VIDEO: 2023: Überlebende und Angehörige gedenken der Opfer in Bergen-Belsen (2 Min)

KZ Bergen-Belsen 1945: "Nichts als Leichen, Leichen, Leichen"

Stand: 15.04.2024 11:25 Uhr

Am 15. April 1945 befreien britische Truppen das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Rund 120.000 Menschen wurden unter der NS-Herrschaft in die Lüneburger Heide deportiert, mehr als 52.000 starben.

von Britta Probol

Richard Dimbleby berichtet während des Zweiten Weltkriegs für die BBC von der Front. Mit seinen "War Reports" hat er den Radiohörern daheim das Geschehen an Schauplätzen wie Afrika, der Normandie oder von Bord der Kampfbombern der Royal Air Force nahe gebracht. Am 17. April 1945 begleitet er britische Soldaten in ein Konzentrationslager, das sie zwei Tage zuvor befreit haben: Bergen-Belsen.

"Tag in Belsen war der schrecklichste in meinem Leben"

Dimbleby ist ein geschätzter und routinierter Kriegsreporter, doch seinen Bericht aus dem Lager kassiert die BBC zunächst ein. Für die Sendeleitung klingen die Beschreibungen zu unglaublich, schlichtweg unglaubwürdig. Erst mit 24 Stunden Verzögerung - Dimbleby hat inzwischen seine Kündigung angedroht - läuft der Report. Jenseits des Ärmelkanals wird er zu einem der berühmtesten in der Rundfunkgeschichte. Der letzte Satz bleibt haften im Ohr: "Dieser Tag in Belsen", so Dimbleby, "war der schrecklichste in meinem Leben."

Bilder aus dem KZ Bergen-Belsen schockieren die Welt

Der Name Bergen-Belsen soll in der britischen Holocaust-Wahrnehmung für lange Zeit weit vor Auschwitz rangieren. Denn das Konzentrationslager in Niedersachsen ist das einzige, das von britischen Truppen befreit wurde. Und es ist eines der wenigen, das die SS nicht zuvor geräumt hatte. Was das Grauen von Bergen-Belsen noch heute so gegenwärtig macht, sind die Bilder und Tondokumente aus dem völlig überfüllten und verwahrlosten Lager, die britische Fotografen und Kamerateams nach der Befreiung eingefangen haben. Bilder von ausgemergelten Menschen in zerlumpter Häftlingskleidung, von lebenden Skeletten mit leerem Blick und von Leichen, nackt im Staub liegend oder zu Halden aufgestapelt - Bilder, die die Weltöffentlichkeit schockieren.

Multimedia-Doku
Adolf Haas in der Mitte einer Gruppe. © Kreismuseum Wewelsburg

Storytelling: Vom Bäcker zum KZ-Kommandanten

Der erste Kommandant des KZ Bergen-Belsen war Adolf Haas. Wie wurde aus einem gelernten Bäcker aus dem Westerwald ein SS-Obersturmbannführer? Ein Visual Storytelling von NDR.de. mehr

Kampflose Übergabe an die Briten

Am Nachmittag des 15. April 1945 erreichen britische Streitkräfte des 63. Panzerabwehrregiments unter Oberst Taylor das Konzentrationslager in der Südheide. Vorausgegangen ist ein lokales Waffenstillstandsabkommen, eingefädelt auf Anordnung des Reichsführers SS Heinrich Himmler, ein bis dato einmaliges Ereignis im Kriegsverlauf. Eine Zone von 48 Quadratkilometern rund um das KZ wurde neutralisiert und die SS zog vereinbarungsgemäß drei Viertel des Personals ab. Rund 250 Wachleute machten sich unbehelligt aus dem Staub, nur etwa 50 Mann aus der Verwaltung und 30 Aufseherinnen blieben zurück, darunter der Lagerkommandant SS-Hauptsturmführer Josef Kramer. Sein vormaliger Wirkungsbereich war Auschwitz-Birkenau gewesen. Deutsche Infanterie und ein ungarisches Regiment ersetzten - mit weißen Armbinden versehen - die SS-Wachmannschaften. Laut dem Abkommen sollten diese Soldaten nach der Übergabe frei zu den deutschen Linien abziehen.

Unklar bleibt, was Himmler zum Befehl der kampflosen Übergabe bewogen hat. Doch eine maßgebliche Rolle spielte offenbar die Seuchengefahr. Unter den entkräfteten Lagerinsassen grassieren Ruhr, Bauchtyphus und Tuberkulose. Vor allem wütet seit rund zwei Monaten eine Fleckfieberepidemie, die täglich mehr Opfer fordert. Dadurch ist offenbar weder an eine Verteidigung noch an eine Räumung des Lagers zu denken.

