Hamburg 1974: MEK überrascht RAF-Terroristen im Schlaf
Anfang 1974 planen RAF-Terroristen in Hamburg die Befreiung ihrer Anführer Andreas Baader und Ulrike Meinhof aus der Haft. Doch das MEK überrascht sie im Schlaf und verhaftet sie ohne Blutvergießen.
In den frühen Morgenstunden des 4. Februar 1974 dringen zwölf Beamte des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) über die Tiefgarage in ein Hochhaus an der Bartholomäusstraße in Hamburg-Barmbek ein. Ihr Auftrag: Sie sollen die linksradikalen Terroristen Helmut Pohl, Ilse Stachowiak, Christa Eckes und Eberhard Becker verhaften, die sich in dieser Nacht in einer Dreizimmerwohnung im siebten Stock aufhalten.
Seit Monaten observieren die Behörden die Gruppe
So hat es der Verfassungsschutz ermittelt, der die Gruppe gemeinsam mit der Polizei seit vier Monaten beobachtet. Zwar tarnen sich die Terroristen immer wieder mit Perücken und Brillen, versuchen die Beschatter in Kaufhäusern oder U-Bahnhöfen abzuschütteln. Aber die Beamten haben ihre Wohnungen aufgespürt, Telefone abgehört, die Verdächtigen selbst aus Mülltonnen heraus fotografiert, wie der Autor Butz Peters in seinem Buch "Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF" berichtet.
Die Baader-Meinhof-Nachfolger formieren sich
Deshalb wissen die Beamten auch, dass die Terroristen jetzt einen Banküberfall in Kiel planen. Denn sie brauchen Geld, um den "bewaffneten Kampf" gegen die Bundesrepublik fortzusetzen, den die Gründer der Rote Armee Fraktion (RAF) Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, die inzwischen gefasst worden sind, vier Jahre zuvor begonnen haben. Ihr Ziel ist der politische Umsturz, ihre Mittel sind Brandanschläge, Sprengstoffattentate, Raubüberfälle. Selbst vor Mord schrecken sie nicht zurück.
Das MEK kommt auf leisen Sohlen
Mit dem Fahrstuhl fahren die Polizisten in der Barmbeker Bartholomäusstraße vom Keller in den neunten Stock und steigen dann zwei Etagen zu der observierten Wohnung hinunter. Sie tragen Stahlhelm und kugelsichere Weste, außerdem Turnschuhe mit Sohlen, die ihre Schritte im Treppenhaus dämpfen. Nach kurzer Vorbereitung sprengt das MEK um 3.57 Uhr die Wohnungstür aus den Angeln. Drei Beamte stürmen mit gezogenem Revolver in den zehn Meter langen Flur. Tretminen müssen sie nicht befürchten, das hat ihnen der Verfassungsschutz versichert, denn die Terroristen haben viel Alkohol getrunken an diesem Abend – und deshalb vermutlich auf die Schutzmaßnahme verzichtet.
Verfassungsschutz hört bei der Verhaftung mit
Die Explosion hat auch die Glastür zum Wohnzimmer zerstört. Der Hörer des Telefons ist aus der Gabel gerissen, sodass der Verfassungsschutz, der den Anschluss abhört, Ohrenzeuge der Verhaftungsaktion wird, wie der "Spiegel" später berichtet. Demnach rufen die Polizisten "Aufstehen - keine Fisimatenten – Hände hoch". Vielleicht auch "Halt, Polizei!" So meldet es das "Hamburger Abendblatt" am folgenden Tag. Jedenfalls sind die vier Terroristen auf ihrem Matratzenlager völlig überrascht. Sie leisten keine Gegenwehr, obwohl ihre Pistolen geladen neben dem Kopfkissen liegen. Innerhalb weniger Sekunden sind sie verhaftet, werden in Handschellen und von Wolldecken verhüllt abgeführt.
Die jüngste Terroristin ist 19 Jahre alt
Einige Stunden später gibt der damalige Hamburger Innensenator Hans-Ulrich Klose (SPD) auf einer Pressekonferenz die Identität der "Berufsrevolutionäre", wie er sie nennt, bekannt: Die 24-jährige Christa Eckes hat als Aushilfe für ein linkes Hamburger Anwaltsbüro gearbeitet und ist im Vorjahr bei der Räumung eines besetzten Hauses an der Ekhofstraße im Stadtteil Hohenfelde vorübergehend verhaftet worden. Der RAF-Anwalt Eberhard Becker ist 35 Jahre alt und erst vor kurzem in den Untergrund gegangen. Er gilt als enger Vertrauter von Ulrike Meinhof. Der 30-jährige Helmut Pohl ist bereits einmal wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt worden. Ilse Stachowiak hat eine Lehre als Kfz-Mechanikerin abgebrochen. Mit 19 Jahren ist sie zwar die Jüngste, aber schon seit mehr als drei Jahren bei der RAF.
