Ingeborg Illing: "Mit Stecknadeln hatten wir die Front abgesteckt"
Ingeborg Illing, seit dem 14. Dezember 100 Jahre alt, wächst zwischen preußischer Strenge und viel Liebe auf. Im Frankreich-Einsatz lernt sie ihren späteren Mann kennen. Ihr gemeinsamer Weg führt sie nach Salzgitter. Rückblick auf ein Jahrhundertleben.
Als ältestes von vier Kindern kommt Ingeborg Illing, geborene Schröder, am 14. Dezember 1921 in Magdeburg auf die Welt. Die ersten fünf Jahre verbringt sie mit zwei Schwestern und einem Bruder auf einem Bauernhof mit Milchwirtschaft. Weil die Stadt mehr Bauland braucht und die Landwirtschaften aufkauft, zieht die Familie Schröder samt Großvater väterlicherseits auf einen Hof in die Mark Brandenburg, nach Deetz an der Havel. Der Fluss bestimmt das Leben der Kinder - im Sommer gehen sie schwimmen, im Winter laufen sie bei auf den überschwemmten und gefrorenen Wiesen Schlittschuh. "Das war ein tolles Freizeitvergnügen", erzählt Ingeborg Illing dem NDR für die Dokumentation "Jahrhundertleben".
Kindheit: Preußische Strenge und viel Liebe
Ingeborgs Elternhaus ist geprägt von preußischer Disziplin und Zuwendung: Ihre Mutter beschreibt sie als "liebevoll-streng", der Vater hat einen fröhlichen Charakter, der seine Kinder auch mal in den Arm nimmt. Die Mutter hingegen weniger. "Also wir Mädchen hingen sehr an unserem Vater, und wenn irgendetwas war, gingen wir immer zuerst zum Vater. "Es war leichter, den Vater lieb zu haben." Ihre Mutter habe darunter gelitten. Anders als die Mädchen wird der Bruder strenger erzogen. Wenn er Unsinn macht, gibt es mit dem Rohrstock etwas auf den nackten Po. "Das fand ich ganz schrecklich."
Weltwirtschaftskrise: Osthilfe rettet Familie vor Konkurs
Der Hof der Schröders gerät in der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er-Jahre in Schieflage. Der Vater ist kurz davor, aufzugeben. Doch dann beantragt er die sogenannte Osthilfe. Die staatliche Zuwendung in Form von Krediten ist an den Einsatz eines Treuhänders gebunden, der jede Ausgabe genehmigen muss. Dazu gehört auch das Schulgeld - das gestrichen wird. Ein großer Einschnitt in Ingeborgs Illings Leben, denn der Weg aufs Lyzeum bleibt ihr dadurch verwehrt: "Das hat mir doll wehgetan." Und es belastet ihre Jugend und die Zeit als "Jugend-Führerin" beim Bund Deutscher Mädel (BDM). Denn die meisten Mädchen besuchen höhere Schulen. "Ich musste aufpassen, dass ich nicht Komplexe bekomme."
Die Eltern gleichen Lücken aus, beide sprechen Französisch und bringen der Tochter Grundbegriffe bei. Darüber hinaus ermöglichen sie ihren Kindern Klavierunterricht. Und der Vater tröstet sie und macht ihr Mut auf einen guten Bildungsabschluss. "Wenn ihr tüchtig seid, dann schafft ihr das auch anders", habe er gesagt. Nach der Dorfschule geht Ingeborg als junges Mädchen schließlich zwei Jahre auf eine Handelsschule in Brandenburg und macht einen Abschluss, der mit der mittleren Reife gleichgestellt ist.
NS-Zeit: "Mein Vater glaubte, es würde besser werden"
Ingeborg Illings Vater kann schließlich den Kredit aus der Osthilfe ablösen, sprich zurückzahlen. "Mein Vater glaubte, dass es besser würde, 1933", erzählt sie. Wirtschaftlich betrachtet wird es das für die Familie auch. Der Vater wird in der NS-Zeit Bürgermeister. Sie selbst ist weiter aktiv im BDM, der Teil-Organisation der Hitlerjugend, nimmt an Heimabenden und Sportfesten teil oder fährt in den Ferien in Schulungslager. "Das hat uns Kindern natürlich ganz gut gefallen. Kann man vielleicht heute gar nicht nachempfinden." Mit 14 oder 15 habe man nicht darüber nachgedacht. Für sie sei es eine unbeschwerte Friedenszeit gewesen. Aber sie sieht auch die Repressionen gegen Juden wie das Tragen des gelben Sterns und die Folgen der Reichspogromnacht. "Auf meinem Schulweg war ein Kino in jüdischer Hand. Und als ich dann morgens vorbeikam, da brannte das." Obwohl ihr Vater damals Nationalsozialist ist, so erinnert sie sich, habe er das Novemberpogrom als nicht rechtens empfunden.
