schlichten

Das Pastorenehepaar Elwine und Hans Johler mit Tochter Karin auf Sylt. © Ekkehard Lauritzen
Karin Lauritzen, geborene Johler, erlebt den Bau des Hindenburgdamms als Tochter des Inselpastors - und weiß noch heute von seinen Schwierigkeiten.

In der schwierigen Gemengelage übernimmt Inselpastor Hans Johler eine besondere Aufgabe, obwohl der Geistliche selbst hin- und hergerissen ist. Auf der einen Seite ist er Seelsorger der Morsumer, gleichzeitig aber auch Dammbaupastor. Er fühlt sich verantwortlich für die Menschen, die neu auf die Insel kommen. Er freundet sich mit Ingenieur Hans Pfeiffer an und unterstützt den Dammbau. Doch mit rationalen zukunftsweisenden Argumenten kann der Pastor kaum einen Morsumer überzeugen - für sie ist und bleibt der Damm der Teufel. Trotzdem ruft Johler die Menschen in seinen Predigten dazu auf, sich zu öffnen, sich nicht vor dem Fremden zu fürchten: "Schaut voraus! Schickt eure Kinder über den Damm auf gute Schulen, seid gnädig mit den Arbeitern!" Vergebens, die Stimmung gegen den Geistlichen und seine Familie kippt, er erhält Drohungen. Schließlich verbringt er seine Zeit nur noch auf der Baustelle.

"Der Dammbau überschattet das Familienleben immer mehr ... er war hin- und hergerissen zwischen seinen Pflichten als Gemeindepastor und der Fürsorge für die Arbeiter. Für uns Kinder und seine Frau hatte er immer weniger Zeit. Der Damm hatte ihn in seinen Bann gezogen."

So erinnert sich Johlers Tochter Karin Lauritzen im Doku-Drama "Sylt, das Blumenmädchen und der Damm" an die Zeit.

Dammarbeiter leben in Barackenstadt mit Saloon

1923 beginnt dann der eigentliche Bau des Eisenbahndamms. Auf der Halbinsel Nösse im Osten von Sylt entsteht für die Arbeiter eine Barackenstadt mit Saloon. Die Behausungen dafür werden aus ganz Deutschland zusammengekauft. Vorher hausten darin Soldaten oder Kriegsgefangene. Andere kommen auf Wohnschuten direkt an der Strecke unter. Ihr Vorteil: kurze Arbeitswege.

Bau des Hindenburgdamms: Ein Kampf gegen die Nordsee

Der Sand für den Damm wurde in Kiesgruben auf dem Festland und auf der Halbinsel Nösse abgebaut. © Jochen Pförtner Foto: Jochen Pförtner
Der Sand für den Damm wurde in Kiesgruben auf dem Festland und auf der Halbinsel Nösse abgebaut.

Der Material-Transport zur Baustelle erfolgt von Klanxbüll auf dem Festland aus mittels Loren und Zügen. Dafür verlegen Arbeiter Feldbahngleise. Die Transportfahrzeuge bewegen sich im Schritttempo vorwärts. Tonnenweise schaffen sie Sand aus Kiesgruben zum Aufschütten heran - um Vorsprung vor der Nordsee zu gewinnen, denn die holt sich den Klei, das feine Sediment, immer wieder zurück.

Den Kampf gegen die Nordsee trägt Ingenieur Hans Pfeiffer auf dem Rücken der bis zu 1.500 Arbeiter aus. Sie ringen den Damm den Naturgewalten regelrecht ab, schuften bis zu 18 Stunden am Tag, schippen Sand, rammen Bohlen ins Watt, schleppen Tausende Tonnen Steine. Dabei durchqueren sie Priele und starke Strömungen. Für diese Schwerstarbeit bekommen die Arbeiter pro Tag einen Lohn, der gerade mal zum Kauf eines Laibs Brot reicht. Es herrschen Jahre der Inflation.

Sturmflut macht 1923 die Arbeit eines Jahres zunichte

Und es gibt Rückschläge: Eine verheerende Sturmflut bricht im August 1923 über die Baustelle ein und zerstört die Arbeit eines ganzen Jahres. Nur an der Festlandseite steht noch ein Stück des Dammes - dort, wo er mit Steinen schon gesichert ist. Insgesamt gehen 250.000 Kubikmeter Boden verloren - zehn Millionen Mark werden sprichwörtlich in den Sand gesetzt.

Viele Arbeiter schuften bis in den Tod

Die Spundwand bei Sturm. Auf der Leeseite ist das Wasser deutlich ruhiger. © Jochen Pförtner Foto: Jochen Pförtner
Die Spundwand hält auch stürmischen Wetter stand. Auf der dem Wind abgewandten Seite ist das Wasser deutlich ruhiger.

Hans Pfeiffer stellt das bisherige Bauverfahren in Frage. Auf der Südseite in Fahrtrichtung Westerland lässt der Ingenieur eine Spundwand aus Holzbohlen quer durchs Wattenmeer ziehen. Sie wird zusätzlich durch Pfahlreihen abgesichert. Die 90 Zentimeter breiten Gleise werden mit Steinwänden gesichert, um Unterspülungen zu verhindern. Die Wucht des Meeres prallt ab, der mühsam aufgeschüttete Sand bleibt endlich liegen. Diese Idee bringt den ersehnten Durchbruch beim Dammbau. Doch Ingenieur Pfeiffer macht weiter Druck, bis Ende 1925 sollen die Spundwand und das Damm-Fundament stehen. Bevor die nächsten Herbst- und Winterstürme drohen. Die Bedingungen für die Arbeiter sind katastrophal, sie schuften oft bis zum Umfallen. Pastor Hans Johler begräbt einen Mann, der 14 Tage am Stück malocht hat - bis zum Herzanfall.

