Letzte DDR-Volkskammer: Die Demokratie lernt laufen
Im März 1990 fand die erste und letzte demokratische Wahl zur Volkskammer statt. Die Beteiligung setzte mit 93 Prozent ein Ausrufezeichen. Das überraschende Ergebnis bedeutete das Ende der DDR.
18. März 1990: Vor 30 Jahren findet in der DDR die erste demokratische, freie und zugleich letzte Volkskammerwahl statt. Gewählt wird - erstmals in der Geschichte der DDR ohne Einheitsliste - das vielleicht außergewöhnlichste Parlament aller Zeiten. "Das wichtigste war, dass die Wahl stattgefunden hat“, meint Markus Meckel, damals einer von 400 frei, direkt und geheim gewählten Abgeordneten. Der Norden der DDR stellt in dieser besonderen Volkskammer mehr als 40 Parlamentarier, die damals meist unerfahrene Politik-Neulinge sind - später aber etwa Bundespräsident, Ministerpräsident, Minister, Landrat oder Bundestagsabgeordneter werden sollen wie Joachim Gauck, Harald Ringstorff, Lorenz Caffier, Till Backhaus oder Kerstin Kassner.
Der Sozialdemokrat Markus Meckel war in den 80er-Jahren Pfarrer an der Müritz in Vipperow. Für ihn ist die Wahl vom März 1990 "das Signum der friedlichen Revolution. Wir wollten Demokratie und wir haben sie erreicht." Der Druck der Massen auf den Straßen im Herbst 1989 habe das Machtmonopol der Sozialistischen Einheitspartei gebrochen und dazu geführt, dass mit den Bürgerbewegungen am Runden Tisch verhandelt werden musste.
"Für die Einheit musste es eine demokratische DDR geben"
Ihm ist es wichtig, diesen Punkt in der Erinnerung hervorzuheben, denn fälschlicherweise werde oft angenommen, mit der Öffnung der Grenze habe der Westen die Deutsche Einheit kurzerhand organisiert. Dem war nicht so. Am Runden Tisch wurde gleich in der ersten Sitzung am 7. Dezember 1989 die Neuwahl in der DDR beschlossen, die Voraussetzungen für den Urnengang wurden in nur wenigen Wochen geschaffen.
Diese Volkskammerwahl sei ein wichtiges Zeichen für die Souveränität und auch "den aufrechten Gang" der Ostdeutschen in die Einheit gewesen, sagt Markus Meckel: "Der 18. März, die freie Wahl, ist die klare Botschaft, dass es für die Vereinigung eine demokratische DDR geben musste. Eine demokratisch gewählte Regierung und ein Parlament, die die nötigen Verhandlungen zu führen hatten. Und insofern war die klare Aufgabe, das klare Mandat bei der Wahl schon: Ihr habt die Deutsche Einheit zu verhandeln."
Wahlkampf-Hilfe aus dem Westen
Der Wahl geht ein Wahlkampf voraus, wie ihn die Bürgerinnen und Bürger der DDR noch nicht gesehen haben: Die Parteien aus dem Westen pumpen jede Menge Geld, Material und vor allem ihr im Osten prominentes Personal in den Wahlkampf. Bekannte Politiker und Köpfe der West-Parteien sind als Wahlkampfhelfer für ihre Schwester-Parteien in der DDR unterwegs. Der Historiker Ilko-Sacha Kowlczuk sagt: "Die Bürgerrechtler, die für diese freie Wahl eingetreten sind, hatten hingegen keine Strukturen, keine Zeitungen, keine Büros, kein Geld." Abgesehen von ihrer moralischen Glaubwürdigkeit hätten sie nichts in die Waagschale zu werfen gehabt.
Helmut Kohl kannte jeder - Lothar de Maizière kaum jemand
Der damalige CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl wirbt für die "Allianz für Deutschland" - so der Name des konservativen Wahl-Bündnisses aus CDU Ost, Demokratischem Aufbruch und Deutscher Sozialer Union. "Nie wieder Sozialismus" ist der Aufruf der Allianz überschrieben. Kohl verspricht im Wahlkampf Wohlstand für alle.
Markus Meckel erinnert sich an eine denkwürdige Szene aus dem Wahlkampf, als ein Ehepaar auf einer Veranstaltung Altbundeskanzler Willy Brandt anspricht, um ihm zu sagen: Normalerweise würden sie ja die Sozialdemokraten wählen, aber leider ginge es dieses Mal nicht, denn die anderen hätten das Geld. Historiker Kowalczuk sagt, die ostdeutschen Politiker hätten nur wenig Einfluss auf den Ausgang der Wahl gehabt. Helmut Kohl kannte jeder, Lothar de Maizière hingegen kaum jemand.
