Feiertag für Simson: Vom DDR-Moped zum Kult-Roller
Mit knapp sechs Millionen gebauten Krafträdern war Simson der größte Zweirad-Hersteller in der DDR. 2003 kam das Aus für das Unternehmen. Heute haben die Mopeds auch im Westen Kultstatus: Die "Schwalbe" ist das meistgefahrene Retro-Moped.
Bevor Simson zum Synonym für Retro-Mopeds wurde, produzierte der spätere Zweirad-Hersteller allerdings erst einmal Waffen. Die Geschichte des Unternehmens Simson reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück: 1856 übernehmen Löb und Moses Simson ein Drittel eines Thüringer Stahlhammers und gründen in Suhl ihre Firma "Simson & Co". Die Brüder stellen ihre Waffen überwiegend für die preußische Armee, das sächsische Kriegsministerium und die Firma Krupp her. 1871 nehmen die Simsons die erste Dampfmaschine in Betrieb; 1896 baut das Unternehmen die ersten Fahrräder nach britischem Vorbild - und entwickelt sich damals zu einem der größten Zweirad-Hersteller. 1907 steigt die Familie Simson auch in den Pkw-Bau ein. Nach anfänglichen Schwierigkeiten und technischen Fehlschlägen geht das Modell Simson Supra 1911 in Serienproduktion.
Simson übersteht Weltwirtschaftskrise durch Waffenvertrag
Nach dem Ersten Weltkrieg muss das Unternehmen die Waffenproduktion aussetzen. Stattdessen liegt der Fokus auf der Automobilproduktion und der Weiterentwicklung des Supra. Zwischen 1924 und 1934 werden rund 1.500 Modelle davon gebaut, auch für den Rennsport. Mitte der 1920er-Jahre schließt die Firma einen Monopol-Vertrag mit der Reichswehr über Lieferung von Waffen ab. Durch diese Kooperation kommt Simson gut durch die Weltwirtschaftskrise. Allerdings sehen sich Arthur und Julius Simson, die das Unternehmen seinerzeit führen, wegen der staatlichen Subvention auch Anfeindungen von konkurrierenden Unternehmen ausgesetzt.
Treuhänder übernimmt Geschäfte der Simsons in den 30ern
Die staatliche Unterstützung wird den Simsons nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zum Verhängnis. Der thüringische Gauleiter Fritz Sauckel leitet ein Untersuchungsverfahren wegen Vorteilnahme ein. Obwohl der Reichsrechnungshof keine übermäßigen Gewinne feststellt, kommt es zum Schauprozess. Die Angeklagten werden wegen Mangels an Beweisen allerdings freigesprochen. Um den Familiennamen aus dem Unternehmensnamen zu entfernen, hatten die Simsons ihre Firma bereits an die "Berlin Suhler Waffen- und Fahrzeugwerke" (BSW) verpachtet. Doch die Familie verliert die Kontrolle über ihr Unternehmen, ein Treuhänder übernimmt die Geschäfte. Nach einem Revisionsverfahren mit Schuldspruch und Geldbuße verlieren Arthur und Julius Simson 1935 ihr Unternehmen, es fällt in die Hände des Gauleiters Sauckel. Die Familie flieht 1936 in die Schweiz. Ihr Vermögen fließt in die Wilhelm-Gustloff-Stiftung, eine Parteistiftung der Nazis. Noch im gleichen Jahr rollt das erste Leichtmotorrad, die "BSW 98", aus den Suhler Montagehallen.
Krafträder aus "VEB Fahrzeug- und Gerätewerk Simson Suhl"
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 firmiert der Betrieb unter dem Namen "Gustloff-Werke - Waffenwerk Suhl". Die Waffenproduktion steht jetzt wieder an erster Stelle - rund 6.000 Mitarbeiter sind an der Fertigung von Kriegswaffen wie Karabinern, Maschinengewehren und leichten Flugabwehrkanonen beteiligt. 1941 wird die zivile Produktion von Autos und Zweirädern eingestellt.
