Sommer 1989: Die "Göhrde-Morde" und Birgit Meiers Verschwinden
Zwei Doppelmorde in der Göhrde bei Lüneburg erschüttern im Sommer 1989 Norddeutschland. Am 12. Juli 1989 wird dort ein totes Paar entdeckt, am selben Tag wird ein anderes ermordet. Ganz in der Nähe verschwindet kurz danach eine Frau. Erst 2017 wird dieses Verbrechen aufgeklärt.
Fast drei Jahrzehnte lang hat den ehemaligen Hamburger Polizisten Wolfgang Sielaff das Verschwinden seiner Schwester keine Ruhe gelassen. Viel persönliches Engagement und mühevolle Ermittlungsarbeit führten ihn und sein Team schließlich auf die Spur eines brutalen Serienmörders. Sein Name: Kurt-Werner Wichmann. Ein Team des NDR durfte Sielaff, seine Mitstreiter, Ermittler und Angehörige der Opfer drei Jahre lang exklusiv begleiten. Die Dokumentation "Eiskalte Spur" zeichnet die entscheidenden Momente nach. Zusätzlich zu der Verfilmung des Kriminalfalls "Das Geheimnis des Totenwaldes" im Ersten gibt es die Rekonstruktion des Falls als NDR Dokucast auch in neun Podcast-Folgen.
In der NDR Dokumentation Eiskalte Spur - Die Göhrde-Morde und die verschwundene Frau wird geschildert, wie mühevolle Ermittlungsarbeit zu einem der brutalsten Serienmörder Deutschlands geführt hat. Bereits 2002 sind drei Folgen entstanden.
2024 erscheint eine zweite Doku zu dem Fall. In Der Menschenjäger - Neue Spuren des Göhrde-Mörders ist der ehemalige Chef des Hamburger LKA, Reinhard Chedor, im ganzen Bundesgebiet unterwegs. Er überprüft, welche bis heute unaufgeklärten Mordserien mit Wichmanns Bewegungsprofil in Zusammenhang stehen könnten.
"Göhrde-Morde" erschüttern 1989 die Bevölkerung
Am 12. Juli 1989 finden drei Beerensammler im Staatsforst Göhrde die Leichen des Ehepaares Ursula und Peter R. aus Hamburg-Bergedorf, das bereits am 21. Mai zum Picknick in den Wald östlich von Lüneburg zum Picknick gefahren war. Die Körper sind bereits stark verwest. Der Täter muss extrem kaltblütig sein. Denn an dem Tag, an dem die Polizei das erste erschossene Pärchen am Fundort untersucht und den Tatort sichert, tötet er nur 800 Meter entfernt das zweite Paar - unbemerkt von den Beamten. Die Doppelmorde erschüttern das Land, die Bevölkerung ist beunruhigt. Die Polizei steckt jeden verfügbaren Kriminalisten in die Sonderkommission "Göhrde".
Vermissten-Fall Birgit Meier findet wenig Beachtung
Kurz darauf verschwindet die 41-jährige Birgit Meier, eine wohlhabende Unternehmergattin, spurlos in Lüneburg. Doch der Vermissten-Fall findet ob der "Göhrde-Morde" wenig Beachtung. Ein dramatischer Fehler, wie sich fast drei Jahrzehnte später zeigen wird. Der Bruder der Vermissten, Wolfang Sielaff, ist damals Leiter des Landeskriminalamtes Hamburg. Im Fall seiner verschwundenen Schwester hat er allerdings keinerlei Handhabe: Lüneburg liegt im benachbarten Bundesland Niedersachsen - und Polizeiarbeit ist Ländersache. Sielaff versucht zwar aus der Ferne, die niedersächsischen Kollegen zu effizienter Ermittlungsarbeit zu drängen. Doch er beobachtet immer wieder erhebliche Pannen. Nur wenige Polizisten, die mit dem Fall betraut sind, ermitteln offenbar beherzt. Birgit M. bleibt verschwunden.
Ehemann unter falschem Mord-Verdacht
Von der Polizei verdächtigt wird ihr Mann, von dem sie zum Zeitpunkt des Verschwindens getrennt lebte. Er hat sie am Vorabend ihres Verschwindens als Letzter lebend gesehen - und hat kein Alibi für die Nacht. Bald schon ist die Polizei der Meinung, er könnte seine Frau umgebracht und beseitigt haben, um das Geld bei der Scheidung zu sparen.
