Anna Möschter: "Ein Elternhaus ist wichtig fürs ganze Leben"
Anna Möschter, Jahrgang 1924, heiratet 1945 nach Hamburg, macht Karriere bei der Post - und erlebt 1976 eine schwere Sturmflut. Im Dezember 2021 ist sie im Alter von 97 Jahren gestorben. Davor hat sie dem NDR noch ihre Geschichte erzählt. Etappen eines Jahrhundertlebens.
Aufgewachsen ist Anna Möschter bei Saarbrücken in einer Großfamilie. Als junges Mädchen lernte sie schon früh von ihrem Vater, wie wichtig es ist, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. Sie hat ihr ganzes Leben gearbeitet. 1944 ging sie mit ihrem zukünftigen Mann nach Hamburg. Sie heirateten noch vor Kriegsende. 1968 hat sie eine Postfiliale übernommen, bis zur Rente blieb sie in dem Unternehmen. Für die fünffache Mutter war "Familie das Wichtigste." Das sei es auch gewesen, was sie so gern leben ließ, erzählte sie dem NDR für die Dokumentation "Jahrhundertleben".
Kindheit in Großfamilie: "Ein Geschwisterkind ist viel wert"
Anna Möschter kommt am 30. August 1924 als Anna Klara Fischer in Bildstock bei Saarbrücken auf die Welt. Mit acht Geschwistern wächst sie in einem Grubenhaus auf, ihr Vater ist Bergarbeiter. "Wir waren gut erzogen und wir haben uns alle gegenseitig geholfen." Ein Geschwisterkind sei viel wert. "Das Familienleben war sehr schön." In der großen Küche bereitet die Mutter Kartoffelklöße zu. Aber Anna und ihre Geschwister müssen auch "viel, viel arbeiten." Die Jungs putzen Schuhe, die Mädchen schälen Kartoffeln und machen die Küche sauber. Das Geld ist knapp in der Familie, der Vater Alleinverdiener. "Vom Wochenlohn zwackt er fünf Mark ab - und fragt seine Frau: 'Was möchtest du jetzt haben, neue Kochtöpfe oder eine neue Nähmaschine?'", so Möschter. Es wird schließlich eine Nähmaschine von Singer, auf der habe sie schon als junges Mädchen nähen gelernt.
Flucht nach Goslar: "Damals war die Kindheit vorbei"
Nähen zu können, ebnet Anna Möschter auch eine berufliche Perspektive: Sie lernt in einer Fabrik Weißnäherin. "Da wurden Tischdecken, Teesets und Bettwäsche gemacht." Doch ihre Lehrzeit währt nur von März bis September 1939. Am 3. September - zwei Tage nach dem deutschen Angriff auf Polen - erklärt Frankreich Deutschland den Krieg.
Ihr Vater sei niemals politisch gewesen, aber in jedem Haushalt habe damals wohl ein Bild von Hitler gehangen. Sie wohnen ganz in der Nähe der Grenze, der Bereich gilt als Evakuierungszone. Am 5. September flieht die Familie in einem Güterwaggon. Annas Bruder ist damals noch kein Jahr alt. "Wir sind gefahren bis nach Goslar", so Anna Möschter. Von Goslar aus werden die Flüchtlinge auf umliegende Bauerndörfer verteilt. Die 15-jährige Anna muss in einem Hotel in Hahnenklee arbeiten, die Trennung von der Familie fällt ihr schwer. "Damals war die Kindheit vorbei."
Rückkehr ins Elternhaus nach dem Waffenstillstand
Im Sommer 1940, nach dem Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich, kehrt Anna mit den Geschwistern zurück nach Saarbrücken - ohne die Mutter, die gerade ein Baby zur Welt gebracht hat. Ihr Vater ist nun Funker bei der Wehrmacht. Im Elternhaus waren in der Zwischenzeit Soldaten untergebracht. "Wir waren alleine mit meiner Tante Mi, und die hat uns versorgt." Anna muss wieder arbeiten gehen, doch ihre alte Fabrik ist verschwunden. Sie nimmt jede Arbeit an, die sie bekommen kann - ob in der Maschinenfabrik oder einer Wäscherei. "Mein Vater war sehr dafür, immer arbeiten zu gehen - als Versicherung, dass du später leben kannst."
