Wir werden wohl niemals erfahren, was sich im Inlande im "Kampf gegen das Judentum" zuträgt. Die deutschen Zeitungen schweigen sich aus, um nicht verboten zu werden; die ausländischen erfinden Greuelmärchen in maßlosen Übertreibungen. In Hamburg seien bereits 1400 Personen hingerichtet u.s.w. (...) Die Regierung bekämpft die Greuelmärchen, gibt aber zu daß einzelne Übergriffe vorgekommen seien.
Als ich die Hochbahntreppe hinaufschritt, rief ein uniformierter Nationalsozialist: "Die Juden fordern die Ermordung Hitlers" und verkaufte für zehn Pfennige Broschüren gleichen Titels. Keine Hetze genügt.
Die Bewegung schwillt lawinenartig an. Man bringt das Leben wie ein Korn zwischen Mühlsteinen hin. (...) Im Inlande sind in zahlreichen Städten jüd. Anwälte in Schutzhaft genommen. Ich sage den Meinen, sie möchten sich nicht ängstigen, wenn ich nicht heimkomme. Ich rechne mit meiner Verhaftung. (...) Ich würde Gretel und die Kinder in das Ausland schicken, aber man kann kein Geld hinüberbringen.
Das Justizministerium bereitet eine Gesetzbestimmung zur Beschränkung der jüd. Anwälte vor. Die Tage unseres Berufes sind gezählt. (...) Man hört von jüd. Selbstmorden und man fühlt das Schwert in seinem Nacken. Es wird einen harten, harten Kampf geben, und man wird die Zähne zusammenbeißen müssen, ihn zu bestehen. Das Wissen um die Meinen ist die Quelle der Kraft.
Es bestätigt sich immer mehr, daß Hamburg eine Oase ist. In Berlin ist unter den Juden eine Art Panik ausgebrochen - Angst vor einem Pogrom. Viele verlassen Deutschland unter Zurücklassung ihrer Habe. Wie wollen sie jenseits der Grenze leben? Viele wollen lieber jenseits der Grenze hungern als in Deutschland noch satt zu werden.
Es war ein blendender Frühlingstag, gegen Abend ein kurzes Gewitter. Hinterher dufteten Pflanzen und Erde - es ist, als müsste man erstaunt sein, daß die Naturgesetze noch nicht aufgehoben sind.
Die Stimmen derjenigen, die meinen, so könne es nicht mehr weitergehen, werden immer zahlreicher. Keiner hat eine klare Vorstellung davon, wie es weitergehen soll. In natinalsoz. Kreisen ist vielfach die Meinung erwachsen, die Art, wie die Judenfrage behandelt worden sei, sei die größte Dummheit, die man sich geleistet habe.
Am 25. April hat man Ernst R. und mir die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft genommen. Wir haben unseren neun Angestellten gekündigt. Wir sind bei der Auflösung unseres Lebenswerkes - und sind voller Bitterkeit und ohnmächtigem Zorn.
Wird diese Bewegung eines Tages noch aufgefangen werden? Heute deutet noch nichts darauf hin. Alles wird in diese Bewegung hineingezwungen. Schwerlich werden diejenigen, die unsere Tage nur noch als Geschichte erleben, erkennen können, wie tief der Zwang auf das Einzelleben wirkt. Das Briefgeheimnis ist aufgehoben. In jedem Brief wägt man seine Worte. Das gesprochene Wort ist eine Gefahr, hinter der das Gefängnis steht. Überall herrscht Zwang, Bewegungen anzugehören, die nicht der eigenen Überzeugung entsprechen. Ist das alles nötig, um eine Nation zu einer Erhebung zu führen?
Drei Tage Holland liegen hinter mir, mit ihnen tiefe Erschütterungen. Ich war bemüht, mich über ein Unterkommen in Holland zu unterrichten. Es ist eine ungelöste Frage geblieben. (...) Die Judenfrage ist keine jüdische Frage mehr sondern eine Frage um Deutschland. Ich leide ebensosehr als Deutscher wie als Jude.
Wir müssen sehr kämpfen, um nicht mürbe zu werden. Meine ständig erhöhten Körpertemperaturen hindern mich sehr. Der Arzt spricht von vielen Fällen solcher Art - ohne Diagnose. (...) Gretel sagt, ihr sei alles gleichgültig. Sie ist innerlich sehr matt. Wir fühlen, wie wir unser altes Deutschland verloren haben - und sind heimatlos. Wir suchen Frieden.
Man weiß von den Vielen und den Tröstlichen, deren Menschlichkeit alles das nicht gutheißt - von einem Krankenhausdirektor, der entlassen wurde, weil er bat, man möchte die Leute, die ihm eingeliefert würden, nicht so zurichten -, man weiß auch von den vielen Gleichgültigen und den Schlimmeren, die das alles mit Freude, ja mit rauschhafter Freude begrüßen und nur den Wunsch haben, das alles noch zu übersteigern. (...) Sollen wir auswandern? Wohin der Weg, wo eine Möglichkeit für Frau und Kinder? Man verliert die Staatsangehörigkeit. Sehnsucht nach innerem Frieden. Innere Unruhe Tag für Tag.
Von Tag zu Tag sind wir hin- und hergeworfen: Einmal wollen wir eine Pension und Kinderheim an der Riveria begründen, ein andermal die Vertretung einer dtsch. Firma im Ausland suchen, ein drittes Mal abwarten. Noch ist kein Entschluss gereift. Wir leben immer noch "auf dem Sprung". Das Zugehörigkeitsgefühl zur Judenheit schlechthin - sei es als Menschenmasse, sei es als Glaubensgemeinschaft - fehlt uns. So werden wir nicht "in das Judentum" zurückgestoßen, sondern in den leeren Raum.
Ein Sohn jüdischer Eltern kommt in ein Konzentrationslager. Nach einiger Zeit kommt er "tot" nach Hause. Ein SA Mann begleitet den Sarg, damit er nicht noch einmal geöffnet wird. (...) Es besteht für uns keine Möglichkeit, unseren Beruf wiederzugewinnen. Man findet nicht den Mut, in Deutschland einen anderen Beruf zu suchen. Wie schnell kann man zum zweiten Male das gleiche Schicksal dort erleben. Man findet nicht den Mut ins Ausland zu gehen. Wie leicht kann man abgewiesen werden!
Das Volk ist wieder in volle Erregung für die Wahl gebracht. (...) Ein SA Mann war an der Tür und erklärte, die Mädchen müssten heute zum Zuge antreten. Die Mädchen sind schrecklich verängstigt. Die überreichten Liedtexte, die die Mädchen erhielten, enthalten: "Verräter und Juden hatten Gewinn" und "Deutschland erwache, Juda den Tod!" Über die Straßen fahren Autos mit Hornbläsern und schreienden SA Leuten, die das Volk aufrufen. (...) Ich habe hundert verschiedene Pläne geschmiedet - immer im Ungewissen.