Weitere Informationen
Gedenkstein an die Opfer des Holocaust auf dem Jüdischen Friedhof in Rostock. © picture-alliance/ dpa/dpaweb Foto: Bernd Wüstneck

Holocaust: Der Völkermord der Nazis an den Juden

Mehr als sechs Millionen Juden wurden während der NS-Zeit ermordet. Daran erinnert jedes Jahr am 27. Januar ein Gedenktag. mehr

KZ-Insassen zum Jubeln zu schwach

Als Captain Derrick Sington, Führer einer britischen Propaganda-Einheit, per Lautsprecherwagen im Lager dessen Übernahme durch die Engländer verkündet, ist er zunächst auf Jubel eingestellt und nicht auf "die nur halbgläubigen Hochrufe dieser fast verlorenen Männer. Der größte Teil der am Leben gebliebenen Häftlinge", so erinnerte sich einst die Jüdin Lola Fischel, "hat die lang ersehnte Befreiung nicht vernommen." Viele sind vor Hunger apathisch oder vom täglichen Grauen abgestumpft. "Wir hatten so lange von Dreck und Tod umgeben gelebt, dass wir es kaum noch merkten", erläutert Anita Lasker-Wallfisch, die einige Monate vor Kriegsende von Auschwitz nach Bergen-Belsen kam." Für die spätere Mitbegründerin des English Chamber Orchestra, die als Cellistin des Mädchenorchesters von Auschwitz überlebte, gehörten die aufgetürmten Leichen in Bergen-Belsen "sozusagen zur Landschaft". Erst wenige Tage vor dem Eintreffen der Briten hat sie mit ihrer Schwester auf Kommando der SS Verstorbene quer durchs Lager in ein Massengrab zerren müssen.

VIDEO: Das KZ Bergen-Belsen: Rekonstruiert in 3-D (4 Min)

Das große Sterben in Belsen beginnt im Januar 1945 mit etwa 1.000 Toten, im Februar bereits 7.000, im März dann weitere 18.000. Das kleine Krematorium reicht längst nicht mehr aus, um alle Leichen zu verbrennen. Was Bergen-Belsen in den letzten Kriegsmonaten zum Inferno macht, ist die völlige Überbelegung - gepaart mit dem Zusammenbruch beziehungsweise der gewollten Vernachlässigung der Versorgungssysteme. 1943 als jüngstes KZ im Reich auf dem Gelände eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers errichtet, ist Bergen-Belsen zunächst als "Aufenthaltslager" für etwa 10.000 Juden gedacht, die Himmler gegen im Ausland gefangene Deutsche eintauschen will. Dieser Plan geht allerdings nicht auf - lediglich 357 Juden kommen durch einen Austausch frei.

Anne Frank: Aus Auschwitz nach Bergen-Belsen

Porträt des jüdischen Mädchens Anne Frank. Sie wurde 1944 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen verschleppt, wo sie im März 1945 ums Leben kam (Bild: dpa). © dpa-Bildfunk
Das jüdische Mädchen Anne Frank starb wenige Wochen vor der Befreiung des Lagers.

Die Situation im Lager verschlimmert sich ab August 1944, als Belsen um ein Zeltlager für weibliche Häftlinge erweitert wird, die aus Auschwitz-Birkenau deportiert werden. Unter ihnen ist auch Anne Frank, die nach ihrem Tode durch ihre Tagebücher weltweit bekannt wird. Ab Januar 1945 fungiert Bergen-Belsen als Auffanglager für die Evakuierung der frontnahen Konzentrationslager, es wird zum Ziel von Todesmärschen, beinahe täglich muss es weitere Transporte aufnehmen. Am Tag der Befreiung drängen sich 60.000 Häftlinge in den Zelten und Baracken.

Seiten eines Kalenders © Fotolia_80740401_Igor Negovelov
AUDIO: Anne Frank: Tagebücher aus dem Versteck (15 Min)

Hunger, Schmutz, drangvolle Enge - und Fleckfieber

Die sanitären Zustände im Lager sind zu diesem Zeitpunkt bereits katastrophal. Zusätzliche Waschräume und Latrinen für die wachsende Häftlingszahl hat die Lagerleitung nicht geschaffen, die vorhandenen funktionieren teils nicht mehr. In einem abgetrennten Lagerbereich mit fast 10.000 Insassen gibt es weder ein WC noch einen einzigen Wasserhahn. Viele Häftlinge, die mehrere Konzentrationslager durchleiden mussten und am Ende nach Bergen-Belsen kamen, nennen es rückblickend übereinstimmend "das schmutzigste aller Lager". Die ab Ende 1944 schadhafte Entlausungsstation wird nicht mehr repariert und eingeschlepptes Ungeziefer breitet sich explosionsartig aus. Mit den Läusen kommt auch das Fleckfieber. Die meisten Opfer im Lager gehen auf das Konto dieser Seuche, die unbehandelt bei geschwächten Personen häufig zum Tod führt.