Verhaftungen nicht nur in Hamburg
In derselben Nacht werden in Frankfurt am Main drei weitere Terroristen in einer Wohnung verhaftet, die in Hamburg geborenen Kay Werner Allnach und Wolfgang Beer, der ebenfalls bei der Hausbesetzung in der Ekhofstraße beteiligt war, sowie Magrit Schiller, die bereits 1971 in Hamburg im Zusammenhang mit der Ermordung eines Zivilpolizisten verurteilt wurde und später untergetaucht ist. Am folgenden Tag wird in Amsterdam der Terrorist Ekkehard Blenck festgenommen, der laut "Hamburger Abendblatt" als "Schatzmeister" der RAF gilt.
Die Terroristen haben ein Waffenarsenal angelegt
In Frankfurt und Hamburg stellen die Beamten Waffen, Sprengstoff und Munition sicher. Allein in der Barmbeker Hochhauswohnung lagern fünf Handgranaten, zwei Tretminen, vier Maschinenpistolen, zwei Schrotflinten mit abgesägtem Lauf, acht Pistolen, 800 Gramm hochexplosiver Sprengstoff und Rohrbomben, dazu 16.584 Mark, norwegische und schwedische Kronen. So berichtete es das "Hamburger Abendblatt".
Ein überraschender Fund
In jeder der zwei Wohnungen entdeckt die Polizei außerdem Kassiber - geheime Briefe aus der Haft - von Andreas Baader, in denen er die Gesinnungsgenossen zu seiner baldigen Befreiung aus der JVA Schwalmstadt auffordert. Zwar haben die Beamten bereits geahnt, dass die Terroristen auch Gefangenenbefreiungen planen, wie der "Spiegel" eine Woche nach der Verhaftung meldet. Aber dass die Anweisungen dazu von Baader persönlich stammen und offenbar aus der JVA herausgeschmuggelt worden sind, überrascht die Ermittler. Die Kassiber enthalten detaillierte Anleitungen für einen Sprengstoffanschlag auf das Gefängnis. Und als Alternativplan den Vorschlag, Politiker als Geiseln zu nehmen ("es müssen rechte schweine sein"), den CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf etwa oder den Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) ("irgendein austausch, ist einfacher zu organisieren, euer risiko ist kleiner 'mit minimalen kräften'.") So zitiert es Klaus Pflieger, ehemaliger Mitarbeiter der Bundesanwaltschaft in seinem Buch "Die Rote Armee Fraktion - RAF").
Ein Hamburger Gericht verurteilt die Terroristen
Die acht Terroristen werden in Hamburg vor Gericht gestellt und am 28. September 1976 zu Haftstrafen zwischen zwei und sieben Jahren verurteilt, wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung, Urkundenfälschung, teilweise Betrug, unerlaubtem Waffenbesitz, Verstößen gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und das Waffen- und Sprengstoffgesetz.
Die RAF mordet noch 20 Jahre weiter
Den Behörden ist ein großer Erfolg gegen die RAF gelungen. Doch der linksradikale Terrorismus ist nicht zerschlagen. Noch immer stehen fast zwei Dutzend Terroristen auf den Fahndungslisten der Polizei. Und auch wenn Baader, Meinhof und Ensslin nicht freigepresst werden konnten und später in der Haft Selbstmord begehen, verüben immer neue Gruppen bis Anfang der 1990er-Jahre Attentate und Sprengstoffanschläge, töten zahlreiche Politiker, Wirtschaftsleute, US-Soldaten, Diplomaten.
Auch einige der Terroristen, die in Hamburg vor Gericht standen, gehen nach ihrer Entlassung wieder in den Untergrund. 1984 wird Christa Eckes erneut verhaftet und erhält eine achtjährige Haftstrafe wegen Mitgliedschaft in der RAF. Helmut Pohl ist 1981 an einem Bombenanschlag auf das Hauptquartier der US-Luftstreitkräfte in Ramstein beteiligt, wird deswegen 1986 zu lebenslanger Haft verurteilt. Erst 1998 erklärt die RAF ihre Auflösung, 28 Jahre nach ihrer Gründung.