KZ Bergen-Belsen: Gestrickte Kinderhandschuhe als Mahnmal
Ausgerechnet ein Paar bunter Handschuhe erinnert in Bergen-Belsen an das Grauen des Konzentrationslagers. Sie gehörten der damals zehnjährigen Yvonne, die am 15. April 1945 von britischen Truppen befreit wurde.
Nur knapp zehn Jahre alt ist Yvonne Palakova (später: Koch), als sie im kalten November 1944 in einem Viehwaggon von der Slowakei nach Bergen-Belsen (Landkreis Celle) deportiert wird. Ganze alleine. Ohne ihre Eltern. Wie durch ein Wunder überlebt sie den strengen Winter 1944/45 sich selbst überlassen im Lager.
Doch gesprochen hat sie über das Grauen in Bergen-Belsen zunächst nicht. Nicht mit ihren Eltern, nicht mit ihren Freunden, nicht mit ihrem eigenen Kind. Erst im Alter von 75 Jahren fängt sie an, das dunkelste Kapitel ihres Lebens aufzuschreiben. 2012 wird ein Buch unter dem Titel "Ein paar Handschuhe. Die Lebensgeschichte von Yvonne Koch" veröffentlicht. Sie beginnt auch über ihre Erlebnisse zu sprechen. Denn sie merkt, wie wichtig es für die nachfolgenden Generationen ist, über diese Zeit zu erfahren. Und am besten von jemanden, der wirklich dabei gewesen ist. Sie selbst sagt damals: "Anne Frank ist wohl im Februar 1945 in Bergen-Belsen gestorben. Ich kann das, was sie nicht mehr aufschreiben konnte, jetzt erzählen."
Versteck im Klosterinternat wird verraten
Ihre Eltern stammten aus jüdischen Familien, glaubten aber, als getaufte Christen vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten geschützt zu sein. Sie versteckten ihre Tochter in einem Klosterinternat, weil sie dachten, dort sei sie sicherer. Doch das Versteck wurde verraten und Yvonne kam alleine ins Lager nach Bergen-Belsen. Sie kannte niemanden und hatte keine Ahnung, was nun mit ihr passiert, wie sie erzählt. "Ich wusste wirklich nichts, ich hab immer nur gewartet, dass meine Eltern kommen und dass sie mich rausholen. Ich wusste nicht, warum ich dort bin."
"Jeden Tag mehr Leichen"
Der Horror in Bergen-Belsen wird erschreckend lebendig, wenn sie berichtet, dass jeden Tag mehr Leichen auf dem Gelände lagen, weil man diese schon nicht mehr beerdigen konnte. "Meine Mutter hat schwarze Haare gehabt und ich bin durch das Gelände gelaufen, habe zwischen den Leichen meine Mutter gesucht und immer wieder die schwarzen Haare." Sie sei unglücklich gewesen, als sie sie nicht finden konnte. "Ich hätte auch eine tote Mutter haben wollen. Hauptsache, ich finde sie."
Bunte Handschuhe aus Decken
Solidarität und Mitgefühl erfährt sie nicht. Ganz im Gegenteil: Die Älteren nahmen ihr die ohnehin schon knappen Essensrationen weg. Nur eine russische Frau ist anders und überrascht sie eines Tages sogar mit einem kleinen, aber immens wertvollen Geschenk in dem kalten Winter: selbstgestrickte bunte Kinderhandschuhe. Die hatte sie aus Fäden von Decken gemacht. "Die hat sie mir gegeben, weil sie wahrscheinlich gesehen hat, wie erfroren meine Hände waren", sagt Yvonne Koch. "Das war die einzige menschliche Wärme, die ich gehabt habe und die Handschuhe waren für mich wie für andere Kinder eine Puppe oder ein Teddybär."
Nach dem Lager das Wiedersehen
An den Tag der Befreiung durch die Engländer am 15. April 1945 hat Yvonne Koch keine Erinnerung. Sie liegt zu der Zeit bereits im Koma. Sie ist an Typhus erkrankt. Ein englischer Soldat entdeckt sie in einer Baracke, sieht, dass sie noch atmet und bringt sie ins Lazarett. Sie überlebt und wird wieder gesund. Zwei Monate später folgt dann das Wiedersehen mit ihren Eltern. Auch sie haben überlebt.
Sport und Studium - Tätigkeit als Medizinerin
Yvonne Koch wird später tschechoslowakische Meisterin im Schwimmsport, studiert Medizin, promoviert und forscht in den USA an einem Aids-Projekt. Von 1986 an lebt sie in Düsseldorf, hat die deutsche Staatsbürgerschaft erworben und ist mehr als 50 Jahre mit Herbert, einem Deutschen, verheiratet.
"Wer in einer Demokratie schläft, wacht in einer Diktatur auf"
Die Überlebende des Holocaust hält im hohen Alter Vorträge vor Schülerinnen und Schülern und berichtet in Gedenkveranstaltungen über ihr Schicksal und ihre Erfahrungen. Es ist ihr wichtig, mit jungen Menschen über die Vergangenheit zu reden und sie aus den geschilderten eigenen Erfahrungen Lehren für die Zukunft ziehen zu lassen. In das Gästebuch des nordrhein-westfälischen Landtags in Düsseldorf schreibt sie 2020 ein eindringliche Botschaft: "Wer in einer Demokratie schläft, wacht in einer Diktatur auf."
Yvonne Koch wird am 26. April 2021 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Sie wird damit für ihr "herausragendes Engagement als Zeitzeugin des Holocaust" gewürdigt. Am 18. Februar 2022 stirbt sie im Alter von 88 Jahren.
Die bunten Handschuhe werden in der Gedenkstätte Bergen-Belsen aufbewahrt - als Mahnung und gegen das Vergessen des Schreckens der Nazi-Herrschaft.