Die Briten - überforderte Befreier

"Es wäre falsch zu glauben, dass alles sofort anders wurde, nachdem der erste englische Panzer ins Lager gerollt war", erinnert sich Anita Lasker-Wallfisch. Die Briten stehen bei ihrer Ankunft vor einer enormen organisatorischen und logistischen Aufgabe. Essen und Medikamente müssen beschafft, die Wasserversorgung wiederhergestellt werden. Nicht alles läuft glatt in den ersten Tagen nach der Befreiung. "Unglücklicherweise", so Captain Sington, "war die erste von den Engländern verteilte Nahrung - Zusammengekochtes, Schwarzbrot und Milchpulver - wenig geeignet für die Mägen derjenigen, die an Ruhr litten oder am Verhungern waren." Die ausgezehrten Körper benötigen Schonkost, die erst Tage später eintrifft.

Zeitzeugen-Berichte
Die Zeitzeugin und Holocaust-Überlebenden Yvonne Koch steht in der Gedenkstätte Bergen-Belsen im Landkreis Celle (Niedersachsen) vor ausgestellten Kinderhandschuhen, die sie als Kind im KZ getragen hat. © picture alliance / dpa Foto: Julian Stratenschulte

KZ Bergen-Belsen: Gestrickte Kinderhandschuhe als Mahnmal

Ausgerechnet ein Paar bunter Handschuhe erinnert in Bergen-Belsen an das Grauen des Lagers. Sie gehörten der damals zehnjährigen Yvonne Koch. mehr

Porträt der Holocaust-Überlebenden, Schriftstellerin und Malerin Ceija Stojka aus dem Jahr 2003. © picture alliance / DPA / APA / picturedesk.com

KZ Bergen-Belsen: Wie Ceija Stojka die Befreiung 1945 erlebte

Als Zwölfjährige wurde Ceija Stojka von den Briten aus dem KZ Bergen-Belsen befreit. Wie sie den Moment am 15. April 1945 erlebt hat, erzählte sie im Gespräch mit dem NDR. mehr

Das Sterben geht auch nach der Befreiung weiter

Britische Feldambulanzen evakuieren am 18. April 1945 die ersten 500 Fleckfieberkranken in ein improvisiertes Lazarett, bis Ende Mai werden alle Überlebenden in die nahe gelegenen Wehrmachtskasernen verlegt. Dennoch sterben bis Ende April rund 9.000, im Mai und Juni weitere 4.000 Lagerinsassen an den Folgen der Haft.

Insgesamt kommen im KZ Bergen-Belsen mehr als 52.000 Menschen ums Leben. Von den Baracken des Lagers bleibt keine einzige übrig. Wegen der Seuchengefahr werden sie nach ihrer Räumung sukzessive niedergerissen, die letzte am 21. Mai mit einem Flammenwerfer in Brand geschossen.

Erster Kriegsverbrecherprozess: Bergen-Belsen-Prozess in Lüneburg

Irma Grese und der ehemaliger Bergen-Belsen Lagerleiter Josef Kramer, Angeklagte 1945 im Bergen-Belsen Prozess Lüneburg. © dpa Foto: dpa
Aufseherin Irma Grese und Lagerleiter Josef Kramer wurden später zum Tode verurteilt und gehängt.

Fünf Monate nach der Befreiung beginnt unter weltweiter Anteilnahme der erste Kriegsverbrecherprozess der Siegermächte. 33 SS-Angehörige und elf Kapos - Häftlinge mit Aufsichtsfunktion - müssen sich vom 17. September 1945 an vor einem britischen Militärgericht verantworten. Hundert Journalisten reisten ins niedersächsische Lüneburg, um von der Verhandlung zu berichten. Ein "Lehrstück richtiger Justiz", befindet rückblickend Axel Eggebrecht, einer der drei akkreditierten deutschen Presseleute.

Der sogenannte Belsen-Prozess endet mit elf Todesurteilen. Am 10. Dezember 1945 werden unter anderem Lagerkommandant Josef Kramer, verrufen als "die Bestie von Belsen", sowie die berüchtigte Lageraufseherin Irma Grese in Hameln gehenkt.

Gedenkstätte Bergen-Belsen 1952 eröffnet

Auf dem Gelände des KZ in der Lüneburger Heide erinnert seit 1952 eine Gedenkstätte an die Leiden der Häftlinge - es ist die erste, die an einem Konzentrationslager entstanden und im Lauf der Jahrzehnte immer weiter ausgebaut worden ist.