Überraschendes Ergebnis
Der Wahlsonntag ist damals der wärmste 18. März seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, fast überall herrschen Temperaturen von mehr als 20 Grad, viele Wähler kommen im T-Shirt. Am Ende des Tages liegt die Wahlbeteiligung bei sagenhaften 93,4 Prozent - das einzige, was laut Historiker Kowalczuk keine Überraschung ist. Verblüffend ist jedoch das schlechte Abschneiden der Sozialdemokraten. Die SPD lag in allen Umfragen weit vorn, doch am Ende wird die "Allianz für Deutschland" mit mehr als 40 Prozent der Stimmen klare Wahlsiegerin, die SPD kommt nur auf 21,9 Prozent. Die Prognosen, die sogar eine absolute Mehrheit der SPD vorhergesehen hatten, beruhten nur auf telefonischen Umfragen, doch viele DDR-Bürger hatten gar kein Telefon. Auf Vergleichszahlen konnte nicht zurückgegriffen werden, Demoskopie in der DDR: Fehlanzeige.
Plebiszit mit Langzeitwirkung
Historiker Kowalczuk sagt, die Abstimmung sei eine Art Plebiszit mit Langzeitwirkung gewesen. Besonders überraschend dabei die "heimliche Siegerin dieser Wahl": die SED-Nachfolge-Partei PDS mit immerhin 16,4 Prozent der Wählerstimmen. Eine echte Schlappe ist das Wahlergebnis für die Bürgerrechtsbewegung der DDR: Das Bündnis 90, zu dem sich die Bürgervereinigungen "Neues Forum", "Demokratie Jetzt" und die "Initiative für Frieden und Menschenrechte" zusammengeschlossen hatten, erreichen gerade einmal 2,9 Prozent. Doch diese Volkskammerwahl kennt keine Prozenthürde, so dass am Ende auch zwölf Abgeordnete vom Bündnis 90 in das neue Parlament einziehen.
Ein Parlament auf Zeit
Historiker Kowalczuk hat beobachtet, dass genau diese Abgeordneten für eine besondere Tonlage in der Volkskammer sorgen. Da sitzen plötzlich Bürgerrechtler, die weniger strategisch diskutieren, sondern vielmehr themenorientiert und basisdemokratisch. "Die Bonner staunten" über diesen ungewöhnlichen Politikstil, erzählt er.
Viel Zeit zur Eingewöhnung bleibt indes nicht. In den nur sechs Monaten ihrer Amtszeit trifft sich die letzte Volkskammer der DDR genau 38 Mal, verabschiedete mehr als 160 Gesetze. Außerdem fasst sie über 90 Beschlüsse. Unter anderem am 23. August 1990 den vielleicht wichtigsten für die Zukunft aller Menschen in der DDR: den Beschluss über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 des Grundgesetzes.
Streitpunkt deutsch-polnische Grenze
Markus Meckel ist in der letzten DDR-Regierung Minister für auswärtige Angelegenheiten und sogleich Vertreter der DDR in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zwischen DDR, BRD und den früheren Besatzungsmächten. Es gibt Konflikte und nicht immer wird mit Respekt und auf Augenhöhe verhandelt, wie er sich erinnert: "Strittig mit der Bundesregierung war, wann wir die deutsch-polnische Grenze anerkennen und wie. Kohl wollte das nicht. Der wollte diese Entscheidung verschieben. Uns war wichtig, wie das vereinte Deutschland in Zukunft in dieser Welt dasteht."
"Ein Platz in der deutschen Geschichte - bei allen Schwächen"
Nur 130 Tage lang bleibt Meckel im Amt und lacht heute: Mittlerweile würden Politikern 100 Tage Schonfrist eingeräumt. "Diese nur wenige Monate regierende Regierung hat einen Platz in der deutschen Geschichte, bei allen Schwächen, die diese Regierung wahrhaftig auch hatte", sagt Meckel rückblickend.
Die Volkskammer tagt zum letzten Mal am 2. Oktober 1990 - und bereitet den Weg zur Deutschen Einheit. Und zwar als demokratisch legitimierter, souveräner Verhandlungspartner, wie der frühere Abgeordnete Meckel betont - und so auch vom "aufrechten Gang der Ostdeutschen" erzählt.