Schweriner Grenzvertrag: Wie Stettin zu Szczecin wurde
Vor 75 Jahren ist der Schweriner Grenzvertrag unterzeichnet worden. Die deutsche Stadt Stettin - im Jahr 1945 ein Trümmerfeld - wurde zum polnischen Szczecin.
Im Frühjahr 1945 ist Stettin eine nahezu menschenleere Trümmerwüste. Zwei Drittel der Häuser sind zerstört. Die historische Altstadt und das Schloss existieren nicht mehr. Von einst 300.000 Einwohnern harren noch 6.000 in den Ruinen der pommerschen Hauptstadt aus. Die nationalsozialistischen Machthaber hatten Stettin zur Festung erklärt. Um jedes Haus, jeden Straßenzug sollte der Volkssturm kämpfen. Doch Hitlers letztes Aufgebot aus Schülern, Rentnern und Ausgemusterten kann der Roten Armee nichts entgegensetzen. Am 26. April marschieren die sowjetischen Truppen in Stettin ein. Vier Tage später weht auf dem Regierungsgebäude die polnische Flagge. Es ist der Tag, an dem sich Hitler in seinem Berliner Bunker das Leben nimmt. Und es ist der Tag, an dem das Ende Stettins als deutsche Stadt eingeläutet wird.
Eine ungewöhnliche Freundschaft
Siegmar Jonas kann sich an die Nachkriegsmonate in Stettin noch sehr gut erinnern. Er war damals fünf Jahre alt. Doch die Ereignisse haben sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Heute lebt er am Berliner Stadtrand, besucht aber seit einigen Jahren wieder regelmäßig seine alte Heimatstadt. Das Haus, in dem er aufwuchs, überstand als eines der wenigen die alliierten Bombenangriffe. Ein kleines Wunder. Der prächtige Jugendstilbau im Stettiner Zentrum weckt Wehmut bei ihm. "Wenn ich in Stettin bin, dann überkommt mich auch die Erinnerung an Not, Hunger und Kälte", sagt er. Die dunklen Gedanken werden gelindert durch eine ungewöhnliche Freundschaft. Die junge Stettinerin Monika Szymanik wohnt in dem Haus, in dem einst Siegmar Jonas lebte. Als er vor ein paar Jahren mit seiner Frau und den beiden Töchter vor dem Haus stand, sprach ihn Monika Szymanik an. Als sie seine Geschichte hörte, bat sie ihn und die Familie zu sich in die Wohnung.
Vom Instagram-Hit zum Buch-Bestseller
Wie Sigmar Jonas ist auch Monika Szymanik eine ambitionierte Hobbyfotografin. Auf ihrem Instagram-Profil postet sie beeindruckende Bilder von Stettiner Altbauten. Sie interessiert sich für die Vergangenheit ihrer Heimatstadt. Und findet überall spannende Spuren: Verblichene deutsche Inschriften, prächtige Innenhöfe, historische Fabrikgebäude. Über 8.500 Menschen folgen Monika Szymanik auf Instagram, kommentieren begeistert die Schnappschüsse. Anfang des Jahres veröffentlichte sie die besten Fotos in einem Bildband. Gerade erschien er auch auf deutsch. Siegmar Jonas schrieb das Vorwort. Die beiden haben noch mehr gemeinsam: Auch Monika Szymaniks Familie wurde 1945 vertrieben: "Mein ganze Familie kommt eigentlich aus Ostpolen, das was jetzt zur Ukraine gehört. Deshalb kann ich nachempfinden, wie die Menschen, die hier wohnten, sich gefühlt haben."
Stalins Versprechen an die Polen
Als die Deutschen den Zweiten Weltkrieg am 1. September 1939 vom Zaun brechen, nutzt Stalin die Gelegenheit. Kurz nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen, marschiert auch die Rote Armee dort ein. Nazi-Deutschland und die kommunistische Sowjetunion teilen sich das Land auf. So hatten sie es in einem Geheimabkommen, dem sogenannten Hitler-Stalin-Pakt, vereinbart. Die eroberten Gebiete will der sowjetische Diktator nach dem Weltkrieg nicht wieder hergeben. Stattdessen verspricht er den Polen Pommern und Schlesien als Entschädigung. Die Flüsse Oder und Neiße sollen die neue Grenze zwischen Deutschland und Polen sein. Auf der Konferenz von Jalta im Januar 1945 versucht Stalin, das bei den Alliierten durchzusetzen. Doch Briten und Amerikaner zögern. Sie wollen das Kriegsende abwarten. Doch spielt Stalin ein doppeltes Spiel. Besonders mit Stettin. Der kommunistischen polnischen Exilregierung in Moskau verspricht er: Die pommersche Hauptstadt wird polnisch - obwohl der größte Teil der Stadt westlich der Oder-Neiße-Linie liegt. Stalin hält Wort.