Hochzeit vor Kriegsende: "Damals gab es doch nichts"
1942 lernt Anna ihren zukünftigen Mann kennen: Ernst Heinrich Paul Möschter, kurz "Heiner". Aus einer anfänglichen Brieffreundschaft wird schließlich mehr, auf Heimaturlaub besucht er Anna in ihrem Elternhaus. "Und da sagte er: 'Annchen, wir schreiben uns weiter.' Und das ging wunderbar." Als er Anna seinen Eltern in Hamburg vorstellen will, bittet er Annas Vater um Erlaubnis. Der ist einverstanden, nur gesund solle er sie wiederbringen. 1944 nimmt Heiner seine Zukünftige schließlich ganz mit nach Hamburg zu den Schwiegereltern in spe.
Im Altonaer Standesamt heiraten die beiden acht Wochen vor Kriegsende - am 24. März 1945, dem 25. Geburtstag ihres Mannes. Anna trägt einen aus einer alten Wehrmachtsdecke genähten Mantel, ihr Mann seine Wehrmachtsuniform. "Damals gab es doch nichts." Auch keine Feier. Aber es sei ein sehr glücklicher Tag gewesen. Bereits ein dreiviertel Jahr später kommt der erste Sohn auf die Welt.
Hausbau in Etappen auf der Dradenau in Waltershof
Die Zeit bei den Schwiegereltern ist nicht leicht für Anna Möschter. Sie leben in zweieinhalb Zimmern. "Wir mussten uns zusammenraufen." Erst 1950 zieht die junge Familie in ein eigenes Heim um. Auf einem Kleingarten-Gelände auf der Dradenau in Waltershof entsteht nach und nach ihr Haus. Dafür klopft Anna Möschter rund 500 Trümmersteine aus dem Bombenkrieg sauber, etwas anderes gibt es nicht. Den Sommer über wohnen sie zunächst in einem Raum, bis der Rest des Hauses fertig ist. "Mein Mann war von Beruf Landwirt. Der war kein Maurer. Wir haben alles allein gebaut." Es sei ein schönes Haus geworden - mit großer Küche, wie in ihrem Elternhaus. In dem Haus bekommt das Paar noch vier weitere Kinder. Ihren vier Jungs und der Tochter bringt Anna Möschter vor allem eins bei: "Ehrlichkeit".
Anna Möschter eröffnet Postfiliale im Wohnzimmer
Die Beziehung zu ihrem Mann ist nicht immer einfach, er ist Einzelkind und sehr eifersüchtig. "Du bist jetzt Mein", habe er immer gemeint und will sie damals nirgendwo allein hinlassen. Doch Anna, die immer gearbeitet hat, strebt nach Eigenständigkeit. Und wie es der Zufall will, bekommt sie 1968 das Angebot, die Post auf der Dradenau zu übernehmen. "Das war ein Glücksfall." Das Möschtersche Wohnzimmer wird zum Büro, ihre Kunden bedient sie am Fenster. Sie verkauft Briefmarken, füllt Zahlscheine aus und nimmt Einzahlungen aufs Sparbuch entgegen. Viel Geld wandert bei ihr über den Tisch. Und zu Weihnachten türmen sich die Pakete bis unters Dach. "Seit '68 habe ich mein eigenes Konto bei der Postbank, das ist mein besonderer Stolz." Acht Jahre lang - bis 1976 - führt Anna Möschter die Postfiliale in ihrem Wohnhaus.
