"Demenzdorf" Tönebön: Leben in einer eigenen Welt
Immer mehr Menschen sind in den vergangenen Jahren dement geworden. Trotzdem fehlen geeignete Pflegeeinrichtungen. In Niedersachsen hat am 13. März 2014 Deutschlands erstes "Demenzdorf" eröffnet: Tönebön am See.
Auf dem ehemaligen Ziegeleigelände des Stifters Julius Tönebön entsteht 2014 am Stadtrand von Hameln auf 18.000 Quadratmetern ein Ort für pflegebedürftige Menschen mit Demenz. Das Geld für das Sechs-Millionen-Euro-Projekt kommt aus dem Stiftungsvermögen von Tönebön, in Hameln auch bekannt als "Graf Backstein". Nach dem Tod des kinderlosen Guts- und Ziegelei-Besitzers im Juli 1940 fließt dessen Vermögen in die nach ihm benannte Stiftung. Seit ihrer Gründung im Jahr 1941 finanziert sie in Hameln mehrere Einrichtungen der Altenhilfe.
Überschaubare Lebenswelt für Menschen mit Demenz
Helle Räume, freundliche Farben, große Fenster, weitläufiger Garten: So empfängt das "Demenzdorf" 2014 die ersten vier Bewohnerinnen und Bewohner. Alle Wege führen in den Innenhof der Anlage. Sich zu verlaufen, ist also ausgeschlossen. Es ist genug Platz für die Bewohnerinnen und Bewohner, dennoch ist Tönebön eine überschaubare Lebenswelt, ausgerichtet auf die spezifischen Bedürfnisse. Nach und nach ziehen immer mehr Menschen mit demenziellen Erkrankungen in eines der vier ebenerdigen Häuser, die auch als "Villen" bezeichnet werden, ein. In jeder Hausgemeinschaft gibt es 12 bis 13 Einzelzimmer mit Bad. Eine Küche und ein Wohnzimmer gehören zu jeder Einheit. So können die Wohneinheiten als eigenständige Haushalte geführt werden. Auf dem Gelände gibt es Einrichtungen wie einen kleinen Supermarkt, einen Friseursalon, ein Fitnessstudio und ein Café. Nach innen bietet das "Demenzdorf" ein Stück Freiheit, nach außen einen Zaun als Abgrenzung.
"Die Pflegeeinrichtung bietet ein großes Stück Geborgenheit"
Die damalige niedersächsische Sozialministerin Cornelia Rundt, die auch als Expertin für Pflege gilt, lobt die neue stationäre Pflegeeinrichtung bei der Eröffnung: Einerseits biete sie "ein großes Stück Geborgenheit", ermögliche andererseits aber auch "Alltagssituationen". Insgesamt bietet Tönebön am See zum Zeitpunkt der Eröffnung 53 Plätze für demenziell Erkrankte. Für die Unterbringung zahlen die Bewohnerinnen und Bewohner 200 Euro mehr als in einem herkömmlichen Pflegeheim.
Demenzkranke neigen zur sogenannten Hinlauftendenz
Sie haben vergessen, dass ihre Kinder längst erwachsen sind, andere glauben sie seien nur zur Kur: Demenzkranke neigen zur "Hinlauftendenz" - sie sind unruhig und wollen immer irgendwohin. Die meisten wollen einfach nur nach Hause oder zur Arbeit. Aber das geht nicht mehr, weil sie eine Gefährdung für sich und andere in der realen Welt sind. So lassen Demenzkranke beispielsweise den Herd an oder verlieren die Kreditkarte. Ihre geistigen Fähigkeiten schwinden zusehends. Es gibt zwar lichte Momente im Leben von demenziell Erkrankten, aber schlussendlich sind sie überwiegend in der Vergangenheit gefangen.
Alzheimer ist die häufigste Ursache für eine Demenz
Vor mehr als 100 Jahren entdeckte Alois Alsheimer die nach ihm benannte "Alzheimersche Krankheit" - sie ist die häufigste Ursache für Demenz. Insgesamt gibt es über 50 Krankheitsbilder unter dem Oberbegriff der Demenz. Zunächst gerät die Krankheit wieder in Vergessenheit, erst seit den 1960er-Jahren widmet ihr die medizinische Forschung wieder mehr Aufmerksamkeit. Die Krankheit des Vergessens ist bis heute nicht heilbar. Aber es gibt Medikamente, die den Krankheitsverlauf verzögern oder die Lebensqualität verbessern können.