Am schwersten ist die Arbeit an den schweren Eisenloren. Wenn sie auf dem Untergrund aus feuchtem Schlick entgleisen, kann das für die Arbeiter fatale Folgen haben. Wer unter eine Lore gerät, verliert nicht selten ein Bein. Andere verlieren sogar ihr Leben. Und, was schwer wiegt: Durch den Dammbau Verletzte werden nicht groß entschädigt.

April 1927: Der erste Zug rollt über den Damm

Die Strecke ist fertig. Ein Sonderzug bringt Arbeiter nach Westerland. Auf der Lokomotive: Pastor Hans Johler. © Jochen Pförtner Foto: Jochen Pförtner
Die Bahnstrecke ist fertig. Ein Sonderzug bringt Arbeiter nach Westerland. Auf der Lokomotive ist Pastor Hans Johler zu sehen.

Im September 1926 wird die letzte Lücke des 11,3 Kilometer langen Damms geschlossen. Bagger, Spüler und Wohnschuten werden abgezogen. Als letzten Schritt befestigen Steinsetzer die Böschung. Im April 1927 fährt der erste Zug über den Damm bis nach Westerland. Fehlt nur noch das Bahnhofsgebäude - das bis zum 1. Juni fertig werden muss. Dann ist die Einweihungsfeier mit prominenten Gästen geplant.

Reichspräsident Hindenburg wird Namenspatron des Dammes

Am 1. Juni 1927 überreicht Karin Lauritzen (geborene Johler) dem damaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg bei seiner Eröffnungsfahrt über den Hindenburgdamm einen Blumenstrauß. © Ekkehard Lauritzen
Die Tochter und Hindenburg: Für Pastor Johler ein symbolträchtiger Moment.

Am 1. Juni rollt Reichspräsident Paul von Hindenburg im Sonderzug über den neuen Damm. In Morsum gibt es einen außerplanmäßigen Halt - und ein kleines Mädchen schreibt Geschichte. Hans Johlers Tochter Karin überreicht Hindenburg einen Strauß Blumen durchs Fenster, nach oben gehoben von der Mutter. "Für meinen Vater war es vielleicht der stolzeste Moment seines Lebens", erzählt sie rückblickend.

In Westerland wird Hindenburg von Veteranengruppen, der örtlichen Prominenz und Vertretern der Reichsbahn empfangen. Der Reichsbahn-Präsident Julius Dorpmüller trägt ihm an, Namenspatron zu werden: So wie der Damm der Nordsee trotze, so sei Hindenburg ein Schutzwall gegen die Feinde des Vaterlandes. Seit 1927 trägt der Damm den Namen eines Mannes, der die Republik abgelehnt hat.

Hindenburg, der Damm - und ein neuer Name?

Der Dammbauer wird mit keiner Silbe erwähnt

Für Hans Pfeiffer und Hans Johler endet die Geschichte weniger glamourös: Der Dammbauer wird bei den Feierlichkeiten mit keiner Silbe erwähnt. Er bleibt bis Jahresende auf der Insel und wickelt die Baustelle ab. Hans Pfeiffer verkauft alles: Arbeitspferde, Baracken und Werkzeuge. Zuletzt veräußert er das Toilettenhaus der Ingenieure, es spült 42 Reichsmark in die staatliche Kasse. Eine lächerliche Summe in Relation zu den Gesamtkosten des Damms von schlussendlich 25 Millionen Reichsmark.

Hans Johler verliert seine Stelle als Pastor

Rückkehr auf die Insel: Karin Lauritzen (geb. Johler) ist das Blumenmädchen vom Hindenburgdamm. Vor fast 100 Jahren wurde sie im Pastorat von Morsum geboren. © jumpmedientv GmbH
Rückkehr auf die Insel: Für das Doku-Drama "Sylt, das Blumenmädchen und der Damm" ist Karin Lauritzen, geborene Johler, nach Sylt zurückgekehrt.

Auch Pastor Hans Johler verlässt die Insel - aber unfreiwillig. Hinter seinem Rücken hatte der Morsumer Gemeinderat im Stillen seine Ablösung vorangetrieben. Diese Demütigung habe er nie überwunden, so Tochter Karin Lauritzen, die vor fast 100 Jahren im Pastorat von Morsum geboren wurde. Der Abschied von der Insel fällt der Familie schwer. Hans Johler muss sich eine neue Arbeit suchen - er wird Pastor der Flussschiffer im Hamburger Hafen.

Hindenburgdamm: Eine der meistbefahrenen Bahnstrecken

Zugverkehr auf dem Hindenburgdamm (1967) © picture-alliance/ dpa Foto: Wilhelm Herold
Hunderttausende passieren den Damm jährlich auf Zügen - hier eine Aufnahme aus dem Jahr 1967.

Von Technik über Wirtschaft bis zum Tourismus - der Hindenburgdamm hat Geschichte geschrieben. Heute ist er eine der meistbefahrenen Eisenbahnstrecken. 700.000 Fahrzeuge passieren auf Autozügen jährlich den Damm, hin und zurück. Eine Fahrt dauert rund 45 Minuten. Die Insel Sylt, der Damm und das Festland sind fest miteinander verwoben.

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