Zweiter Weltkrieg: Für die Wehrmacht in Frankreich
Nach dem Abschluss der Handelsschule fängt Ingeborg Illing zunächst bei den Arado-Flugzeugwerken in Potsdam-Babelsberg an zu arbeiten. Dann bewirbt sie sich bei der Reichsgesellschaft für Landbewirtschaftung, die im Zweiten Weltkrieg besetzte Betriebe im Osten und auch in Frankreich bewirtschaftet. Als sie 19 ist, wird sie angenommen und fährt am 3. Januar 1941 nach Frankreich. Vom Krieg ist sie anfangs begeistert: "Mit Stecknadeln hatten wir die Front abgesteckt." Als zivile Angestellte der Wehrmacht arbeitet sie vier Jahre lang in Charleville-Mézières in den Ardennen. "Naturalien und Vieh: Alles wurde registriert und an die Wehrmacht abgeführt. Das war eine richtige Bürokratie", erzählt sie rückblickend.
Invasion der Alliierten: Rückzug vom West-Einsatz
Im Frankreich-Einsatz trifft Ingeborg Illing ihren späteren Mann auf einer Betriebsfeier: "Der Stuhl neben mir war leer. Dann kam ein junger Mann, der sich da hinsetze. Das war seinerzeit der Leutnant Illing." Kurz nach dem Kennenlernen wird Wilfried Illing nach Hannover abberufen und schließlich nach Russland abgezogen. Sie verabschieden sich am Bahnhof: "Inzwischen kam auch der Zug und mein Leutnant Illing nahm mich in den Arm, drückte mich und küsste mich."
Sie bleiben in Kontakt, er schickt ihr Aroma-Blümchen, sie treffen sich immer wieder mal heimlich - und planen schließlich, zu heiraten. Nach der Invasion muss auch Ingeborg Illing Frankreich verlassen. Aus der anfänglichen Begeisterung für den Krieg wird Angst: "Wie endet das mal, wenn der Krieg nicht gut für Deutschland ausgeht?", fragt sie sich. Sie bekommt einen Kriegsurlaubsschein, ihr West-Einsatz ist damit beendet. Ihr nächster Einsatzort ist Posen im von Deutschland besetzten Polen. Auch ihre Eltern leben mittlerweile im Osten - im 100 Kilometer von Posen entfernten Konin. Dort besucht Ingeborg sie im November 1944 regelmäßig.
Kurz vor Kriegsende: Hochzeit im polnischen Konin
Am 1. Januar 1945 "stand er plötzlich vor der Tür." Wilfried Illing hat Heiratsurlaub. Ingeborgs Eltern hatten bereits einiges vorbereitet: eine Gaststätte ausgesucht, die Dienststelle informiert. "Und dann sind mein Mann und ich nach Sulingen zu meinen Schwiegereltern gefahren und haben die geholt." Der Schwiegervater traut die beiden in einer katholischen Kirche. Ihre "Flitterwochen" verbringt das Ehepaar fünf Tage im Havel-Dörfchen Deetz. Danach muss ihr Mann zurück nach Russland.
Einmarsch der Roten Armee: Flucht nach Deetz
Ingeborg Illing flieht mit der Familie vor dem Einmarsch der Roten Armee im April 1945 zurück nach Deetz: "Also befreit fühlte man sich nicht, wir jedenfalls nicht." Sie sorgt sich um das Leben ihres Mannes, der in russische Kriegsgefangenschaft gerät. Erst als sie weiß, dass ihr Mann lebt, fühlt sie sich befreit: "Jetzt läuft das Leben weiter - und gut, dass das andere zu Ende ist. Und jetzt müssen wir die Konsequenzen tragen und was Neues anfangen." Im September 1946 kommt Wilfried Illing aus Russland zurück - in der Zwischenzeit wurde ihm ein Bein amputiert. 1947 zieht das Paar nach Hannover um.
