Schlagermove: "Ein Festival der Liebe" mit viel "Hossa" seit 1997
Jedes Jahr zieht eine bunte Schlagerkarawane über die Reeperbahn auf St. Pauli und angrenzende Straßen. Hunderttausende Fans feiern regelmäßig in schrillen Outfits der 70er-Jahre mit. Der erste Schlagermove in Hamburg fand 1997 statt.
"Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben." Jürgen Marcus, 1972
Gänsehautfeeling oder Kitsch? Die einen mögen ihn, die anderen rollen mit den Augen, wenn auch nur der Name fällt: Der Schlagermove, der in Erinnerung an Jürgen Marcus auch als "Festival der Liebe" bezeichnet wird, hat sich in Hamburg etabliert. Ein kräftiges "Hossa" auf Rex Gildo darf da nicht fehlen. Jedes Jahr strömen Hunderttausende Fans auf die Straßen von St. Pauli, um in schrillen Outfits der 1970er-Jahre, mit bunten Perücken, riesigen Brillen und zum Klang von Schlagerklassikern ausgiebig zu feiern. "Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen", wie von France Gall 1968 besungen, sind gern gesehen. Zudem sind Sonnenblumen in allen Ausprägungen ein gewohntes Motiv. Dutzende Trucks fahren - ähnlich wie bei einem Karnevalsumzug - durch die Kiezstraßen: ein Stadtteil im Ausnahmezustand. Zu hören sind unter anderem die Lieder von Vicky Leandros, Jürgen Drews und Roland Kaiser, auch Wencke Myhre und Dieter Thomas Kuhn, dazu noch Andrea Berg und Helene Fischer.
Schlagermove in Hamburg: Idee wurde 1997 geboren
Aber wie kam es eigentlich zum Schlagermove in Hamburg? Schlager sind außerhalb der eigenen Fanblase lange Jahre verpönt und überhaupt nicht angesagt. Doch in den 1990er-Jahren erfahren sie ein erstaunliches Revival. Titel, einst in den 1970er-Jahren bei Dieter-Thomas Heck in der "Hitparade" im ZDF ständig wiedergewählt, werden in Kneipen gespielt, auch Schlagerpartys sind auf einmal keine Seltenheit mehr.
Doch in Hamburg geht man 1997 noch einen Schritt weiter. Schlagermove-Sprecher Axel Annink berichtet dem NDR 2024, dass in der ehemaligen Astoria Dancehall (Ecke Holstenstraße, Simon-von-Utrecht-Straße) fünf Freunde bei einer montäglichen "Bad Taste Party" den Grundgedanken des Schlagermoves entwickelt hätten. Aus einer spaßigen Idee sei der Grundgedanke einer Schlagerbewegung für Hamburg geworden. Beginnen soll es eigentlich mit nur einem Truck und den fünf Freunden. "Das hatte sich in der sehr kurzen Vorbereitungszeit von nur zehn Wochen schnell rumgesprochen, sodass bei der Premiere 1997 bereits 14 Trucks am Start waren", erzählt Annink. Diese seien am Fischmarkt aufgebaut und geschmückt worden. "Start war damals am Spielbudenplatz." Es sei das erste und zugleich letzte Mal, dass Frank Klingner auf einem Musiktruck selbst mitgefahren ist. Klingner ist bis heute Organisator des Events.
Beim ersten Mal waren "viele Menschen bereits verkleidet"
"Beim ersten Move dachten die Freunde noch, dass es parallel eine Demonstration geben müsste, weil so viele Menschen auf der Straße waren. Irgendwann merkten die Gründer, dass sehr viele bereits verkleidet waren und alle ausschließlich für die Premiere des Schlagermove in Hamburg auf der Straße waren", so Annink. Am Ende feiern rund 50.000 Menschen die Geburtsstunde des heutigen Schlagermoves. "Schon damals kam ein großer Anteil des Publikums aus der schwul-lesbischen Community, die heute noch einen bunten Anteil des sehr heterogenen Publikums zwischen 18 und 88 Jahren ausmacht", führt der Event-Sprecher weiter aus.
Von 50.000 auf bis zu 600.000 feiernde Besucher
1998 sind es bereits 200.000 Fans, die rund um die "sündige Meile" Reeperbahn nach dem Motto "Ein bisschen Spaß muss sein" feiern. Außerdem sind sogar schon einige Schlagerlegenden dabei. "Das artete plötzlich richtig in Arbeit aus. Wir mussten in kürzester Zeit professionell werden", sagt Klingner der "Welt" 2018.
In späteren Jahren seien es bis zu 600.000 Menschen gewesen, so die Veranstalter. Corona-bedingt mussten die Moves in den Jahren 2020 und 2021 ausfallen. 2022 und 2023 sind nach Veranstalterangaben jeweils etwa 400.000 Teilnehmer dabei gewesen. Gutes Wetter ist fürs schlagerkultiges Feiern natürlich immer hilfreich.
"Tanze Samba mit mir." Tony Holiday, 1978
Hamburger Schlagermove für Offenheit, Liebe und Toleranz
Im März 2001 wird die Hossa-Hossa Veranstaltungsgesellschaft mbH gegründet. Von 2004 an entstehen Schlagermove-Ableger auch in anderen Städten wie Essen, Dortmund oder Hannover. Allerdings können sich diese Veranstaltungen, mitunter Schlagerparade genannt, nicht dauerhaft etablieren. Der "echte" Schlagermove in Hamburg hat sich somit seine Exklusivität bewahren können. "Der Schlagermove Hamburg ist nicht nur deutschlandweit, sondern weltweit einmalig. Er steht seit der Gründung bis heute für Offenheit, Liebe und Toleranz", erklärt Annink.
