Pleiten, Pech und Pannen: Die Geschichte der Autobahn 20
Am 14. Dezember 2004 ist es endlich so weit: Die Autobahn 20 zwischen Lübeck und Schönberg wird für den Verkehr freigegeben. Am Tag der Deutschen Einheit hatten bereits Zehntausende das neue Teilstück der A20 besichtigt.
Am Tag der Deutschen Einheit 2004 strömen Zehntausende Menschen zur Autobahn A20 zwischen Lübeck und Schönberg. Die ersten Gäste, die schon im Morgengrauen die A20 auf dem Abschnitt in Mecklenburg-Vorpommern erkunden, sind: Nandus. Sie laufen am Tag der Deutschen Einheit 2004 über die fast fertige Fahrbahn und müssen erst mal von Polizisten verscheucht werden, um nicht mit den Besuchern des anstehenden Bürgerfests in Kontakt zu kommen.
Feier der nun auch verkehrstechnisch erfolgten Einheit
Ein kurioser Start in einen besonderen Tag: Nach 13 Jahren Planung und Bau steht die Eröffnung des knapp 25 Kilometer langen Lückenschlusses der "Ostseeautobahn" zwischen Ost und West am 14. Dezember kurz bevor. Passenderweise soll die nun auch verkehrstechnisch erfolgte Einheit hier am deutschen Nationalfeiertag schon mal en passant, also beim Gehen, Wandern, Inliner- oder Fahrradfahren zelebriert werden.
Politprominenz von beiden Seiten der früheren innerdeutschen Grenze ist zugegen: Rosemarie Wilcken, die Wismarer Bürgermeisterin, trifft auf ihren Lübecker Amtskollegen Bernd Saxe (beide SPD). "Sollten wir mal wieder eine Wiedervereinigung schaffen in Deutschland, dann wäre es gut, wenn wir die Autobahn zwischen den beiden Teilen schneller als in 15 Jahren fertig kriegen", sagt Saxe in seiner Rede.
"VDE Nr. 10" gegen Staus im hohen Norden
Die Idee zur A20 entstand schon kurz nach der Wende - als die Bundesstraßen 104 und 105 plötzlich die zentralen Ost-West-Verbindungen im Norden waren und Non-Stop-Staus die Notwendigkeit einer neuen Strecke deutlich machten. Die Planer des Bundes erhoben die künftige A20 zu einem "Verkehrsprojekt Deutsche Einheit" (VDE) und gaben ihr die Nummer 10. Im Dezember 1992 begann der Bau mit dem symbolischen ersten Spatenstich durch den damaligen Bundesverkehrsminister Günther Krause und Berndt Seite (beide CDU), damals Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, an der Anschlussstelle Wismar-West.
Protest gegen Kreuzen der Wakenitz-Niederung verzögert Bau
Ausgerechnet der Bauabschnitt, der über die frühere innerdeutsche Grenze führt, war der umstrittenste. Denn hier führt die Strecke unweigerlich durch die naturbelassene Wakenitz-Niederung mit dem gleichnamigen Fluss, der die Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern markiert und über einen besonderen Artenreichtum verfügt. Naturschützer klagten wiederholt gegen das Vorhaben, dort eine Autobahnbrücke durchzubauen. Zwei Mal musste das Bundesverwaltungsgericht entscheiden, dadurch gingen sieben Jahre Zeit ins Land, ehe die rund 300 Meter lange Brücke über der Wakenitz gebaut werden durfte.
Straßenbauer dürfen Ufer nicht betreten
Erst 2002 starten schließlich die Bauarbeiten dafür, da waren die ersten Abschnitte der A20 rund um Wismar bereits fünf Jahre fertig und für den Verkehr freigegeben. Die Wakenitz ist so streng geschützt, dass selbst die Bauarbeiter das Ufer nicht betreten dürfen. "Auf jeder Uferseite haben wir einen fünf Meter breiten Schutzbereich eingerichtet", erklärt Jens Sommerburg vom Straßenbauamt Lübeck im Oktober 2004. "Das klappt wunderbar."
Schwerlastverkehr und Urlauberkonvois auf dem Weg zur Ostsee mussten bis zur Fertigstellung der Wakenitz-Querung den Umweg über Lübeck-Schlutup und Selmsdorf nehmen, ehe sie in Schönberg auf die dort seit Mai 2000 eröffnete A20 fahren konnten. Ein langes Tingeln über die Dörfer statt der schnellen Fahrt über die Autobahn - auch sehr zum Leidwesen der Anwohner an der Bundesstraße, die pausenlos Krach vor ihren Häusern hatten.
