"Wir haben abgetrieben!": Als Frauen ihr Schweigen brachen
Am 6. Juni 1971 bekennen 374 Frauen im "Stern": "Wir haben abgetrieben!" Darunter sind Stars wie Senta Berger und Romy Schneider. Die Aktion vom 6. Juni 1971 gilt als Initialzündung der modernen Frauenbewegung in Deutschland.
Am 6. Juni 1971, einem Sonntag, platzt die mediale Bombe - auf der Titelseite des "Stern" prangt in dicken Buchstaben die Schlagzeile: "Wir haben angetrieben!". Darunter sind 28 Fotos von Frauen abgebildet. Unter ihnen sind die Schauspielerinnen Senta Berger und Romy Schneider, auch die Publizistin Carola Stern. Sie sind drei von insgesamt 374 Frauen, die in der Hamburger Wochenzeitschrift zugeben, einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen zu haben. In der Selbstbezichtigung heißt es: "Ich bin gegen den Paragrafen 218 und für Wunschkinder."
Die Forderung: Das Recht auf legale Abtreibung
Mit dem öffentlichkeitswirksamen Bekenntnis fordern allerdings nicht nur 16 prominente Akteurinnen, sondern auch Hausfrauen, Arbeiterinnen, Sekretärinnen sowie Studentinnen das Recht auf einen legalen Schwangerschaftsabbruch und ein Ende der Kriminalisierung der Abtreibung. In dem Dossier erzählen sie, wie sehr sie unter dem Gesetz leiden. "Es ging um die Liberalisierung des Paragrafen 218 und die Abschaffung der Diskriminierung der Frau; es ging gegen den Staat und die Kirche", erzählt Senta Berger in der WDR-Dokumentation "Wir haben abgetrieben - Das Ende des Schweigens".
Französinnen starten Kampagne schon früher
Im Nachbarland Frankreich sorgt eine vergleichbare Aktion im linksliberalen "Nouvel Observateur" bereits am 5. April 1971 für Schlagzeilen, weit über die Landesgrenzen hinaus. Die Schauspielerinnen Jeanne Moreau und Catherine Deneuve sowie die Schriftstellerin Simone de Beauvoir zieren das Cover des Wochenblatts und fordern: "Ich habe abgetrieben. Und ich fordere dieses Recht für jede Frau." Während in der ganzen westlichen Welt Frauen bereits auf die Barrikaden gehen, liegt Deutschland in Sachen moderner Frauenbewegung noch im Dornröschenschlaf:
Deutsche Frauen verbrennen keine Büstenhalter und Brautkleider, stürmen keine Schönheits-Konkurrenzen und emanzipationsfeindlichen Redaktionen, fordern nicht die Abschaffung der Ehe und verfassen keine Manifeste zur Vernichtung der Männer. Es gibt keine Hexen, keine Schwestern der Lilith, wie in Amerika, nicht einmal Dolle Minnas mit Witz wie in Holland, es gibt keine wütenden Pamphlete, keine kämpferische Zeitschrift. Es gibt keine Wut. Zeitschrift "Brigitte" im Mai 1971
Alice Schwarzer gilt als Initiatorin der "Stern"-Aktion
Die Journalistin Alice Schwarzer arbeitet damals als freie Korrespondentin in Paris - unter anderem für den "Stern" - und engagiert sich in der französischen Frauenbewegung. Ende April 1971 erhält sie einen Anruf von Jean Moreau, dem verantwortlichen Redakteur für den Bericht im "Nouvel Observateur". Er berichtet von einer Anfrage der Zeitschrift "Jasmin" aus Deutschland. Das Blatt des Gruner & Jahr-Verlags will die Aktion übernehmen. Doch weil offenbar kommerzielle Interessen vorrangig sind, ruft Schwarzer beim "Stern" an: "Wenn ich Ihnen rund 300 Namen liefere, darunter das obligatorische Dutzend Prominente, zieht der 'Stern' dann mit, und sind Sie bereit, das in einer politischen Form zu veröffentlichen?" Ihre Bedingung gegenüber dem damaligen "Stern"-Chefredakteur Henri Nannen: Die Aktion darf nicht nur auf einen Star reduziert sein, es muss ein kollektives Geständnis sein. Das Magazin sagt zu - und die Journalistin sammelt die Unterschriften in einer Art Schneeballsystem zusammen. Viele stammen von Freundinnen, Nachbarinnen und Kolleginnen.
