Mythos Stunde Null: Die Literatur nach 1945
Am 8. Mai vor 75 Jahren ging mit der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende. Deutschland lag in Trümmern, materiell, geistig. Das betraf auch die Literatur. Viele bedeutende Autoren waren emigriert, man hatte sie um Arbeitsmöglichkeiten, um ihr Hab und Gut gebracht, vertrieben. Andere wurden aufgrund Herkunft oder politischer Überzeugung ermordet. Nach dem Krieg konnte, scheinbar, alles neu beginnen. Doch was ist dran an der Rede von der Stunde Null, die zuerst für die Literatur in Gebrauch kam?
"Wir sind die Generation ohne Bindung und ohne Tiefe. Unsere Tiefe ist Abgrund", schrieb Wolfgang Borchert, der heimgekehrte Soldat, verwundet an Körper und Seele. Wer in Hamburg an der Alster spazieren geht, findet, nicht weit vom Literaturhaus, diese Worte von 1947 in Stein gemeißelt.
Im selben Jahr sendete der Nordwestdeutsche Rundfunk Borcherts Drama "Draußen vor der Tür", die Hamburger Kammerspiele brachten es auf die Bretter, am Tag nach Borcherts Tod.
"Trümmerliteratur": Junge Männer unter dem Eindruck des Kriegs machten den Kahlschlag zu Dichtung. Aufs Skelett abgemagerter Stil. Günter Eich im Gedicht "Inventur":
„Im Brotbeutel sind
Ein Paar wollene Socken
Und einiges, was ich
Niemand verrate.
[…]
Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten.
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.“
Günter Eich
"Also, Günter Eich hat tatsächlich eine Kahlschlagphase gehabt", sagt der Literaturwissenschaftler Volker Wehdeking und ergänzt: "In der 'Latrine' zum Beispiel reimte er 'Hölderlin' auf 'Urin' und zeigte diese Lagerzustände, in denen die schöne Literatur und der Überbau der Hochliteratur plötzlich dahin waren."
Viele kämpften um ihre Position
War das also die Stunde Null? Volker Wehdeking meint: "In der Literatur kann man schon von einer relativen Stunde Null unter bestimmten Voraussetzungen sprechen, die zum Beispiel bedeuten, dass der Literaturmarkt der ersten zwei Jahre so darniederlag, dass unter den alliierten Besatzern auch weiter Papierzuteilung und dergleichen galt."
Aber die Menschen? Die Besten: gegangen, vertrieben; große Exilliteraten. Die innerlich emigriert waren oder mitgetan hatten, kämpften um ihre Position. Thomas Mann, der aus dem Exil den Deutschen ins Gewissen geredet hatte und 1947 mit dem "Doktor Faustus" ein Meisterstück deutscher Selbst- und Kunstbefragung vollendete, wurde angefeindet. Wolkig beschwor man höhere Mächte, klagte das Schicksal an.
"Diese Autoren, die alle zwischen 50 und 70 Jahre alt waren, beherrschten nach 1945 das Feld", findet der Literaturkritiker Helmut Böttiger und fügt hinzu: "Von daher: Da gibt es überhaupt keine Stunde Null. Was man im Nachhinein sagen könnte, ist, dass die jungen Autoren, die sich dann bei der Gruppe 47 sammelten, für sich proklamierten, einen Neuanfang zu machen."
Als die Zeitschrift "Der Ruf" verboten wurde
Die Gruppe 47 wurde von den jungen Publizisten vom "Ruf" gegründet, die anderes im Sinn hatten als "reine" Literatur. Böttiger: "'Der Ruf' war eine politische Zeitschrift für die deutsche Jugend […] Es gab da die Parole eines dritten Wegs, eines sozialistischen Wegs für ein neutrales Deutschland."
Das schätzte die amerikanische Militärbehörde nicht. Die Herausgeber Alfred Andersch und Hans Werner Richter wurden entlassen, "Der Ruf" verboten. Richter initiierte die Gruppe 47, die 20 Jahre blieb; eine Art literarisches Selbstfindungs-Diskussionsforum, in dem etwas Vergessenes, Unterdrücktes neu gelernt wurde: Kritik.
"Das ist vielleicht die größte Leistung der Gruppe 47 gewesen", so Böttiger. "Kritik kannte man in Deutschland nicht. Und diese Dimension der Kritik als demokratischer Erkenntnisprozess hat in den 60er-Jahren dann tatsächlich zur Demokratisierung der Gesellschaft sehr beigetragen."
Und der reichen Nachkriegsliteratur den Weg zu ebnen geholfen. Hinter den klingenden Namen der Epoche - Wolfgang Koeppen, Ilse Aichinger, Uwe Johnson, Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Christa Wolf - stecken freilich zwei deutsche Geschichten und sowieso tausend Geschichten. Schon 1949, zum 200. Geburtstag Goethes, wurde zwischen Ost und West ums gemeinsame Erbe gestritten.
Zehn Jahre später machte man sich in der DDR auf den "Bitterfelder Weg", gegen die "Entfremdung zwischen Künstler und Volk". Die Wende überstrahlende Größen wie Günter Grass oder Martin Walser erwiesen sich spät als kompromittiert oder provozierten mit Äußerungen zum Umgang mit deutscher Vergangenheit. Doch das sind schon andere Kapitel jener vertrackten Geschichte namens Stunde Null.