Digitales Gedenken: "In Belsen ist man einfach krepiert"

Die große Gedenkveranstaltung mit Überlebenden anlässlich der 75-jährigen Befreiung wird 2020 wegen der Corona-Pandemie zunächst um ein Jahr verschoben. Mit einer deutlich kleineren Veranstaltung unter anderem mit Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) wird dennoch der Opfer gedacht. Zu den Überlebenden, die eigentlich nach Bergen-Belsen gekommen wären, gehört auch Anita Lasker-Wallfisch. "Nur wer damals hier in Belsen war, kann wirklich wissen, wovon wir Überlebenden reden, nichts als Leichen, Leichen, Leichen", so Lasker-Wallfisch in ihrem Redemanuskript. "Ich werde oft gefragt, ob es in Belsen besser war als in Auschwitz. Belsen war ganz einfach anders, Belsen war einzigartig, es war kein Vernichtungslager, hier gab es keine Gaskammern, in Belsen ist man ganz einfach krepiert."

Inzwischen können Gedenkveranstaltung wieder vor Ort stattfinden.

Weitere Informationen
Anita Lasker-Wallfisch © dpa Foto: Nicolas Armer

Lasker-Wallfisch: "Es ist leicht, nach rechts zu gehen"

Anita Lasker-Wallfisch hat die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt. Das Cello war ihr Lebensretter. mehr

Menschen stehen an einem Zaun im Konzenrationslager Bergen-Belsen. © Imperial War Museum

Bergen-Belsen: Befreiung eines KZ - in Echtzeit

Am 15. April 2020 jährte sich die Befreiung des KZ Bergen-Belsen zum 75. Mal. Die damaligen Geschehnisse rund um das Eintreffen der Briten hat NDR.de in einem Echtzeit-Ticker nacherzählt. mehr

Jüdisches Denkmal, Obelisk und Inschriftenwand im Freigelände der Gedenkstätte Bergen-Belsen © Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Foto: Juliane Hummel

Todesmärsche ins KZ Bergen-Belsen

Zum Kriegsende räumen die Nazis ihre Konzentrationslager. Sie schicken die Häftlinge auf sogenannte Todesmärsche. Albrecht Weinberg überlebt den Marsch nach Bergen-Belsen. mehr

Ein Porträtbild in Schwarz-Weiß zeigt Anne Frank beim Schreiben. © IFTN UnitedArchives 06039

Anne Frank: Das Vermächtnis eines Holocaust-Opfers

Sie starb im KZ Bergen-Belsen und wurde durch ihr Tagebuch berühmt. Der Anne-Frank-Tag an ihrem Geburtstag setzt ein Signal gegen Antisemitismus. mehr

Ausschnitt der Europa-Karte vom 1. Mai 1945 aus dem "Atlas of the World Battle Fronts in Semimonthly Phases" des United States War Department, 1945, der die Gebietslage in zweiwöchigen Abständen dokumentiert. © This image is a work of a U.S. Army soldier or employee, taken or made as part of that person's official duties. As a work of the U.S. federal government, the image is in the public domain. Foto: United States War Department, General Staff 1945

Chronik des Kriegsendes im Norden

Im Frühjahr 1945 ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Wie verliefen die letzten Kriegsmonate? Welche überregionalen Ereignisse waren relevant? mehr

Wehrmachtssoldaten ergeben sich 1945 und halten weiße Tücher hoch. © picture alliance/akg-images Foto: akg-images

Dossier: Wie der Zweite Weltkrieg im Norden endete

Am 8. Mai 1945 kapituliert die deutsche Wehrmacht. Viele Städte und Lager sind von den Alliierten da bereits befreit worden. mehr

In geöffneten Händen liegt ein Judenstern aus Stoff. © Colourbox Foto: nito

Zwischen Grauen und Rettung: Holocaust-Überlebende im Porträt

Sie haben einst das Grauen des NS-Regimes überlebt. Mit ihren Erzählungen hinterlassen sie ihr schweres Erbe der Nachwelt für die Zukunft. mehr

Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 16.04.2023 | 19:30 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

NS-Zeit

Zweiter Weltkrieg

Mehr Geschichte

Annemarie und Walter Kutter © Annemarie und Walter Kutter privat Foto: privat

"Eine Jahrhundertliebe": Das Geheimnis einer langen Liebe

Das NDR Fernsehen hat zwei Filme über die Liebe älterer Menschen gedreht. Sie sind online und in der ARD-Mediathek zu finden. mehr

Norddeutsche Geschichte