Sturmflut vernichtet das Zuhause: "Alles war kaputt"
Vor der ersten Sturmflut 1962 bleibt das Haus der Möschters noch knapp verschont. Doch die Sturmflut im Jahr 1976 erwischt ihr Haus voll. Sie verlieren alles. Anna Möschter und ihr Mann sind damals in Bayern im Urlaub und hören von der Katastrophe im Radio. Sie fahren mit dem Zug nach Hamburg zurück. Der komplette Keller steht unter Wasser. Waschmaschine, Bügelmaschine und Kühlschrank: "Zu Hause war alles kaputt." Die Familie bekommt ein bisschen Geld vom Staat: "Für das ganze Haus mit allem Drum und Dran waren das 18.000 Mark", so Möschter. Zum allem Überfluss dürfen sie nicht auf der Dradenau bleiben. Die Stadt braucht die Grundstücke. "Sie wollten uns schon zwei Jahre vorher weg haben. Nun kam es denen vielleicht ganz gut zupass, dass die Flutkatastrophe kam. Da waren sie uns billig los."
Neuanfang mitten in der Stadt am Michel
Der Abschied vom alten Zuhause mit Garten fällt Anna Möschter nicht leicht. Sie ziehen in eine Etagenwohnung mitten in die Stadt - direkt am Michel, in den dritten Stock. Das sei schlimm gewesen. Vorher hätten sie immer mit offenen Türen und Fenstern gelebt. Aber die Möschters arrangieren sich mit der neuen Wohnsituation. Anna liebt den Trompeter auf der Michaeliskirche und das Operettenhaus auf der Reeperbahn. Sie fährt mit dem Fahrrad zu ihrer neuen Stelle, der Post im Fernsehturm. Acht Jahre arbeitet sie in der "Fernseh-Post". 1984 geht sie in Rente, "da stand mein Mann oben am Fenster und hat schon gewunken." Jetzt habe er sie ganz allein für sich. Sie ist ganz für ihn da, doch der gemeinsame Ruhestand endet schon nach zwei Jahren, 1986 stirbt ihr Mann.
Ihre Kinder halten Anna Möschter jung
Obwohl Anna Möschter früh verwitwet ist, hadert sie nicht. Ihre Witwenzeit sei sehr schön gewesen. Da seien all die Enkelkinder geboren worden. Sie verbringt viel Zeit mit ihnen. Und sie schwärmt auch von ihrem Nachwuchs: "Ich habe sehr, sehr gute Kinder." Ihre vier Jungs und ihre Tochter hätten sie jung gehalten. Seit dem Tod ihres Mannes habe sie kein Weihnachtsfest allein verbracht. Die Familie sei immer für sie da, wenn sie Hilfe brauche. Und ihre Tochter sage im Gegenzug: "Mama, du warst immer für uns da." Nun würden die Kinder das gutmachen, was sie als Mutter für sie gemacht habe. Ein gutes Elternhaus sei wichtig für das ganze Leben - so viel steht für Anna Möschter fest, als sie dem NDR aus ihrem Leben erzählt. Und sie ist zufrieden mit ihrem Leben.
"Das Leben ist nur geliehen"
Anna Möschter habe nicht geahnt, dass sie so alt werde. Einen ihrer Söhne hatte sie bereits überlebt, Gerd ist 2020 gestorben. Dessen Sohn, ihr Enkel Florian, hat noch viel mit ihr unternommen - ging mit ihr ins Schmidt-Theater. Dafür brauchte sie ihren Rollator, der hielt sie mobil. Und sie lebte noch für ein Ziel: "Meine Schwiegertochter sagt: 'Wenn du 99 wirst, gehen wir zusammen zum Fischmarkt. Aale essen.'" Dazu kam es nicht mehr: Anna Möschter ist am 4. Dezember 2021 gestorben. Angst vor dem Tod habe sie nicht gehabt: Das Leben sei nur geliehen. Jeder müsse gehen. Und: "Vielleicht sehe ich meinen Mann wieder, da im Himmel." Welche Frage sie ihm dann stellen würde? "Warum bist du so früh gegangen?" Das sei doch noch so ein schönes Leben gewesen.