All diese Strapazen sind an jenem Tag der Deutschen Einheit weiterhin gegeben, als zunächst - nach den Nandus - die Menschen nur ohne motorisierten Untersatz zur Besichtigung auf die Strecke dürfen. Doch ab dem 14. Dezember 2004 rollen endlich auch Autos über die Wakenitzbrücke. Mit Folgen.
2005: Erst Brüllbeton, dann Kleber, dann Blasen
Schon 2005 entpuppt sich die gerade erst freigegebene Fahrbahn auf 14 Kilometern Länge als Krachmacher, sogenannter Brüllbeton wurde hier statt üblichem leiserem Asphalt verbaut. Die Querrillen des Belags verursachen in den Ohren der Menschen einen unerträglichen Lärm. Eine Bürgerinitiative erstattet gegen Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe (SPD) Anzeige. Der Vorwurf: "Körperverletzung durch Lärm". Für etwa drei Millionen Euro wird eine neue Fahrbahndecke aufgezogen.
Dabei kommt es allerdings zu Folgeproblemen: Während die Baufirma den "Brüllbeton" gegen Asphalt austauscht, regnet es. Ein wasserlösliches Klebemittel verteilt sich auf der Fahrbahn. Über 400 Autos werden beschädigt. Die folgenden Ausbesserungen schaffen wiederum ein neues Problem: Bei Hitze wölben sich 2007 Blasen auf der Fahrbahndecke. Die Autobahn zwischen der Wakenitz und der Anschlussstelle Schönberg verwandelt sich in eine Buckelpiste. Ein Tempolimit wird angeordnet und jede Blase muss einzeln aufgebohrt werden. Mehrkosten laut ADAC: noch einmal rund 1,5 Millionen Euro.
2017: Eine Autobahn versinkt im Moor
Weitaus schlimmer kommt es ein Jahrzehnt später weiter im Osten. Dort sackt die Fahrbahn bei Tribsees zunächst leicht ab. Ende September 2017 beschleunigt sich diese Entwicklung unerwartet stark. Deshalb werden aus Sicherheitsgründen die gesamte Fahrbahn in Richtung Rostock und Anfang Oktober ein Fahrstreifen in Richtung Stettin gesperrt. Am 9. Oktober 2017 tritt ein sogenannter Grundbruch ein. Dabei bricht die Fahrbahn auf einer Länge von etwa 40 und einer Breite von 10 Metern um 2,50 Meter ein. Am 27. Oktober wird die Autobahn voll gesperrt. Erst im Juni 2023 ist die Fahrbahn wieder hergestellt.
Das Bundesverkehrsministerium hat ein Gutachten zu den Ursachen der Bau-Katastrophe vorgestellt. Das Autobahn-Debakel ist demnach auf gebrochene Trockenmörtelsäulen im Untergrund zurückzuführen. Dem Gutachten der Technischen Universität Berlin zufolge waren die ursprünglich in den Damm zur Untergrundstabilisierung eingebauten Trockenmörtel-Säulen überbeansprucht worden und hatten versagt. Verbaut wurden sogenannte CSV-Säulen (Combined soil stabilisation with vertical Columns) - ein damals in dieser Form und Dimension in moorigem Untergrund kaum erprobtes Verfahren. Die Kosten für die Sanierung der A20 betragen bislang rund 180 Millionen Euro.
Verkehrsaufkommen sinkt nach Osten hin ab
Nach der Wiederherstellung der Fahrbahndecke bei Tribsees kann der Verkehr wieder ohne Umleitungen die ganze A20 nutzen. Das Fahrzeugaufkommen ist seit 2004 ständig gestiegen. An den westlich von Rostock gelegenen Zählstellen Upahl, Satow und Warnowtal werden pro Tag rund 30.000, 33.000 beziehungsweise 40.000 Kraftfahrzeuge registriert (Stand: 2022). Hinzu kommen jeweils 3.500 bis 4.000 Fahrzeuge des sogenannten Schwerverkehrs. Nach Osten hin sinkt das Verkehrsaufkommen ab. In Jarmen und in Strasburg werden jeweils lediglich rund 15.000 Kfz und jeweils gut 2.000 Schwerverkehrsfahrzeuge gezählt.