Pierre Boom: Sein Leben als Sohn des DDR-Spions Günter Guillaume
Pierre ist 17, als seine Eltern Günter und Christel Guillaume als DDR-Spione verhaftet werden. Er geht in die DDR, um sie bald wiederzusehen - und um Antworten zu bekommen, wie er in der ARD-Doku "Wir Kinder der Mauer" erzählt. Boom lebt heute auf Sylt.
Am frühen Morgen des 24. April 1974 wacht Pierre Guillaume, der seinen Namen Jahre später in Pierre Boom ändern lassen wird, durch fremde Stimmen im Flur auf. Der Schein eines Blaulichts reflektiert an den Zimmerwänden, vor dem Haus stehen Polizeibeamte mit Maschinenpistolen. Dann öffnet sich die Tür zum Zimmer des 17-Jährigen: "Sie dürfen sich jetzt von ihren Eltern verabschieden."
Günter Guillaume nickt seinem Sohn Pierre zu und nimmt ihn in den Arm, die Mutter redet noch davon, dass ein Irrtum vorliege. "Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut", sagt sie. So beschreibt Boom den Morgen, als seine Eltern, das Ehepaar Günter und Christel Guillaume, wegen Spionage verhaftet werden, in seinem Buch "Der fremde Vater. Der Sohn des Kanzlerspions Guillaume erinnert sich" (2004).
Eltern Guillaume werden als DDR-Spione verhaftet
Auch die Oma Erna Boom, die ebenfalls in der Wohnung in Bonn-Bad Godesberg lebt und für Pierre wegen der berufstätigen Eltern die Rolle der Ersatzmutter eingenommen hat, wird abgeführt. Dann beginnt die Hausdurchsuchung. Die Beamten durchwühlen die Wäsche, montieren Schränke ab, drücken sogar die Zahnpasta aus der Tube und zerteilen die Seife im Bad mit einem Messer. Ein Beamter fordert Pierre auf, für seine Eltern "das Nötigste" einzupacken, weil sie in Haft bleiben müssten.
Erst auf der Autofahrt zu der Außenstelle des Bundeskriminalamts, in der Günter und Christel Guillaume verhört werden, erfährt Pierre, was den Eltern vorgeworfen wird. Sein Vater habe sich bereits selbst belastet und noch in der heimischen Küche als "Offizier der DDR" bezeichnet.
"Für mich waren die Vorwürfe total unglaubhaft"
"Die Vorwürfe gegen meine Eltern konnte ich in der Anfangszeit einfach nicht glauben", erinnert sich Boom in der ARD-Dokumentation "Wir Kinder der Mauer". "Dass ausgerechnet mein Vater, der sich als rechter Sozialdemokrat und 'Kommunistenfresser' gegeben hat, DDR-Agent gewesen sein sollte, war für mich total unglaubhaft." Er selbst war in dem Glauben aufgewachsen, seine Eltern seien Mitte der 50er-Jahre aus der DDR geflohen.
Günter Guillaume ist für die Stasi über Jahre einer der wichtigsten Männer in der Bundesrepublik. Und auch Christel Guillaume spioniert - gar erfolgreicher als Günter, wie viele sagen. Als ihr Mann als persönlicher Referent des Bundeskanzlers Willy Brandts ins Zentrum der politischen Macht vordringt, hat sie als Sekretärin und Büroleiterin des hessischen Staatssekretärs längst Einblick in geheime NATO-Unterlagen und vertrauliche Strategiepapiere der SPD.
Vorwürfe scheinen mit Brandt-Rücktritt berechtigt
Die Enttarnung des "Spions im Kanzleramt" und seiner Co-Spionin sind in der Konsequenz schließlich auch für Brandt dramatisch: Am 6. Mai 1974 tritt er wegen der Guillaume-Affäre als Regierungschef zurück.
Mit dem Rücktritt wird Pierre klar, dass die Vorwürfe gegen seine Eltern berechtigt sein könnten. Er leidet darunter, nicht persönlich mit ihnen darüber reden zu dürfen. "Ich konnte sie nicht direkt fragen: Stimmt es, was man euch vorwirft? Habt ihr das wirklich gemacht?" Zugleich macht ihm zu schaffen, dass seine Mutter und sein Vater ihm womöglich sein ganzes Leben lang etwas vorgespielt haben: "War das alles Trug und Schein? Alles Lüge und Verrat?"
Agententreffs als Familienausflüge getarnt
Ein emotionaler Abgrund tut sich vor dem 17-Jährigen auf. Die sonntäglichen Abstecher zum Brötchen holen am Flughafen Köln/Bonn, die Wochenendausflüge nach Maastricht: Ausgerechnet diese Momente, an denen sich der Sohn seinem Vater nahe fühlte, waren in Wirklichkeit Agententreffs. Der Vater nutzte sie, um brisante Informationen weiterzugeben. Und auch die Schimpftiraden des Vaters auf die DDR beim Packen der alljährlichen Weihnachtspakete für die Ost-Verwandtschaft - alles nur vorgespielt?
Doch nicht nur, was die bisherige Beziehung zu seine Eltern betrifft, lösen sich für Pierre alle Gewissheiten von heute auf morgen auf. Sein behütetes Bonner Leben hat schlagartig ein Ende gefunden. Die Konten der Eltern sind eingefroren, die Autos beschlagnahmt. Die Miete verdoppelt sich, da die Wohnung nur für Bundesbedienstete gedacht ist - und Pierre hat als Schüler kein eigenes Einkommen. Mit seiner schnell wieder freigelassenen Großmutter lebt er zunächst weiter in Bad Godesberg.