"Wer kann und mag, der darf und soll"
Der Alltag in Tönebön ist vergleichbar mit einem Leben wie in einer Familie: Die Menschen sollen noch mitentscheiden und mithelfen so gut sie können. "Wer kann und mag, der darf und soll" - so lautet das Motto des betreuten Zusammenlebens. Beschäftigung lautet das Programm der Einrichtung. Im Angebot ist unterstützendes Gedächtnistraining. Die Bewohnerinnen und Bewohner nehmen am Tanztee und der Singgruppe teil oder helfen bei der Gartenarbeit. Für Abwechslung und Freude sorgt der Kaninchenstall. Es gibt auch Aktivitäten, die außerhalb stattfinden. Dazu gehören Angebote des örtlichen Wandervereins.
De Hogeweyk gilt als Vorbild für "Demenzdörfer"
Vorbild für Pflegeeinrichtungen wie Tönebön am See ist das 2009 eröffnete "Demenzdorf" De Hogeweyk in der Nähe von Amsterdam. Die Niederländer verneinen vehement, ein "Demenzdorf" zu sein und lehnen die Bezeichnung ab, weil sie ihrer Ansicht nach den Schwerpunkt auf die Krankheit statt auf den Menschen legt. De Hogeweyk will Menschen mit schwerer Demenzerkrankung ein neues Zuhause und ein sicheres Umfeld bieten. Die Einrichtung im Nachbarland verspricht eine inklusive Gemeinschaft zu sein, in der Freiheit und Autonomie erhalten bleiben. Auch Tönebön am See beschreibt ihre Pflegeeinrichtung nicht als "Demenzdorf", sondern als Lebensraum für Menschen mit Demenz.
Kritik am "Demenzdorf" - Leben in einer Scheinwelt
In dem Diskurs um den Begriff "Demenzdorf" zeigt sich auch die Kritik an solchen Pflegeeinrichtungen. Diese separierte Wohnform bewertet Reimer Gronemeyer, Mitglied im Stiftungsrat der Deutschen Hospiz und Palliativstiftung, als vermeintliche Freiheit, die durch einen Zaun oder andere Begrenzungen beschränkt wird. Alte, kranke Menschen werden einfach ausgelagert, das wirkt wie eine Art Aussätzigendorf", zitiert die "Süddeutsche Zeitung" den Soziologen Gronemeyer. Es werde eine Scheinwelt aufgebaut - wie bei der Truman-Show. Die Sprecherin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Susanna Saxl-Reisen stellt laut einer Studie des Bundesgesundheitsministeriums über innovative Versorgungsansätze für Menschen mit Demenz fest, dass Betroffene auch bei schwerer Erkrankung klare Momente haben können, in denen sie merken, dass in der aufgebauten Scheinwelt etwas nicht stimmt und so möglicherweise Vertrauen verlieren.
Martina Knitter ist seit 2019 Einrichtungsleiterin in Tönebön. Sie ist überzeugt von dem Konzept: Sie sei seit über 30 Jahren in der Pflege; vor 15 bis 20 Jahren habe sie noch keine Vision für eine Einrichtung diese Art gehabt. Sie sagt: "Wir räumen das aus dem Weg, was die Menschen hier in Gefahr bringen könnte." Und seien es die Äpfel an einem Baum, die eine an Diabetes-erkrankte Bewohnerin nicht essen dürfe. Tönebön lasse die Pflegebedürftigen zur Ruhe kommen, ohne sie auszubremsen, erläutert Knitter weiter.
Immer mehr Menschen erkranken an einer Demenz
Trotz der kontoversen Diskussion um "Demenzdörfer" ist die Warteliste für solche Einrichtungen wie Tönebön lang. Seit 2018 gibt es zwei weitere "Villen" aufgrund des hohen Bedarfs an Pflegeplätzen. In Deutschland sind derzeit 1,8 Millionen Menschen demenziell erkrankt, davon rund 160.000 in Niedersachsen - Tendenz steigend. 2050 sollen bis zu 2,8 Millionen Menschen von Demenz betroffen sein. Das stellt Pflegeeinrichtungen vor Herausforderungen, nicht nur personell. In Tönebön am See bleiben die Bewohnerinnen und Bewohner in der Regel bis zum Schluss, bis ihre Welt ganz verschwindet.