Ende des Prager Frühlings: Wie Heinz Eggert den Einmarsch erlebte

Stand: 21.08.2023 06:00 Uhr

Am 21. August 1968 zerstörte der Einmarsch von Warschauer Vertragsstaaten in der Tschechoslowakei Hoffnungen auf einen "demokratischen Sozialismus". Für den Rostocker Heinz Eggert - später Innenminister in Sachsen - bedeutete er einen radikalen Bruch in seinem Leben.

von Heiko Kreft

Sie kommen in der Nacht und walzen alles nieder. Am 21. August 1968 fallen Truppen des Warschauer Vertrages in der Tschechoslowakei ein. Sie bereiten dem Prager Frühling ein brutales Ende. Wenig später sendet der ARD "Wochenspiegel" eine Tonbandaufnahme eines Augenzeugen: "Unbekannte Truppen marschieren durch Reichenberg. Aufgebrachte Bevölkerung. Alles nervös. Kein Mensch kann fassen, was hier los ist. Bretter fliegen, Steine werden geworfen." Bald fallen in der gesamten CSSR Schüsse. Mehr als hundert Zivilisten werden getötet.

Unvergessene Nachtschicht in Warnemünde

1968: Heinz Eggert als 22-Jähriger im Jahr des Einmarsches in der CSSR © Heinz Eggert privat
Eggert im Jahr 1968: "Noch keinerlei Konflikt mit dem DDR-Staat."

Die Nachricht vom Einmarsch verbreitet sich auch in der DDR schnell. Heinz Eggert, damals 22 Jahre alt, erfährt es während seiner Nachtschicht. Der Rostocker arbeitet bei der Deutschen Reichsbahn. "Ich hatte mein Transistorradio an, was eigentlich verboten war, und hörte den Norddeutschen Rundfunk, was auch verboten war", erinnert er sich an die verstörende Nacht im Stellwerk Warnemünde. Die Berichte aus der CSSR beunruhigen ihn. "Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch keinerlei Konflikt mit dem DDR-Staat. Was mich am meisten erregte: dass mitten im Sozialismus Krieg war, dass Kommunisten auf Kommunisten schossen."

DDR-Soldaten als Teil der Invasionstruppen im Nachbarland?

Aus welchen Ländern die Invasionstruppen stammen, ist zunächst unklar. Vor allem über die Rolle der Nationalen Volksarmee der DDR herrscht Verwirrung. Der Tschechische Rundfunk wendet sich mit einem dramatischen Appell an ostdeutsche Soldaten: "Freunde, warum seid ihr zu uns gekommen? Denkt darüber nach, warum man Euch zu uns gesandt habt. Wer gab euch das Recht dazu?" Deutsche Truppen, die nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in die Tschechoslowakei einmarschieren - nicht nur Tschechen und Slowaken sind empört.

Von Schnitzler verbreitet Fake News im Fernsehen

Die Rostocker "Ostseezeitung", damals ein SED-Blatt, veröffentlichte zahlreiche "Bekenntnisse" zum Einmarsch. © NDR
"Konterrevolution wurde energisch abgewehrt", titelt die damals SED-treue "Ostsee-Zeitung".

Im DDR-Fernsehen weist Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler die Kritik zurück: "Der Schutz des Friedens ist Recht und Ehrenpflicht der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Und genau darum geht es bei den Maßnahmen der Sowjetarmee, der Nationalen Volksarmee der DDR, der polnischen, ungarischen und bulgarischen Volksarmeen in der Tschechoslowakei." Eine mehrfache Lüge. In Wahrheit ist die NVA doch nicht dabei und es geht nicht um den Schutz des Friedens, sondern um das Ende der politischen Reformen im Nachbarland.

Freiheit in Prag: "Sozialismus mit menschlichem Antlitz"

Für Heinz Eggert stirbt damals die Hoffnung auf ein freies Leben im Sozialismus. Vor dem Einmarsch der Truppen hatte er Prag besucht und eine Gesellschaft im Aufbruch erlebt. "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" war das Versprechen der tschechoslowakischen Reform-Kommunisten um Alexander Dubcek. Sie ließen offene Diskussionen, friedliche Demos, freie Kunst und Kultur zu. Der junge Rostocker genoss die Atmosphäre: "Abends saß ich in der Schwarzbierkneipe mit jungen Italienern, Österreichern, Westdeutschen, Tschechen zusammen und merkte: Die Welt ist größer, als man sie uns in der DDR zeigt."

Propaganda auf allen Kanälen

Propaganda im DDR-Fernsehen: Berliner Arbeiterinnen unterstützen angeblich den Einmarsch. © NDR
Angeblich freiwillig bekennen sich Berliner Arbeiterinnen im DDR-Fernsehen zur Militärintervention in der CSSR.

In der DDR regieren damals "SED-Betonköpfe" rund um Walter Ulbricht. Im spät-stalinistischen Furor verurteilen sie die Reformen in der Tschechoslowakei als "Konterrevolution". Nach deren angeblicher Niederschlagung sendet die "Aktuelle Kamera" des DDR-Fernsehen sogenannte Resolutionen. Darin bekennen sich - angeblich freiwillig - DDR-Bürger zum Einmarsch. Mit versteinerten Mienen werden Texte vorgelesen: "Wir Berliner Arbeiterinnen wissen das ganz genau, dass die Ereignisse in der CSSR Klassenkampf sind. Der Westen will wieder eine kapitalistische Entwicklung einführen. Das können und werden wir nicht dulden."