"Betreuer" von der Stasi kümmern sich um Pierre
In dieser Situation treten die sogenannten Betreuer in sein Leben. Sie werden von der erst kurz zuvor eröffneten Ständigen Vertretung der DDR geschickt und kümmern sich sowohl um die inhaftierten Eltern, die ja Staatsbürger der DDR sind, als auch um deren Angehörige. "Das waren alles Stasi-Mitarbeiter", weiß Boom heute. Sie laden den Jugendlichen damals ein, "das Land seiner Eltern kennenzulernen". Und Pierre ist neugierig auf das Land, für das eine Eltern spioniert haben, möchte ihre Beweggründe besser verstehen.
Zugleich bauen die "Betreuer" subtil Druck auf den Jugendlichen auf. Wenn er in die DDR gehe, könne der Staat für ihn sorgen. Wenn er aber in der Bundesrepublik bleibe, müsse er wohl das Gymnasium verlassen, weil er sich die Schule nicht leisten könne. Und im sozialistischen Deutschland könne er schon bald seine Eltern wiedersehen, diese würden vermutlich schon bald in die DDR ausgetauscht werden.
Übersiedlung in die DDR 1975
Wäre er in Westdeutschland geblieben, hätte es in der damaligen politischen Situation keinen Kontakt zwischen den Eltern in der DDR und dem Sohn geben können. Und der Jugendliche ist noch nicht bereit, sich vollständig von seinen Eltern zu lösen, hofft zudem, von ihnen Antworten auf seine Fragen zu bekommen. Pierre entscheidet sich im Sommer 1975 dafür, in die DDR überzusiedeln - großzügig unterstützt vom Regime. Seine Großmutter begleitet ihn. Doch der Alltag in der DDR ist desillusionierend. In der Schule offen seine Meinung zu äußern und zu diskutieren, so wie Pierre es aus seinem Gymnasium in Bonn kennt, ist unerwünscht. Auch sonst verspürt er die Verlogenheit und die Enge des DDR-Systems.
Pendler zwischen zwei Welten
Regelmäßig darf er in den Westen fahren, um seine Eltern im Gefängnis zu besuchen. Seinen Pass muss er bei der Rückkehr in den Osten immer wieder abgeben. Die Fahrten stellen für ihn stets einen Spagat zwischen zwei unterschiedichen Welten dar. Er trifft sich mit seinen alten Freunden und empfindet die damalige Bundeshauptstadt Bonn immer noch als sein Zuhause. Zurück in der DDR fühlt er sich dagegen orientierungslos. Er beginnt, die Schule zu schwänzen, bricht sie schließlich ab und jobbt zunächst als Hilfsarbeiter. Später kann er sich fangen und beginnt eine Ausbildung zum Fotolaboranten. Im Anschluss arbeitet er sich zum Fotoreporter bei der "Neuen Berliner Illustrierten" hoch und schlägt einen journalistischen Berufsweg ein.
Christel und Günter Guillaume kommen erst 1981 frei
Erst im Jahr 1981, sehr viel später als ursprünglich erhofft, kehren die Eltern im Rahmen eines Agentenaustauschs in die DDR zurück. Da ist Pierre bereits Mitte 20. Die Ehe seiner Eltern ist zu dem Zeitpunkt zerrüttet, die Mutter reicht kurz nach der Rückkehr die Scheidung ein. Pierres Verhältnis zur Mutter war wegen ihrer häufigen Abwesenheit nie besonders innig, als Mensch bleibt sie ihm ein Rätsel. Auch die Beziehung zum Vater bleibt distanziert: Die erhofften Antworten kann und will er seinem Sohn Pierre nicht geben. Er bleibt der "fremde Vater."
Pierre stellt Ausreiseantrag
Und auch die DDR wird Pierre wieder fremd. 1987 stellt er einen Ausreiseantrag für sich, seine Frau und die beiden Kinder. Die Gründe, der DDR wieder den Rücken zu kehren, sind vielfach. "Es war das System der Staatssicherheit, dem man nicht entkommen konnte, es war die Enttäuschung über das politische System, es war mein älterer Sohn. Nach meiner eigenen Erfahrung mit der DDR-Schule wollte ich ihm das ersparen."
Den Enkel dem Stasi-Einfluss entziehen
Zudem will er das Kind dem Einfluss des Großvaters entziehen, der seine Wünsche und Erwartungen auf das Kind projiziert: "Das ging so weit, dass er sich nichts sehnlicher gewünscht hätte, als dass sein Enkel mal Offizier der Staatssicherheit wird. Das konnte und wollte ich nicht zulassen", sagt Boom rückblickend. 1988 schließlich darf die Familie in die Bundesrepublik ausreisen. Pierre nimmt den Mädchennamen seiner Mutter an, die nach ihrer Scheidung von Günter Guillaume Anfang der 80er-Jahre ebenfalls wieder ihren früheren Namen Boom trägt.
Das Verhältnis zum Vater bleibt auch nach dem Mauerfall und bis zu dessen Tod angespannt. Dass Günter Guillaume nach der Wende herausfindet, dass auch er selbst von der Stasi bespitzelt worden war und daher tief enttäuscht ist von den früheren Kollegen, erfährt Boom nicht vom Vater persönlich, sondern von einem befreundeten Journalisten. Zur Beerdigung Guillaumes im April 1995 sind weder Pierre noch seine Mutter eingeladen. Sie stirbt neun Jahre später in Berlin.
Leben und Arbeiten auf Sylt
Pierre Boom lebt als Autor und Journalist auf Sylt. Die Wunden durch den Verrat seiner Eltern sind verheilt - aber eine Narbe ist geblieben, die ihn immer wieder dazu treibt, sich mit dem Vergangenen auseinanderzusetzen. 2005 wirkt er in dem Dokumentarfilm "Schattenväter" mit. Zusammen mit dem Sohn von Willy Brandt, Matthias Brandt, schildert er seine Erinnerungen.