Widersprüche bei Ermittlern in Lüneburg
Wolfgang Sielaff versucht mehrfach, die ermittelnden Beamten in Lüneburg auf offene Fragen und Widersprüche aufmerksam zu machen. Doch bei den Ermittlern gilt der Ehemann als Tatverdächtiger. Andere Spuren werden nur halbherzig verfolgt. Dabei drängt sich ein Mann geradezu auf: Kurt-Werner Wichmann. Der Friedhofsgärtner ist wegen Vergewaltigung, versuchter Tötung und weiterer schwerer Delikte in Erscheinung getreten. Er kannte Birgit Meier und hatte mehrfach Kontakt zu ihr - auch noch kurz vor ihrem Verschwinden. Es vergehen dreieinhalb Jahre, ehe die Ermittlungsbehörden mit einem Durchsuchungsbefehl vor Wichmanns Tür in Adendorf (Landkreis Lüneburg) stehen.
Hausdurchsuchung - Kurt-Werner Wichmann taucht unter
Doch die Beamten machen bei der Durchsuchung fatale Fehler. Als sie am Morgen beim Haus des Verdächtigen ankommen, ist dieser bereits zur Arbeit gefahren ist. Nur seine Frau ist zu Hause. Die Beamten rufen Wichmann im Büro an und bitten ihn, nach Hause zu kommen. Er sagt zu - und taucht unter.
Im ersten Stock des Hauses finden die Beamten ein abgeschlossenes Zimmer mit schallisolierter Tür, zu dem seine Frau keinen Zutritt hat.
Vergrabenes Auto im Garten, Handschellen mit Blut
In Geheimverstecken finden sie Kleinkaliber-Waffen, Schalldämpfer, Messer, Elektro-Schocker, Dolche, Betäubungsmittel, Spritzen, Fesseln und jede Menge Munition. An einem Paar Handschellen entdecken sie eingetrocknete, reiskorngroße Blutspritzer. Wochen später rückt das BKA an und durchsucht das gesamte Grundstück. Im steilen Hang hinter dem Haus finden die Beamten einen komplett vergrabenen Sportwagen. Der Leichenspürhund schlägt am Kofferraum an. Der Verdächtige allerdings bleibt verschwunden.
Tatverdächtiger erhängt sich 1993 in U-Haft
Es passieren weitere Pannen. Wochen nach seiner Flucht wird Kurt-Werner Wichmann schließlich in Süddeutschland festgenommen. Er hat einen Verkehrsunfall verursacht. Die Polizisten in Heilbronn finden bei der Überprüfung seines Autos eine auseinander gebaute Maschinenpistole und 100 Schuss Munition. Wichmann kommt in Untersuchungshaft. Wenige Tage später erhängt er sich in seiner Zelle. Seiner Frau hinterlässt er einen Abschiedsbrief voller versteckter Hinweise.
Keine Ermittlungen gegen den Toten
Gegen Tote, so will es das Gesetz, darf nicht ermittelt werden. Die Akte wird geschlossen, die Verfügung wird getroffen, alle Asservate zu vernichten. Ein nicht wieder gut zu machender Fehler. Man hätte weiter ermitteln können und müssen. Denn Wichmann hatte wahrscheinlich Mittäter: Zeugen haben in der Nacht, in der Birgit Meier verschwand, das Geräusch eines laufenden Automotors gehört. Möglicherweise der wartende Komplize. Und so bleibt das Rätsel um Birgit Meier ungeklärt: War Wichmann der Mörder? Hat er noch jemanden auf dem Gewissen? Die Funde sprechen schließlich dafür, dass noch weitere schwere Verbrechen begangen wurden.
Sielaff rollt den Fall mit privater Ermittlergruppe neu auf
Jahrelang halten die Lüneburger Polizisten Wolfgang Sielaff hin und beteuern jedes Mal, alles Menschenmögliche zu tun. Als Sielaff Anfang der 2000er-Jahre in den Ruhestand geht, beantragt er Akteneinsicht - und fällt aus allen Wolken, als er die Ermittlungsfehler und Versäumnisse der Lüneburger erkennt. Schließlich sammelt er die besten Weggefährten, vom Gerichtsmediziner bis zum Staatsanwalt, in seinem "Kernteam" um sich und rollt den Fall neu auf. Das Team entwickelt neue Ansätze und bringt die Lüneburger schließlich dazu, zwei neue Ermittlungsgruppen zu gründen: die EG Iterum (Wiederaufnahme des Falles) und die EG Göhrde.