Nach Kriegsende wird der ehemalige Rüstungsbetrieb 1947 demontiert und in die russische "SAG Awtowelo" (Staatliche Aktiengesellschaft Motorrad) eingegliedert. Erste Motorräder werden gebaut, dazu gehört auch die "AWO 425". Sie wird 1951 auf der Leipziger Frühjahrsmesse vorgestellt. Die Sowjetunion übergibt das Werk 1952 schließlich an die DDR, der Volkseigene Betrieb firmiert von nun an als "VEB Fahrzeug- und Gerätewerk Simson Suhl".
Moped "SR 1" kommt 1955 auf den DDR-Markt
Im Kombinat werden neben der "AWO" zukünftig auch Kleinkrafträder gebaut. 1955 kommt das erste Moped heraus: Das "SR 1" ist mit einem Zweitakter-Motor des "VEB Büromaschinenwerk Rheinmetall" ausgestattet. Der Einsitzer schafft bis zu 45 Kilometer pro Stunde. Das motorisierte Zweirad ist der Beginn der Massenmotorisierung in der DDR. 1957 endet die Fahrradherstellung im Suhler Betrieb. Ab 1962 greift ein Beschluss, Motorräder in der DDR nur noch zentral im sächsischen Zschopau bauen zu lassen - und bedeutet das Ende der Motorrad-Produktion in Suhl. Mehr als 300.000 Fahrzeuge vom Typ "AWO 425" sind bis dahin entstanden.
"Schwalbe": Erste Modell der Vogel-Serie von Simson
Ab 1962 baut Simson in Suhl ausschließlich Mopeds, Mokicks und Roller. Und das mit Erfolg: Im September 1962 verlässt das millionste Kleinkraftrad die Montagehalle. 1964 entsteht mit dem Bau der "Schwalbe KR 51" eines der bekanntesten Kleinkrafträder der DDR. Das Nachfolgemodell der Simson "KR 50", auch "Nonnenhocker" genannt, ist das erste Modell der neuen Vogel-Serie von Simson. Der Betrieb vergibt neben der Typ-Bezeichnung, die in diesem Fall für Kleinroller und einen Hubraum von 51 Kubikmetern stehen, auch einen Vogelnamen. Neben der "Schwalbe" präsentiert Simson auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1964 noch zwei weitere Neuschöpfungen aus der Vogel-Reihe: "Spatz" und "Star".
1968 geht die "VEB Fahrzeug- und Gerätewerk Simson Suhl" und die Mopedproduktion in die "VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk Ernst Thälmann" über, amtlich oft als FAJAS abgekürzt. Anders als der Betrieb behalten die Kleinkrafträder ihre Namen.
Der "Sandmann" ist auf der "Vespa der DDR" unterwegs
Alle zwei Minuten rollt eine der schmucken "Schwalben" in Suhl vom Band, auf der zwei Personen Platz finden und die eine Reisegeschwindigkeit von bis zu 60 Kilometern pro Stunde erreicht. Die "Vespa der DDR" erlangt schnell Kultstatus und schafft es bis ins Fernsehen: Der "Sandmann" tuckert auf einer "Schwalbe" durchs abendliche Kinderprogramm. Die Erwachsenen erfreuen sich ihrerseits an einer motorisierten Filmheldin: "Schwester Agnes" rollt - im gleichnamigen DEFA-Film aus dem Jahr 1975 - in Tracht auf ihrer weißen "Schwalbe" übers Dorf zu ihren Patienten.