Nachkriegszeit: Schwieriger Neuanfang in Hannover
Wegen der Wohnungsnot in der Nachkriegszeit ist ihre erste Bleibe dort ein 18 Quadratmeter großes Zimmer. "Und als unsere Tochter geboren wurde, wurde das ein bisschen knapp." Die Illings bekommen keine Bezugsscheine, keinen Kinderwagen. Sie behelfen sich mit einem Puppenwagen der Nachbarn. Wilfried Illing studiert derweil Architektur, schiebt aber auch schon mal den Kinderwagen. Ungewöhnlich, denn "das machten deutsche Männer noch nicht", erzählt Ingeborg Illing. Sie leben von 80 Mark Kriegsrente. Der Schwiegervater gibt jeden Monat 120 Mark dazu. "40 Mark kostete unser Zimmer jeden Monat. Und dann hatten wir ja eigentlich auch Semester-Beiträge zu zahlen, die dann aber reduziert wurden", erinnert sie sich an diese entbehrungsreiche Zeit.
1950er-Jahre: Hausbau in Salzgitter
Sieben Jahre leben die Illings in dem Zimmer in Hannover. 1955 fängt Wilfried Illing bei der Wohnungsbaugesellschaft "Niedersächsische Heimstätte" in Salzgitter an zu arbeiten. Als Architekt habe ihr Mann gedacht: "Wenn ich für andere Häuser baue, möchte ich für mich selbst auch eins bauen" - und rekapitalisiert dafür seine Behindertenrente. 1958 zieht Familie Illing mit Tochter Karen und Sohn Helmut, geboren 1954, schließlich in ihr neues Haus ein.
Ingeborg Illing geht in ihrer Mutterrolle auf
Ingeborg Illing kümmert sich um die Erziehung der Kinder: "Ich fühlte mich voll ausgelastet." Nicht zuletzt, weil Sohn Helmut an Diabetes erkrankt ist und intensive Pflege braucht. Als sie mit 47 Jahren Oma wird, kümmert sie sich wie eine Mutter um Enkelkind Andreas, damit Tochter und Schwiegersohn Arbeit und Ausbildung unter einen Hut bringen können. Außerdem betreut sie ihre demente Mutter. Als Tochter Karen wieder die Kinderbetreuung übernimmt und die Mutter stirbt, fällt Ingeborg Illing in ein Loch. Ihr Arzt rät ihr, eine Arbeit anzunehmen - und so bewirbt sie sich in einer Arztpraxis. "Dort musste ich mich natürlich einarbeiten."
Tod des Mannes "die einschneidendste Situation"
Ihre Urlaube verbringen die Illings 38 Jahre hintereinander in Cuxhaven-Döse, weil Fernreisen aufgrund der Bein-Prothese nicht möglich erscheinen. Darüber hinaus nimmt das Ehepaar an Kirchenfreizeiten teil - auf einer dieser Reisen stirbt Wilfried Illing im Juli 1995 an einem Herzinfarkt, sechs Monate nach der Goldenen Hochzeit. "Das war die einschneidendste Situationen in meinem Leben, plötzlich alleine zu sein", erinnert sich Ingeborg Illing. Sie will nicht allein in dem großen Haus bleiben, zieht in eine Wohnung um. Dort versorgt sie sich bis heute selbst.
100 Jahre Leben - "Irgendwie ruhig einschlafen"
Rückblickend empfindet Ingeborg Illing die Jahre mit ihrem Mann und der Familie als die schönste Zeit: "Das Bewusstsein, glücklich zu sein, behütet in gegenseitiger Liebe - das war schon eine Erfüllung." Angst vor dem Tod hat Ingeborg Illing nicht. Sie freut sich über Dinge, die sie noch kann: Spazierengehen oder Einkäufe erledigen. Sie kann aber auch schon ein bisschen mit dem Leben abschließen. Sie wünscht sich, nicht ins Altersheim zu müssen. "Hier in meiner Wohnung irgendwie ruhig einschlafen. Das wäre ein großes Geschenk und ein schönes Ende."