Lebensqualität bei Demenz: "Musik ist das Letzte, das verlischt"
Zwei Erfolgsmodelle aus Hannover befassen sich mit Kultur und Demenz. Welchen Einfluss haben Musik und Bewegung auf unser Gehirn? Inwiefern helfen verschiedene Kunstformen, im Kopf fit zu bleiben?
"Musik ist das Letzte, das in unserem Leben verlischt", sagt Eckart Altenmüller. Er leitet das Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Musikhochschule Hannover. An einer seiner jüngsten Studien haben 140 Senior*innen teilgenommen. Manche von ihnen haben regelmäßig Klavierunterricht bekommen. Die Ergebnisse nach einem Jahr Spielen waren verblüffend: "Wir haben gezeigt, dass diejenigen, die Musikunterricht erhalten haben, besser vernetzten in ihren Nervenzellen, obwohl sie erst mit über 65 angefangen haben, Musik zu machen. Und wir konnten zeigen, dass sie besser gehört haben als vorher", berichtet Altenmüller.
Kognitive Verbesserung, Stressabbau und Steigerung des Wohlbefindens durch Musik
Rund 20 der Studienteilnehmerinnen hatten so viel Spaß am Klavierspielen, dass sie weiterhin in den Unterricht gehen - an der Musikschule der Landeshauptstadt Hannover, bei Dong Joohn Lee und Maryam Mehraban. Die Klavierlehrerin staunt ganz oft, wenn sie ihre älteren Schülerinnen beobachtet: "Eine der bemerkenswertesten Auswirkungen ist die kognitive Verbesserung. Das Musizieren erfordert natürlich komplexe mentale Aktivitäten, wie das Lesen von Noten, das Erlernen von Musiktheorie und das Koordinieren von Handbewegungen", erzählt Mehraban. "Es kann auch Stress abbauen und das allgemeine Wohlbefinden steigern - was besonders im Alter von großer Bedeutung ist."
Der Unterricht ist eine Kombination aus Einzel- und Gruppenunterricht. Und so genießen auch alle das reale Zusammentreffen, den Austausch, ergänzt Maryam Mehraban. Auch der Tanzpädagoge Mathias Brühlmann arbeitet mit Musik, wenn er in Hannover unterwegs ist - zum Beispiel im Seniorenpflegeheim Domicil in Kleefeld. Tanzend, singend, malend hilft er seit vielen Jahren demenzkranken Menschen dabei, Erinnerungsschätze zu heben. Für ihn ein Herzensprojekt:
Der Kampf um die Erinnerung: "Gelebte Archäologie oder Geschichtsforschung"
"Für mich ist das mystisch. Es hat ein Mensch ein Leben gelebt, er hat Erfahrung, Eindrücke, Wissen gesammelt - ein Leben lang, und plötzlich kann das nicht mehr raus", sagt Brühlmann. "Er findet keine Worte mehr, er findet manchmal noch nicht mal mehr Gedanken. Aber das ist da noch drin, und in Bruchstücken kommt das wieder zum Vorschein. Das ist ein Stück gelebte Archäologie oder Geschichtsforschung."
Bei seinem letzten Projekt war auch Anette Pöthig dabei. Sie arbeitet als Physiotherapeutin im Domicil und erkennt ihre Heimbewohnerinnen manchmal kaum wieder: "Wir sind immer wieder überrascht, dass Leute die ganzen Strophen auswendig können. Da sieht man einfach auch, wie Erinnerungen kommen, auch Zusammenhänge, Schulzeit", so Pöthig. Nicht alles sei dabei schön, es gebe auch schmerzliche Erinnerungen: "Diese Generation hat ja noch den Krieg erlebt als Kinder und auch Erfahrungen mit Vertreibung. Dann kann es auch mal sein, dass so etwas plötzlich kommt - aber auch viele schöne Erinnerungen."
Tanz als Verbindung zu den Erinnerungen
Musik und Bewegung als Verbindungslinien in die Tiefen unserer Erinnerung. Gerade das Tanzen werde unterschätzt, sagt Mathias Brühlmann. Über das Tanzen finden ältere Menschen im besten Fall eine neue Verbindung zu ihrem Körper, eine eigene Tanzsprache. "Alte Menschen haben eigentlich eine ganz große Bewegungserfahrung, die sind in gewisser Weise sehr bewegungskompetent, aber eben nicht in tänzerischer Hinsicht", sagt Brühlmann. "Wie kann man also diesen Schatz irgendwie heben und sagen: Okay, Du kannst Dich ja bewegen, Du machst das sehr erfolgreich in Deinem Leben. Wie kannst Du Bewegung so abstrahieren, dass es für Dich zu einem Tanzerlebnis wird?"
Das Erlebnis steht im Vordergrund - es geht darum, eine kulturelle Technik zu erobern, musikalische Erfahrungen zu machen, soziale Kontakte zu knüpfen. Es geht um Lebensqualität. Und die wünschen wir uns doch alle - auch fürs Alter.