"Es wurde wichtig, viel Geld auszugeben"
"Das war so ein Hype, alle wollten ein neues Auto", erzählt Rüdiger Hennings. Das West-Auto wird in den Wochen zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung zum Symbol für Status, Wohlstand, Unabhängigkeit und Freiheit. Autos seien schon immer wichtig gewesen, erzählt Hennings, der nur zu gut weiß, wie viele Jahre man in der DDR vergeblich auf einen Wagen warten musste. Wie schwer es war, an Ersatzteile zu kommen. "Vor 30 Jahren war es etwas ganz Besonderes, ein Auto zu haben, auch wenn es ein ganz einfaches war. Dieses tolle Gefühl, sagen zu können: Ich habe ein Auto! Mit der Wende gab es plötzlich viel mehr Möglichkeiten und es wurde wichtig, viel Geld auszugeben." 1990 herrscht eine richtige "Goldgräberstimmung", wie Rüdiger Hennings lachend erzählt. Er erinnert sich aber auch an mehr Miteinander, mehr Bescheidenheit und die fast kindliche Freude seiner Kunden über ihr neues Auto.
Geschäft mit Gebrauchtwagen brummt
Schnell ahnt Rüdiger Hennings 1990, dass der Auto-Boom keine Eintagsfliege ist, sondern für ihn und seine Familie die Zukunft bedeuten kann. Sein Karosseriebetrieb befindet sich Ende der 1980er-Jahre im Aufbau. Für den Bauerssohn stand früh fest, dass er nicht in der Landwirtschaft arbeiten, sondern lieber schrauben will. 1990 wird ihm schnell klar, dass die Nachfrage nach Fahrzeug-Reparaturen einbricht. Hennings hat West-Verwandtschaft in Ostfriesland und Kontakte zu Partnern, die ihm damals sagen: "Wir bringen Fahrzeuge". Die Gebrauchtwagen aus dem Westen sind heiß begehrt. Hennings ist einer der ersten, der schon vor der Währungsunion im Juli 1990 welche auf dem Hof hat und verkaufen kann. Das spricht sich herum wie ein Lauffeuer. "Du, die fahren nach Hennings", heißt es, wenn spät abends ein Transporter kommt. "Und die kamen dann mit ihrem Trabi und sagten: 'Herr Hennings, den roten da oben, den möchte ich haben.' Und der nächste: 'Ich nehme den braunen Fiat!'. Keiner konnte bezahlen, keiner hatte Geld, aber sie hatten sich schon Fahrzeuge ausgesucht", erinnert sich Hennings. Die Wagen werden abgeladen, Kaufverträge geschlossen. Später dann, nach der Währungsunion, kommen die Kunden mit dem frischen West-Geld, um die Kaufsumme zu begleichen.
Neu lernen für die Marktwirtschaft
Seine Frau und er haben alle Hände voll zu tun und in Rekord-Geschwindigkeit zu lernen, erzählt Hennings: "Die ganze wirtschaftliche Seite! Einen Steuerberater brauchten wir, alles Kaufmännische war ja zum Teil neu! Die Technik war eine ganz andere!" Hennings hat anfangs kein Telefon, geschweige denn ein Fax-Gerät. Um Bestellungen schnell schriftlich aufzugeben, fährt er zum Hotel Neptun, da kann er faxen. Mit Banken verhandeln, rote Nummernschilder für Probefahrten organisieren, alles neu. Das erste Überführungsnummernschild, das in Bad Doberan überhaupt ausgegeben wird, beantragt Hennings. "Und das habe ich nach 30 Jahren noch!", erzählt er stolz. Nebenbei macht er damals noch seinen Meister, 1991 hat er den Meisterbrief im Karosserie- und Fahrzeugbauerhandwerk in der Tasche.
Überforderte Kunden
Die Geschäftspartner aus Ostfriesland schicken mit den Gebrauchtwagen auch einen KfZ-Meister und einen Mitarbeiter. Sie wohnen im Wohnwagen bei Hennings auf dem Hof und werden von seiner Frau bekocht. Denn mit seiner kleinen Werkstatt kommen sie kaum hinterher. Es muss viel abgeschleppt und repariert werden. "Also, es war zu der Zeit manchmal gefährlich, Beifahrer zu sein!", lacht Hennings. Viele Kunden seien sehr aufgeregt gewesen und vor allem den Trabant gewohnt. Der hatte viel Luft in der Lenkung und bedeutend weniger PS. Auch die Kaufentscheidung überfordert damals vielen Kunden. Hennings versucht, alle möglichen Gebrauchtmodelle heranzuschaffen: "Der eine wollte einen Volvo, der andere einen Opel, Toyota, Opel oder VW". Alles ohne Internet. Manche Kunden fahren in den Westen, schauen sich Autos an und können sich dann doch nicht entscheiden. Auf dem Rückweg halten viele dann einfach bei Hennings an: "Die sagten dann einfach, den nehmen wir jetzt, auch wenn sie eigentlich einen blauen oder ganz anderen Wagen haben wollten. Und waren dann auch zufrieden. Also, diese Freude ging ziemlich lang, aber durch dieses Überangebot hat sich vieles verändert".
"Wir müssen was unternehmen"
Der Betrieb feiert 2020 sein 30. Jubiläum. Heute ist es mühsamer, Autos zu verkaufen und früher waren die Service-Kunden sehr dankbar, wenn ihnen geholfen wurde. Heute pochten viele eher auf ihr Recht, verlangten, "was ihnen zusteht". Seine Branche sieht Rüdiger Hennings durchaus kritisch: die Zunahme des Auto-Verkehrs beispielsweise. Kein Vergleich zu früher sei das, auch wenn die Anbindung an die A20 ein Segen für sein Unternehmen war. Nie hätte Hennings gedacht, dass 30 Jahre nach der Einheit nicht allein die Corona-Pandemie die Autobranche derart ausbremst. "Es ging auch alles zu schnell, zu hoch, zu weit, zu bunt." Mehr Bescheidenheit würde er sich wünschen. Für ihn, seine Familie und sein Unternehmen in Clausdorf sei es gut gelaufen, auch wenn ihm nichts geschenkt worden sei. "Man musste was tun - heute wie damals", meint er. Damals hat er gedacht: Nach fünf Jahren würde es ruhiger werden. "Nee, nach 30 Jahren ist es immer noch unruhig, immer wieder muss ich was lernen und weiß vieles nicht. Auch nicht, was die Zukunft bringt. Aber wir wollen das meistern, dafür sind wir ja Unternehmer, wir müssen also was unternehmen!"