Simson "S 50": Das Moped für die ostdeutsche Jugend
Ein anderes bekanntes Kult-Modell von Simson ist das Mokick "S 50". Der Kickstarter mit Fußschaltung geht 1975 in den Bau und ist wegen seiner sportlichen Anmutung vor allem bei Jugendlichen beliebt. Der Nachfolger der Vogel-Serien "Star" und "Habicht" zeichnet sich durch ein gutes Fahrwerk und eine elektronische Zündanlage aus. Die "S 50" röhrt mit Tempo 60 durch die DDR, sie ist steuerfrei und darf ohne Kennzeichen benutzt werden. Pro Jahr ist lediglich ein Haftpflicht-Beitrag von etwa 8,50 DDR-Mark fällig. Mitte der 70er-Jahre besitzt jeder Achte in der DDR ein Kleinkraftrad. Im Westen ist es nur gut jeder Dreißigste. 1980 rollt die "S 50" letztmals aus der Montagehalle. Knapp 600.000 Stück sind bis dahin produziert.
1986 kommt das Aus für die "Schwalbe"
Nach insgesamt drei Baureihen und neun Modellen ist 1986 auch das Ende der "Schwalbe" besiegelt. Laut eines Firmenschildes sind bis dahin 1.176.640 Roller durch die Endfertigung gelaufen. Doch ihr Kult-Potenzial hat längst ausgedient: Die Jugend in Ostdeutschland bevorzugt schnittigere Modelle, zum Beispiel das Mokick "SR 50". Der Stadtroller fällt durch Telegabel und untypisch große 12-Zoll-Räder auf. Noch Ende der 1980er-Jahre stellen rund 4.000 Mitarbeiter im FAJAS-Kombinat jährlich knapp 200.000 Simson-Mopeds her.
2003 sind Roller und Mopeds von Simson Geschichte
Die Wende bringt auch für die "VEB Simson Suhl" große Veränderungen: Der Volkseigene Betrieb wird der Treuhandgesellschaft unterstellt. Sie privatisiert 1990 sowohl die "Simson Fahrzeug GmbH" als auch die "Jagd- und Sportwaffen GmbH". Nur ein Jahr später erfolgt die Liquidation, die Produktion endet im Dezember 1991. Zum gleichen Zeitpunkt gründen ehemalige Mitarbeiter die "Suhler Fahrzeugwerk GmbH", Anfang 1992 läuft die Produktion wieder an. Doch der Betrieb kann nicht an die früheren Erfolge anknüpfen: Neu entwickelte Modelle weisen Konstruktionsschwächen auf - und auch alte aufgewertete Typen wie die "SR 50/1" finden zu wenige Käufer. 1996 scheitern außerdem Versuche, die Vogel-Serie wieder aufleben zu lassen.
Im Jahr 2000 meldet das Unternehmen Insolvenz an. Mithilfe eines Investors läuft der Betrieb unter dem neuen Namen "Simson Motorrad GmbH & Co KG" und deutlich weniger Mitarbeitern wieder an. Fehleinschätzungen des Marktes und im Management führen erneut in die Insolvenz. Ende September 2002 wird die Fertigung endgültig eingestellt, die letzten 90 Mitarbeiter verlieren ihre Arbeit. Anfang 2003 folgt schließlich die Zwangsversteigerung des Betriebsvermögens in der Produktionsstätte.
Die Simson ist heute beliebter als Kreidler und Zündapp
Doch die Begeisterung für die "Schwalbe" und die anderen Kleinkrafträder von Simson hält auch zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Marke an. Heute haben viele Modelle Kultstatus - nicht nur in den neuen Bundesländern, längst auch im Westen. Davon zeugen die unzähligen Mopedbanden und -clubs, die sich regelmäßig zum Fahren, Schrauben und Fachsimpeln treffen. Die Simson gilt heute als meistgefahrenes Retro-Moped und hat frühere populäre West-Modelle wie Kreidler, Zündapp und Hercules in der Beliebtheit überholt.
Seit 2019 findet der bundesweite Simson-Tag statt - immer am 19. Juli, in der Hoffnung auf gutes Wetter für Spritztouren. Ins Leben gerufen haben diesen kuriosen Feiertag zwei Männer aus Schleswig-Holstein. Sie wollen, dass der Zweitakter nicht in Vergessenheit gerät.