Frauen erleben noch Ende der 60er Diskriminierung
Ende der 60er-Jahre erleben Frauen in Deutschland eine von gesellschaftlichen Sexualmoral-Vorstellungen und Männern dominierte Gesellschaft der Unterdrückung. Emanzipierte Frauen gelten als psychotherapeutische Fälle. Verheiratete dürfen nur mit Erlaubnis des Ehemanns arbeiten und ohne ihn kein Konto eröffnen. Es gilt als Schande, ein uneheliches Kind auf die Welt zu bringen. Die Pille bekommen allerdings nur verheiratete Frauen. Wer nicht in einer Ehe lebt, soll keusch bleiben. Die katholische Kirche will unbedingt verhindern, dass Frauen selbst über ihr Leben bestimmen. Eine Mutter soll kein Verfügungsrecht über das ungeborene Leben haben. Wer abtreibt, kann das nur illegal tun. Es gibt keine Beratung und keine soziale Indikation. Viele Frauen beenden mithilfe von Stricknadeln eine Schwangerschaft selbst, mit großer Gefahr fürs eigene Leben. Andere begeben sich in die Hände von Kurpfuschern. Es herrscht ein ständiges Gefühl der Angst. Da Frauen nicht über eine Abtreibung sprechen dürfen, fühlen sie sich einsam und allein gelassen. Mit der Aktion im "Stern" geht es darum, das Schweigen zu beenden.
Beteiligte Frauen müssen Jobverlust oder Scheidung fürchten
Die Frauen gehen mit ihrem Geständnis im "Stern", gegen ein 100 Jahre altes Gesetz verstoßen zu haben, ein großes Wagnis ein. Denn wer gegen den Paragrafen 218 verstößt, hat bis zu fünf Jahre Haft und Geldstrafen zu befürchten. Außerdem müssen die Unterzeichnerinnen mit weiteren substanziellen Konsequenzen rechnen: Jobverlust, Scheidung oder Ausschluss aus der Familie. Erst sehr viel später wird bekannt, dass Alice Schwarzer und auch andere beteiligte Frauen - darunter auch eine Nonne - nicht abgetrieben hatten, sondern nur aus Solidarität unterschrieben haben.
Strafanzeigen gegen Unterzeichnerinnen verlaufen im Sand
In Deutschland löst der "Stern"-Bericht einen Skandal aus, weil er öffentlich das Thema Schwangerschaftsabbruch thematisiert - zur damaligen Zeit ein absolutes Tabu. Die Aktion der Feministinnen ruft Abtreibungsgegner auf den Plan, vor allem Konservative und die katholische Kirche äußern sich empört. Es gibt Strafanzeigen gegen einige der Teilnehmerinnen, keine von ihnen wird jedoch verurteilt. "Eigentlich ging es beim Paragrafen 218 nur noch um Einschüchterung und Demütigung der Frauen - und der sympathisierenden Ärzte", erzählt Alice Schwarzer 2011 in der von ihr gegründeten Frauenzeitschrift "Emma". Die Aktion des "Stern" geht schließlich als Mobilisierungsschub in die Geschichte des Feminismus in Deutschland ein.
Frauenthemen geraten stärker in den Blick der Öffentlichkeit
Innerhalb weniger Wochen solidarisieren sich Zehntausende Frauen in größeren Städten, verteilen Flugblätter und sammeln Unterschriften. Es ist ein Novum, dass sich Frauen als Betroffene für die Streichung des Paragrafen 218 einsetzen. Nicht nur Studentinnen, sondern auch berufstätige Frauen, Hausfrauen und Mütter wollen sich nicht mehr von Ärzten, Richtern oder Politikern bevormunden lassen - und schließen sich dem Widerstand an. Im Laufe der Zeit entstehen immer mehr feministische Aktionsgruppen, die Demonstrationen organisieren. Auf diese Weise drängen Frauenthemen in den 70ern immer mehr ins Bewusstsein der Gesellschaft. Das weibliche Geschlecht ist bei einem Schwangerschaftsabbruch nicht mehr ganz auf ich allein gestellt. Allerdings ist die Emanzipation ein langes und steiniges Unterfangen - erst 1977 fällt zum Beispiel die gesetzliche Verpflichtung für Frauen, den Haushalt zu führen.