Heinz Eggert sagt "Nein!"

Auch Heinz Eggert soll so etwas unterschreiben. "Um 6 Uhr war die Schicht vorbei und dann hat der Parteisekretär 'eingeladen'. Alle mussten kommen." Doch der junge Eisenbahner weigert sich, ein Pamphlet zu unterschreiben, das den Einmarsch preist. Es sei eine spontane Trotzreaktion eines mecklenburger Dickschädels gewesen, sagt Heinz Eggert rückblickend. "Mir haben hinterher viele auf die Schulter geklopft und gesagt: 'Eigentlich hätten wir das nicht unterschreiben sollen. Aber wir haben schon so viel unterschrieben. Es lohnt einfach nicht, sich dagegenzustellen." Eggert will sich nicht verbiegen. Er sagt, was er denkt und  geht nach Hause. Schlafen.

Niederschlagung "Prager Frühlings": Eine Menschenmenge umringt am 21. August 1968, dem ersten Tag der Besetzung, in der Prager Innenstadt einen russischen Panzer, der neben einem ausgebrannten Fahrzeug zum Stehen gekommen ist. © picture-alliance / dpa Foto: Tewes
AUDIO: 20. August 1968: Niederschlagung des "Prager Frühlings" beginnt (15 Min)

Stasi-Haft für verweigerte "freiwillige" Unterschrift

Zelle im Rostocker Stasi-Knast, in dem Eggert wegen seiner verweigerten Unterschrift einsaß. © NDR
"Ich wusste jetzt, was mit Leuten, die anders denken, in der DDR passiert", sagt Eggert über seine Haft in Rostock.

Wenig später klingelt es an der Wohnungstür. Die Polizei. Eggert wird festgenommen, kommt in den Rostocker Stasi-Knast und verhört. Warum hat er seine Unterschrift verweigert? In wessen Auftrag hat er gehandelt? Ist er ein Agent der Konterrevolution? "Ich hatte in der Nacht dort - alleine mit dem Gebrüll um mich herum - schon Angst. Aber ich wusste jetzt, was mit Leuten, die anders denken, in der DDR passiert." Eineinhalb Tage Stasi-Haft  für eine verweigerte "freiwillige" Unterschrift - das ist der Wendepunkt in Heinz Eggerts Leben.

Radikaler Neuanfang: Pastor in Sachsen

"Man hat versucht, mich wieder einzufangen. Hat gesagt: 'Pass auf! Wenn Du jetzt in die SED eintrittst, dann verzeihen wir dir das. Dann bekommst du einen Bahnhof - bist Bahnhofsvorsteher.'" Darauf geht er nicht ein. Stattdessen kündigt er bei der Bahn, studiert Theologie. Dabei hatte er zuvor nichts mit Kirche und Glauben zu tun. Im sächsischen Oybin, direkt an der tschechischen Grenze, ist Heinz Eggert ab Mitte der 70er-Jahre Pastor. Erst die unerwartete Schikane des Staates hat ihn zum Oppositionellen gemacht.

Eggert macht Karriere in der Politik

Dresden: Heinz Eggert, sächsischer Innenminister, bei der Übergabe von Polizeifahrzeugen am 27.11.1991. © picture-alliance / ZB Foto: Thomas Lehmann
Unmittelbar nach der Wende wird Eggert Innenminister in Sachsen.

Der Prager Frühling und sein blutiges Ende beschäftigt den Theologen zeitlebens. Heute ist er überzeugt, dass es den versprochenen "Sozialismus mit menschlichen Antlitz" nicht geben kann. "Weil jede Diktatur ihre eigene Unmenschlichkeit hat, die man nicht beheben kann." Nach der Wende tritt er in die CDU ein und macht eine steile Karriere - zunächst als Landrat in Zittau und dann als sächsischer Innenminister. Durch seine gradlinige Art wird er weit über die Grenzen des Freistaates bekannt.

"Die Menschen nehmen die Demokratie zu selbstverständlich"

Heinz Eggert am Denkmal für neun während des Einmarschs im tschechischen Liberec getötete Menschen © NDR
Eggert am Denkmal für getötete Opfer des Einmarschs: Man müsse sich den ungeheuren Wert der Demokratie klarmachen, sagt er.

Sich selbst treu bleiben, um sich selbst in die Augen schauen zu können. Sagen, was man denkt:"In uns allen steckt mehr, als wir manchmal von uns selber halten", findet der 1946 geborene Eggert. Angesprochen auf aktuelle Umfragen, wonach eine Mehrheit der Deutschen glaubt nicht mehr sagen zu können, was man denkt, winkt er ab: "Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Demokratie ein wenig daran leidet, dass die Menschen, die in ihr leben, sie zu selbstverständlich nehmen und sich den ungeheuren Wert nicht klarmachen."

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Nordmagazin | 20.08.2023 | 19:30 Uhr

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