Blut an der Handschelle ist von Birgit Meier
Die EG Iterum findet nach neun Monaten Ermittlungsarbeit bei der Rechtsmedizin Hannover ein Asservat, das der Vernichtung entgangen ist: die Handschelle mit den Blutstropfen. Dank neuer DNA-Methoden steht bald fest: Es ist das Blut von Birgit Meier. Sie war also in der Gewalt von Kurt-Werner Wichmann.
Wichmanns DNA wird im Opfer-Auto nachgewiesen
Die EG Göhrde arbeitet die Akten und die vorhandenen Asservate der "Göhrde-Morde" noch einmal auf. In beiden Fällen wurden die Autos der Opfer nach den Taten noch bewegt - das spricht nach Ansicht der Ermittler für mindestens zwei Täter. Beim Sichten des Beweismaterials werden nun auch Klebefolien ausgewertet, mit denen 1989 Faser-Spuren von den Sitzen der Opfer-Autos gesichert worden waren. Ohne es zu wissen, hatten die Beamten damals auch Hautschuppen mit aufgeklebt - und damit DNA-Spuren. Mit moderner Technik können diese nun ausgewertet werden. Und es findet sich die DNA von Kurt-Werner Wichmann.
Leiche von Birgit Meier auf Wichmanns Grundstück
Den Fall Birgit Meier schließt die Lüneburger Polizei nun als aufgeklärt ab - auch wenn ihre Leiche noch nicht gefunden wurde. Doch Wolfgang Sielaff und seiner Familie lässt das Schicksal von Birgit keine Ruhe. Sie konzentrieren sich auf das Haus von Kurt-Werner Wichmann. In dessen Garage ist eine Kfz-Grube. Am 29. Juli 2017 lässt das Kernteam hier den Beton aufmeißeln. In einer Ecke der Grube stoßen sie auf einen Hohlraum. Und im Sand dieses Hohlraumes auf menschliche Knochen - die Knochen von Birgit Meier, wie sich später herausstellt. Die Obduktion ergibt, dass Birgit Meier mit einem Kopfschuss getötet wurde. Genau wie mindestens eines der Opfer der "Göhrde-Morde" und wie ein weiteres Mord-Opfer aus dem Jahr 1968.
Wie viele Morde gehen auf Wichmanns Konto?
Nun gehen die Ermittlungsbehörden davon aus, dass sie auf dem Grundstück des ehemaligen Friedhofsgärtners noch weitere Leichen finden könnten. Zwischenzeitlich verfolgen Fahnder den Ansatz, Wichmann könnte für mehr als 200 Taten deutschlandweit verantwortlich sein. Im April 2018 folgt eine groß angelegte Durchsuchungsaktion: Rund zwei Wochen lang werden mit Baggern, Suchhunden und Unterstützung internationaler Experten Haus, Grundstück und Garage des ehemaligen Friedhofsgärtners untersucht. Die Ermittler hoffen auch auf Spuren, die zu einem möglichen Mittäter führen. Rund 400 Gegenstände stellen sie sicher und reichen sie zur weiteren Untersuchung ins Landeskriminalamt.
Fünf Morde und ein Suizid - und ein Ende als "cold case"?
Anfang 2020 gibt die Polizei bekannt, dass rund die Hälfte der Asservate untersucht ist - ohne dass sich daraus neue Hinweise auf weitere Taten, weitere Täter oder Mitwisser ergeben hätten. Über die fünf Morde hinaus, die nachweisbar im Zusammenhang mit dem seit 1993 toten Wichmann stehen, können die Fahnder keine Verbindung zu weiteren Fällen erkennen. Auch die Frage nach dem Motiv und mindestens einer weiteren eingeweihten Person bleibt zunächst offen.
Um dieses Rätsel zu lösen, bitten die Ermittler die Bevölkerung im Juli 2022 noch einmal um Mithilfe: Sie suchen ein Telefonbuch für Hamburg aus dem Jahr 1989, um es zu digitalisieren. Die Polizei will eine Nummer überprüfen, die sie auf einem Zettel auf dem Grundstück von Kurt Werner Wichmann gefunden hat. Möglicherweise verbirgt sich hier doch noch eine Spur zu einem möglichen Mittäter, hoffen die Ermittler. Doch das Telefonbuch liefert keine weiteren Hinweise. Zumindest dieses Rätsel bleibt also ungelöst.