"Aktion 218" fordert 1971 eine Streichung des Paragrafen
In Frankfurt treffen sich im Juli 1971 Delegierte aus Aktionsgruppen etlicher deutscher Großstädte. Das übergeordnete Gremium "Aktion 218" fordert vom damaligen Bundesjustizminister Gerhard Jahn (SPD) in einem Protestschreiben, den Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Schwangerschaftsabbrüche sollen ausschließlich von Fachärzten vorgenommen werden. Die Kosten für eine Abtreibung und auch die Pille sollen die Krankenkassen übernehmen. Verhütungsmittel müssten frei zugänglich sein.
Bundestag beschließt Kompromisslösung im Juni 1976
In der Folge der gesellschaftlich kontrovers geführten Debatte beschließt die sozial-liberale Koalition eine Liberalisierung. Die Fristenlösung für eine legale Abtreibung während der ersten drei Schwangerschaftsmonate bekommt eine knappe Mehrheit. Allerdings kassiert das Bundesverfassungsgericht das Gesetz auf Antrag der Union im Januar 1975 wieder. Am 21. Juni 1976 stimmt der Bundestag für einen Kompromiss: Eine Abtreibung bleibt in jedem Stadium der Schwangerschaft gesetzeswidrig. Ausgenommen sind Fälle mit medizinischer, eugenischer, sozialer oder ethischer Indikation. In der DDR wird bereits 1972 die Fristenlösung eingeführt.
Abtreibung ist bis heute nicht liberal geregelt
In Deutschland gibt es auch heute noch keine liberale Regelung. Schwangerschaftsabbrüche sind nicht legal. Eine Abtreibung wird nur dann nicht geahndet, wenn sich Frauen an die engen Gesetzesvorgaben halten. Sie müssen einen Beratungstermin wahrnehmen, zwischen Beratung und Abbruch soll eine dreitägige Bedenkzeit liegen. Außerdem müssen Frauen die Kosten in den meisten Fällen selbst tragen. Nur in Härtefällen, bei medizinischer oder kriminologischer Indikation, übernimmt die Krankenkasse den Betrag. Mit diesen Regeln ist Deutschland eines der rückständigsten Länder in Westeuropa.
Frauenbewegung ist auch nach 50 Jahren nicht am Ziel
50 Jahre nach der ersten Aktion "Wir haben abgetrieben!" widmet sich der "Stern" in seiner Ausgabe von Anfang Juni 2021 wieder diesem Thema - unter dem gleichen Motto. Auch nach 50 Jahren Frauenbewegung lautet die Bilanz: "Wir sind weiter, aber noch nicht am Ziel." Oder wie die Gründerin und Herausgeberin des Frauenmagazins "Emma", Alice Schwarzer, es ebenfalls im aktuellen "Stern" ausdrückt: "Ich fürchte, der Kampf um das Recht auf eine selbstbestimmte Mutterschaft ist nicht nur von gestern, er wird vor allem von morgen sein."
#MeToo und #actout - "Stern"-Aktion macht Schule
Emanzipation und Gleichberechtigung sorgen auch im 21. Jahrhundert für reichlich Gesprächsstoff. Und die mutige "Stern"-Aktion von damals, das öffentliche Bekenntnis, findet in der heutigen Zeit prominente Nachahmer in anderen Medien. Mit dem Hashtag #MeToo zum Beispiel machen Aktivistinnen und Schauspielerinnen ab Oktober 2017 in den sozialen Medien auf sexuelle Belästigung und Übergriffe aufmerksam. Im Februar 2021 outen sich im "Süddeutsche Zeitung Magazin" 185 Schauspielerinnen und Schauspieler als lesbisch, schwul oder bisexuell. Auf dem Cover steht in großen Lettern: "Wir sind schon da". Mit ihrer Initiative #actout fordern die Darstellerinnen und Darsteller mehr Sichtbarkeit in Theater, Film und Fernsehen - und sie wollen eine gesellschaftliche Debatte zum Thema Diskriminierung anstoßen. Ein wütender Protest, der fast so hohe Wellen schlägt wie der Aufschrei der Feministinnen im Sommer 1971.