Seit 2007 ist der Schlagermove ganzjährig mit mehreren Partys auf Tour - neben Hamburg auch in Berlin, Bremen, Duisburg, Düsseldorf, Köln, Mannheim, Minden, Norderstedt sowie am Chiemsee und an der Müritz.
Reaktion auf Kritik: Mobile Toiletten statt "Wildpinkeln"
Eine im Laufe der Zeit laut gewordene Kritik am Schlagermove ist die "Ballermannisierung" der Veranstaltung. Sie wird auf St. Pauli mitunter als laut und störend wahrgenommen und die Feiernden hinterlassen viel Müll. Auch das "Wildpinkeln" nervt viele Anwohnende. Die Politik schaltet sich ein, schreibt Auflagen vor. Auch über eine Verlegung der Route oder gar eine Absage wird über die Jahre offen nachgedacht. Die Zahl der Großevents auf dem Kiez müsse für die Bewohner des Stadtteils klein bleiben, so ist zu hören. Allerdings ist der Schlagermove auch eine Attraktion, die viele Touristen anlockt und somit eine Wirtschaftskraft darstellt.
Der Schlagermove-Veranstalter hat auf das "Wildpinkeln" inzwischen reagiert und lässt mobile Toiletten am Rand der Strecke aufstellen - rund 500 an der Zahl. Für Männer gibt es sogenannte Mobilzaunurinale und speziell für Frauen WC-Container mit Reinigungspersonal. Auf der Schlagermove-Website gibt es dazu eine extra Karte mit WC-Übersichtsplan. Der Veranstalter schreibt zudem: "Bitte respektiert, dass in St. Pauli Menschen leben, tagsüber Kinder spielen und jeder saubere und geruchsfreie Hauseingänge und Hauswände haben möchte."
Sehnsucht nach Freiheit: "Aus allen Zwängen fliehen"
Apropos Strahlkraft: Warum hat der Schlager - und auch der Schlagermove - für viele Menschen eine solche Anziehung entwickeln können? In einem Beitrag der NDR Radiokirche bezieht sich Pastor Sieghard Wilm 2022 auf ein Lied des 2014 verstorbenen Udo Jürgens:
"Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii / Ging nie durch San Francisco in zerrissenen Jeans / Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals richtig frei / Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehen." Udo Jürgens, 1982
"Die Sehnsucht nach Freiheit ist tief in jedes Herz gepflanzt", ist sich Wilm sicher. Auch wenn die Person in dem Lied am Ende dann doch zu seiner Frau nach Hause zurückkehrt, so sei dieser Befreiungsversuch keineswegs gescheitert. "Der Gute ist freiwillig zurückgekehrt ins heimische Wohnzimmer. War eben nur mal Luft schnappen, weiß aber eigentlich, wo sein Platz ist. Wo eine auf ihn wartet. Doch jetzt fühlt es sich nicht mehr wie Zwang an, sondern wie Freiheit." Einfach abzuhauen, das sei nicht so einfach. Manchmal müsse man aber "verrückte Sachen" machen, "damit der Alltag wieder nach Freiheit" schmecke, so Wilm. Und das geht offenbar auch mit dem Besuch des Schlagermoves.
Studie: Wissenschaft sollte Schlager anerkennen
Auch die Wissenschaft hat das Phänomen Schlager und seine gesellschaftliche Relevanz untersucht. In einer Studie haben Experten unter anderem Persönlichkeitsmerkmale von Schlagerfans erforscht. Die Erkenntnis dazu räumt mit einem oft zu hörenden Vorurteil auf: "Schlagerhörer*innen sind nicht dümmer, sie sind nicht emotionaler, sie neigen nicht dazu, sich stärker in andere Realitäten zu flüchten, als das Hörer*innen anderer Genres sind", stellt Musikwissenschaftler Dr. Felix Christian Thiesen 2024 fest. "Das ist etwas, das man häufig unterstellt hat - und das ist eben nicht der Fall."
"Ich find' Schlager toll." Guildo Horn, 1996
Die Musikwissenschaft müsse eine Form des Musikhörens anerkennen, die einen nicht geringen Anteil der Bevölkerung berührt, erfreut - oder aus dem Alltag flüchten lässt, so Thiesen.
Immer viel Party auf St. Pauli bis zum frühen Sonntag
Rund um die Reeperbahn wird sowieso ständig gefeiert, der Schlagermove ist eine zusätzliche große Party. An der nimmt auch die Polizei teil, mitunter tanzen die Beamtinnen und Beamten einfach mit. Vorrangig sind sie natürlich dienstlich wegen der Sicherheit und Ordnung da. In all den Jahren ist es auf dem Kiez aber meist ruhig und friedlich geblieben. Der "Welt" sagt Organisator Frank Klingner 2018, er wisse auch warum: "Man schlägt sich nun mal nicht mit einem Biene-Maja-Kostüm in die Fresse." Zur Einordnung: 2022 verzeichnet die Polizei dem NDR zufolge rund 60 Anzeigen - etwa die Hälfte davon nach Schlägereien. Eine Lage "ohne besondere Vorkommnisse", heißt es dazu.
"Griechischer Wein ist so wie das Blut der Erde. Komm', schenk dir ein!" Udo Jürgens, 1974
Schlagerfans können ausgiebig feiern. Dabei wird vor, während und nach dem samstäglichen Schlagermove das eine oder andere Gläschen oder gar Fläschchen geleert. Manch einem oder einer mag der Alkohol zu Kopf steigen, sodass ihm oder ihr die Sinne etwas vernebelt sind. Aber Cindy & Bert wussten schon 1973: "Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung."