Prager Frühling 1968: "Das lassen die Russen nicht zu"
1968 will die ČSSR innerhalb des sozialistischen Lagers eigene Wege gehen. Doch die Machtinteressen Moskaus sind andere. Brutal beenden die Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten den Versuch, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu schaffen.
"Wir waren alle sehr euphorisch. Wir haben gedacht, das wird jetzt immer besser und besser." Elena Siemov lebt heute in Hamburg und erinnert sich noch gut an die Zeit des Prager Frühlings 1968. Lange Zeit war die Tschechoslowakei eines der konservativsten sozialistischen Länder gewesen, der politische Kompass in Prag war streng nach Moskau ausgerichtet. Das Russische sei immer als das Beste angepriesen worden, erzählt sie: "Ich habe in der Schule sogar gelernt, dass der Umfang eines Euters von einer russischen Kuh zwei Meter ist."
Alexander Dubček wird Symbolfigur des Prager Frühlings
Eine desolate wirtschaftliche Lage zwingt die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KPC) Anfang der 1960er-Jahre allerdings auf Reformkurs - der dann weiter geht als in anderen sozialistischen Staaten. Im Januar 1968 wird der zum Reformflügel gehörende Alexander Dubček erster Parteisekretär der KPC, im März wird mit Ludvík Svoboda auch ein neuer Staatspräsident gewählt.
Der Versuch einer Synthese von Kommunismus und Freiheit
Elena Siemov erinnert sich, wie sich das Land damals sukzessive öffnet: Die Menschen bekommen mehr Rechte. In der Schule dürfen auch kritische Schriftsteller besprochen werden. In Prag entstehen neue Zeitungen - freie Meinungsäußerung wird möglich. Dabei geht es der Führung in Prag ausdrücklich nicht um einen Wechsel der Tschechoslowakei ins kapitalistische Lager, sondern um eine Synthese von Kommunismus und Freiheit oder einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", wie es heißt.
Noch mehr Demokratie? Moskau verschärft den Ton
Die Sowjetunion lässt Dubček und seine Leute zunächst gewähren. Als die Forderungen nach mehr Demokratie aber immer weiter gehen und es auch in Polen zu Studenten-Demonstrationen kommt, verschärft Moskau den Ton. Bei mehreren Treffen der kommunistischen "Bruderparteien" wird die KPC zur Rücknahme der Reformen aufgefordert. Die Partei muss einem Militär-Manöver auf tschechischem Territorium zustimmen, angeblich wegen der Nähe der westdeutschen Grenze. Elena Siemovs Vater, ein Arzt und Regimegegner, ist schon zu diesem Zeitpunkt skeptisch, ob der Reformkurs fortgeführt werden kann: "Schon im April, Mai hat er immer gesagt: 'Das lassen die Russen nicht zu. Die kommen. Damit müsst Ihr rechnen.'"
"Manifest der 2.000 Worte" ruft Militär auf den Plan
Der Auslöser, die Militär-Maschinerie des Warschauer Paktes dann tatsächlich in Gang zu setzen, war offenbar das von vielen Intellektuellen unterzeichnete "Manifest der 2.000 Worte". Als Ziel beschreibt es eine pluralistischen Demokratie anstelle der Dominanz der Kommunistischen Partei. Die KPC-Führung widerspricht sofort, aber in der Bevölkerung wird das Manifest begeistert aufgegriffen. Anfang August muss Dubček wie alle anderen KP-Führer in der "Erklärung von Bratislava" seine Treue zum Marxismus-Leninismus bekräftigen. Ein angeblicher Bruch der Vereinbarung durch Dubček dient dann zur Rechtfertigung des Einmarsches der Warschauer-Pakt-Truppen vom 20. auf den 21. August.
"Mit bloßen Händen kann man nicht gegen Panzer angehen"
Elena Siemov erfährt vom Einmarsch während eines Ferienaufenthalts mit Freunden durch das Radio: "Da haben wir eine ganz bekannte Dame vom Rundfunk gehört. Die hatte eine ganz weinerliche Stimme und hat richtig geschrien: 'Die Soldaten kommen! Der tschechische Rundfunk in Prag wird besetzt. Wir können wahrscheinlich nicht mehr weiter melden.'" Deutsche Radio-Korrespondenten, die in diesen Stunden Radio Prag hören, berichten von Maschinengewehr-Salven, Dubček-Rufen und der immer wieder ausgesprochenen Aufforderung, sich auf passiven Widerstand zu beschränken: "Glaubt uns: Mit bloßen Händen kann man nicht gegen Panzer angehen."
Niederschlagung des Prager Frühlings fordert 108 Tote
23 Menschen sterben an jenem 21. August, 108 kommen infolge des Einmarsches insgesamt ums Leben. Ein Kampf erscheint sinnlos angesichts einer Interventionsarmee von 400.000 Mann. Alexander Dubček wird festgenommen und muss zusammen mit anderen Führungspersönlichkeiten der KPC zusagen, dass die Reformen beendet werden. Ein "freier Rundfunk" versucht, die Bevölkerung von wechselnden Standorten aus und auf unterschiedlichen Frequenzen zunächst noch unzensiert zu informieren - bis auch er die Sendungen einstellen muss.
Jan Palach opfert sich im Protest
Am 19. Januar 1969 setzt der Student Jan Palach mit seiner Selbstverbrennung auf dem Prager Wenzelsplatz ein verzweifeltes Fanal gegen die Besetzung. Noch bis ins Frühjahr hinein kommt es zu antisowjetischen Demonstrationen. Doch im April 1969 wird Dubček endgültig entmachtet - und sein Nachfolger Gustáv Husák erstickt den Widerstandsgeist durch repressive Maßnahmen.
Weglaufen oder anpassen?
Elena Siemov beobachtet damals, wie sich die Bevölkerung wieder den Machtverhältnissen unterordnet. "Entweder sind sie weggelaufen oder sie haben sich angepasst", sagt sie. Ihre Eltern gehören zu denjenigen, die auf Distanz zum Regime bleiben. So hatten sie schon vor dem Prager Frühling gelebt. Siemov selbst flieht 1969 in den Westen, ihr späterer Mann hatte sich schon vorher dorthin abgesetzt. Aber sie versteht auch, dass andere sich schließlich anpassen, um zu überleben. "Wir waren tatsächlich so naiv, dass wir gedacht haben, dass die Welt uns nicht im Stich lässt. Man kann doch nicht zugucken, wie das bisschen Freiheit mit Füßen getreten wird", sagt sie. Doch dann habe man begriffen, dass keiner kommt und keiner hilft.