Deutscher Bürgermeister, polnischer Stadtpräsident
Kurz nach der Befreiung Stettins durch die Rote Armee kommt der polnische Bauingenieur Piotr Zaremba in die Stadt. Er soll die Übernahme organisieren. Vom sowjetischen Militärkommandeur wird er zum Stadtpräsidenten ernannt. Es ist Zaremba, der am 30. April die polnische Flagge auf dem Regierungsgebäude hissen lässt. Zielstrebig bereitet er mit seinem Team die Ankunft zehntausender Polen vor. Briten und Amerikaner intervenieren deshalb beim sowjetischen Verbündeten. "Die Sowjets spielten mit dieser Stadt", sagt der Stettiner Historiker Michał Paziewski. "Doch sie standen unter Druck. Schließlich wollten sie, dass sich die Amerikaner aus Thüringen zurückziehen." Der polnische Stadtpräsident Piotr Zaremba muss Stettin deshalb vorübergehend verlassen. Die Sowjets ernennen einen deutschen Bürgermeister. Es erweckt den Anschein, als bleibe Stettin deutsch.
Zurück in die Heimatstadt
Für die vor den Bomben geflohenen oder evakuierten Stettiner ist das ein Lichtblick. Sie schöpfen Hoffnung. Als deutsche Behörden dazu aufrufen, in die Stadt zurückzukommen, machen sich viele auf den Heimweg. Auch die Familie von Siegmar Jonas. Sie hat die letzten Kriegsmonate in einem Dorf bei Barth zugebracht. Dort lesen sie eine Bekanntmachung. "Da hieß es, dass man Stettin wieder betreten kann und Boote am Hafen warten, die die Leute nach Stettin bringen", berichtet Siegmar Jonas. Es sind aber keine richtigen Schiffe, sondern offene Lastkähne. Drei Tage dauert die Fahrt. Dichtgedrängt, unter desolaten hygienischen Bedingungen geht es entlang der Küsten von Darß, Rügen, Usedom zum Stettiner Haff. Dort treiben Leichen auf dem Wasser. Vermutlich ebenfalls Stettin-Rückkehrer, deren Kahn auf eine Mine lief. Familie Jonas hat Glück. Sie kommt wohlbehalten an. Ihre Wohnung ist zwar verwüstet, aber sie sind zu Hause. Bis zum Sommer 1945 steigt die Zahl der deutschen Einwohner deutlich an - von 6.000 auf etwa 80.000.
Von den verlorenen in die "wiedergewonnenen" Gebiete
Zugleich kommen auch immer mehr Polen. Es sind Flüchtlinge aus den Gebieten, die sich die Sowjetunion einverleibt hat. Aus dem Baltikum und den Gebieten rund um Lemberg. "Die Leute waren wochenlang unterwegs. Zu Fuß, in Viehwaggons - teilweise unter grauenhaften Bedingungen", berichtet Michał Paziewski. Ihre Ankunft wird als Inbesitznahme "wiedergewonnener Gebiete" dargestellt. Das bezieht sich auf die frühmittelalterliche slawische Besiedlung Pommerns. In einer polnischen Kinowochenschau aus dem Jahr 1945 heißt es: "Freies, noch nicht beanspruchtes Land wartet auf neue Besitzer. Vom Feind weggerissen, werden diese Länder durch den mächtigen Strom des Polentums wiedergeboren." Michał Paziewski glaubt, dass der Begriff "wiedergewonnene Gebiete" schon damals als reine Propaganda erkennbar war. "Man sprach immer nur über die so genannten 'Rückkehrer'. Dabei ist das Wort falsch. Rückkehr bedeutet Rückkehr in die Heimat. Aber die Menschen kehrten nicht in ihre Heimat zurück. Sie mussten ihre Heimat verlassen."
Ein Lampenladen als Zeitkapsel
In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft fangen die Flüchtlinge in Stettin ein neues Leben an. Einige eröffnen kleine Geschäfte. Zum Beispiel die Eltern von Lech Turkowski. In der Stettiner Innenstadt machen sie im August 1945 einen kleinen Lampenladen auf. Den gibt es bis heute. Und er sieht fast so aus wie vor 75 Jahren - als sei er durch eine Art Zeitkapsel geschützt. Vergilbte Tapeten, nachgedunkelter Stuck, unzählige historische Lampen: ein magischer Ort. An einem Schrank hängt in einem alten Bilderrahmen die Gewerbeanmeldung von Lech Turkowskis Eltern. Sie erinnert ihn an die Ungewissheit, in der seine Eltern lange lebten: "Bis Mitte der 50er-Jahre war unklar, ob Stettin polnisch oder deutsch sein wird. Stettin lag ja genau auf der festgesetzten Oder-Neiße-Linie."
