DRK-Suchdienst: Die Experten für Schicksalsfragen
Seit 1945 hilft das Deutsche Rote Kreuz bei der Suche nach Vermissten etwa aus dem Zweiten Weltkrieg. Weiterhin ist das Schicksal vieler ungewiss. Aber noch immer werden Fälle aufgeklärt.
Kirsten Bollin ist Herrin über 50 Millionen Karteikarten. In vier verwinkelten Kellerräumen eines früheren Kaufhauses im Hamburger Schanzenviertel stehen die Karteikästen dicht an dicht in den Regalen. Jeder Zettel, der hier aufbewahrt ist, steht für das Schicksal eines Vermissten aus dem Zweiten Weltkrieg. Zusammengetragen hat sie der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Bollin leitet den Standort Hamburg. Seit 1945 unterstützt das DRK Angehörige bei ihrer Suche nach verschollenen Verwandten. In unzähligen Fällen konnte den Familien geholfen werden. Aber bis heute ist das Schicksal von 1,3 Millionen erfassten Personen ungewiss. Und so geht die Arbeit weiter - auch Jahrzehnte nach dem Kriegsende.
Start in Flensburg
Die Geschichte des DRK-Suchdienstes beginnt in der größten Not - in Norddeutschland. Es sind die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges. Zwei aus dem Krieg zurückgekehrte Offiziere, der Mathematiker Kurt Wagner und der später renommierte Soziologie-Professor Helmut Schelsky, sehen in den Lagern, wie Tausende nach Angehörigen suchten. Mit Listen und Karteikarten versuchen sie, Abhilfe zu schaffen. Auf ihr Engagement hin wird im Mai 1945 in Flensburg die erste Zentrale Suchkartei gegründet, die vier Monate später mit der zentralen Suchdienst-Stelle in Hamburg zusammengelegt wird. Es gibt viel zu tun. Im September 1946 kümmern sich allein am Hamburger Standort 500 Mitarbeiter um die Suchanträge. Von 1945 bis 1950 gehen bundesweit 14 Millionen Anfragen ein.
Die Namen der Vermissten im Radio
Unzählige ehrenamtliche Helfer sammeln in den Nachkriegsjahren Daten und befragen Kriegsheimkehrer. Das DRK druckt Plakate und schaltet Anzeigen, in den Kino-"Wochenschauen" gibt es Suchmeldungen. Eine besondere Rolle übernimmt das Radio: Seit Ende 1945 senden die Rundfunkstationen in Deutschland Suchmeldungen - oft direkt in Zusammenarbeit mit dem DRK, das den Sendern die Listen mit den Namen der Vermissten zur Verfügung stellt.
Und vom Mai 1948 an unterstützen die Rundfunk-Verantwortlichen den DRK-Suchdienst in Hamburg, indem sie täglich um 17 Uhr zehn Minuten lang "Suchmeldungen für heimatlose Heimkehrer" ausstrahlten. "Wenn alle internen Möglichkeiten des Suchdienstes erschöpft sind, werden die Namen der heimatlosen Ostheimkehrer dem Rundfunk übergeben", meldet der Hamburger Sender und bilanziert im August 1948 eine über 50-prozentige Erfolgsquote: Von 2.148 verlesenen Suchanträgen konnten 1.088 Heimkehrer "dank dieser Rundfunkdurchsagen mit ihren Angehörigen wieder in Verbindung gebracht werden".
Kindersuchdienst ist eine Erfolgsgeschichte
Eine ganz besondere Aufgabe ist über Jahrzehnte hinweg der Kindersuchdienst. Denn unzählige Kinder sind in den Wirren der letzten Kriegswochen - beispielsweise auf der Flucht - von ihren Eltern getrennt worden. Tausende kleine Mädchen und Jungen können nicht einmal ihren Namen sagen - geschweige denn, wie ihre Eltern heißen oder woher sie stammen. So können besondere Merkmale wie eine kleine Narbe oder abstehende Ohren darüber entscheiden, ob Eltern ihr Kind wiederfinden. Mitunter kommt es aber auch vor, dass mehrere Eltern behaupten, dass das aufgefundene Kind ihres sei. "Das ist eine ganz schwierige Angelegenheit gewesen", sagt Christoph Raneberg vom DRK-Suchdienst. Denn Blutgruppen-Tests habe es erst später gegeben - und an DNA-Test sei noch nicht zu denken gewesen. Aber mit detektivischer Energie sei es am Ende stets gelungen, die wahren Angehörigen zu ermitteln.
Insgesamt konnten mithilfe des DRK-Kindersuchdienstes rund 300.000 Kinder an ihre Eltern oder nahe Verwandte übergeben werden. Weniger als 5.000 Fälle sind bis heute ungeklärt.
Wertvolle Akten aus russischen Archiven
Auch Jahrzehnte nach Kriegsende gibt der DRK seine Suche nach den Vermissten nicht auf. Mit dem Ende der Sowjetunion sind seit den frühen 90er-Jahren neue russische Archive erschlossen worden. Meist geht es darum, die Sterbedaten und den Begräbnisort der Vermissten zu ermitteln. In rund 250.000 Fällen gelang dies seitdem. Bis heute sind die Suchdienst-Mitarbeiter dabei, die russischen Aktenbestände aufzuarbeiten. In der Zukunft könnten noch weitere Akten aus Russland oder aus osteuropäischen Ländern hinzukommen.
Immer noch neue Suchanträge
Das Interesse am Schicksal von vermissten Familienangehörigen ist nach wie vor groß. Es gehen auch immer noch neue Anträge ein: Im Jahr 2014 nahm der DRK-Suchdienst etwa 2.500 vermisste Personen in seine Zentrale Namenskartei auf, die bislang nicht erfasst waren. "Mit Blick auf die russischen Akten ist es wichtig, dass uns die Angehörigen den Vornamen des Vaters nennen können - also des Vaters der vermissten Person", sagt Suchdienst-Experte Raneberg. "Denn die Russen haben meist kein genaues Geburtsdatum in ihren Akten vermerkt - sondern neben dem Namen nur das Geburtsjahr und eben den Vornamen des Vaters."
Hilfe auch nach Naturkatastrophen
Bis heute ist Hamburg neben München der wichtigste Standort des DRK-Suchdienstes. Inzwischen sind neue Aufgaben hinzugekommen. So hilft der Suchdienst auch Flüchtlingen aus heutigen Krisengebieten - wie etwa Afghanistan und Syrien - auf der Suche nach ihren Angehörigen. Nur, dass die Suche heute nicht mehr über Karteikarten läuft, sondern mit Fotodatenbanken im Internet. Auch nach Naturkatastrophen wenden sich verzweifelte Menschen an das Deutsche Rote Kreuz. So sind nach dem verheerenden Erdbeben von Nepal im April bislang 35 Suchanfragen eingegangen. "Ungewissheit über das Schicksal eines geliebten Angehörigen ist genauso schwer zu ertragen wie physisches Leid", sagte DRK-Präsident Rudolf Seiters am Montag in Hamburg. Das gilt sicher für 1945 genau so wie für 2015.