Schwerin statt Potsdam
Ursache für die Unsicherheit ist das Potsdamer Abkommen. Darin einigen sich die Alliierten im August 1945 auf die von Stalin gewünschte Oder-Neiße-Linie. Sie soll die vorläufige Grenze zwischen Deutschland und Polen sein und bis zum Abschluss eines Friedensvertrages gelten. Städte wie Görlitz und Frankfurt/Oder werden nun geteilt - eine Uferseite für die Deutschen, eine für die Polen. In Stettin passiert das nicht. Ein Grund: Für die Sowjets ist die Stadt strategisch wichtig. Über den Hafen wird ein Großteil der demontierten Reparationsgüter verschifft. Weil es im Potsdamer Abkommen keine konkrete Regelung für Stettin gibt, entscheiden die Sowjets nun im Alleingang. Sie setzten den deutschen Bürgermeister ab und beordern den polnischen Stadtpräsidenten Piotr Zaremba nach Schwerin. Am 21. September unterschreiben Polen und Sowjets in der mecklenburgischen Hauptstadt ein Abkommen. Deutsche Vertreter sind nicht dabei. Durch den Schweriner Grenzvertrag wird Stettin nun endgültig polnisch - nach rund 700 Jahren.
Erneute Flucht aus der Heimat
Für die deutschen Einwohner ist das ein Problem. Sie müssen die Stadt wieder verlassen. Zum zweiten Mal. Darauf bestehen die Polen. Auch Familie Jonas ist davon betroffen. Weihnachten 1945 verbringen sie noch hungernd und frierend in ihrer Stettiner Wohnung. "Und da haben dann meine Eltern den Entschluss gefasst diese Stadt tatsächlich zu verlassen. Und mit mehreren Versuchen ist das letztendlich dann auch gelungen", erinnert sich Siegmar Jonas. Durch das winterliche Stettin läuft er zusammen mit Schwester und Vater zu einem Güterbahnhof vor der Stadt. Mit etwas Glück besteigen sie einen Zug Richtung Pasewalk. Von dort geht es zu Verwandten nach Berlin. Ein paar Tage später holt sein Vater die Mutter nach.
Ausreiseverbot für Spezialisten
Es gibt aber auch Deutsche, die Stettin nicht verlassen dürfen. Das sind vor allem Facharbeiter auf den Werften, aus dem Hafen, dem Gas- und Wasserwerk. Im Mietshaus, in dem der Historiker Michał Paziewski aufwuchs, lebte bis 1959 ein deutsches Ehepaar. Der Mann galt in den ehemaligen Stoewer-Werken als unabkömmlich. Michał Paziewski hat gute Erinnerungen: "Meine Mutter arbeitete von morgens bis abends, und diese deutsche Frau, die ihren Sohn in der Schlacht von Stalingrad verloren hatte, kümmerte sich um mich. Sie brachte mich in den Park, in die Kirche."
Vom "Steinbruch" zur wiederaufgebauten Stadt
Trotz des Schweriner Vertrages vom September 1945 bleibt die Stettiner Situation lange Zeit fragil. Nur zögerlich bauen die Polen die Stadt wieder auf. Zunächst dient sie vor allem als "Steinbruch" für den Wiederaufbau Warschaus. Die Hauptstadt war von den Deutschen rücksichtslos und brutal zerstört worden. Viele Millionen Ziegelsteine, geborgen aus den Trümmern, werden weggeschafft. Bei den Neu-Stettinern entsteht der Eindruck, sie seien ihrem Schicksal selbst überlassen. Fernab der historischen polnischen Gebieten fühlen sie sich an den Rand gedrängt. Stettin gilt als "Stadt der Magnolien und Ruinen". Ein Gefühl von Heimat sei erst spät entstanden, sagt Michał Paziewski. "Lange - nicht nur in den 50er- und 60er-Jahren - sagten die Stettiner, wenn sie nach Posen, Warschau oder in andere Städte fuhren: Ich fahre nach Polen. Es war, als fühlten sie sich nicht zu Hause. Zugleich hatten sie aber auch Angst, dass die Deutschen zurückkommen."
Deutsche Vergangenheit, polnische Gegenwart
75 Jahre nach dem Schweriner Vertrag und 30 Jahre nach der Deutschen Einheit ist diese Furcht in Stettin nicht mehr vorhanden. Deutsche und Polen reden heute weitgehend angstfrei und offen über das schwierigen Kapitel der Stadtgeschichte. "Darüber müssen wir sprechen", sagt Monika Szymanik. Schließlich sei Stettin eine Stadt mit reicher deutscher Vergangenheit und ebenso reicher polnischer Gegenwart. Sie ist sicher: "Vor allem die älteren Menschen, die hier in Stettin wohnen, möchten das jetzt auch erzählen." Gerade übersetzt sie die Erinnerungen von Siegmar Jonas' Schwester. Die Memoiren will sie zusammen mit neuen Instagram-Fotos veröffentlichen. Monika Szymanik hofft auf ähnliche Reaktionen wie auf ihren Bildband, der in Stettin für Furore sorgt. Erst vor kurzem meldete sich eine ältere Dame bei ihr. Unter Tränen habe die betagte Frau erzählt, dass sie einst eine Deutsche, die in Stettin geblieben war, bis zu deren Tod pflegte. Es sei sehr bewegend gewesen, sagt Monika Szymanik.