Das "Göttinger Ei" war 1939 ein Wunder der Aerodynamik
Das Stromlinienauto von Karl Schlör erzielte 1939 bis heute unerreicht niedrige Luftwiderstandswerte. Um den Forschungswagen aus Göttingen ranken sich viele Mythen. Wo er nach dem Zweiten Weltkrieg abgeblieben ist, ist unklar.
Welche Reaktionen hat der Göttinger Schlörwagen wohl hervorgerufen, als er 1939 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde? In einer Zeit, in der Autos noch mehr oder weniger eine kastenähnliche Grundform hatten, kam der glatte Vollstromlinienwagen im Vergleich wie ein futuristisches Objekt daher.
Die Aerodynamische Versuchsanstalt (AVA) in Göttingen und die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) in Berlin-Adlershof untersuchten bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren Autos im Windkanal.
Sensationeller Cw-Wert bis heute unerreicht
Automobilbegeisterte staunen noch heute über das Experimentalauto. Durch die besondere Form ist der Luftwiderstand so gering, dass auch heutzutage kaum ein Auto mit den Werten mithalten kann. Die Windschlüpfigkeit des Schlörwagens, gemessen als sogenannter Strömungswiderstandskoeffizient (Cw-Wert), "war mit 0,186 sensationell niedrig. Nachmessungen von VW in den 1970er-Jahren an einem Modell bescheinigten dem Schlörwagen sogar einen Cw von nur 0,15. Heutige Pkw reichen mit einem Cw-Wert von 0,24 bis 0,3 nicht an die günstige aerodynamische Form des Schlörwagens heran", wie das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) als Nachfolgeinstitution der AVA auf seiner Website schreibt.
Schlör nahm Flugzeug-Flügel als Vorbild
Die AVA hatte vom Reichsverkehrsministerium den Auftrag zum Bau eines Vollstromlinienwagens als Prototyp erhalten. Bei einem solchen Wagen sind sowohl das Heck als auch die Frontpartie des Fahrzeugs stromlinienförmig gestaltet. Mit dieser Aufgabe wurde Karl Schlör (1910-1997) betraut. Der Wagen wurde auf einem modifizierten Fahrgestell eines Mercedes 170 H (1,7 Liter Heckmotor mit 38 PS) aufgebaut. Er war laut DLR 4,32 Meter lang und mit 2,10 Metern vergleichsweise breit. Er soll 1,48 Meter hoch gewesen und einen Radstand 2,60 Meter gehabt haben.
Der Entwickler achtete darauf, "dass die Räder des Wagens von der Karosserie umgeben waren und dass alle abstehenden Teile wie Türgriffe, Blinker, und Scheinwerfer in die Karosserie eingelassen wurden", so das DLR. Schlör hatte sich Flügelprofile von Flugzeugen zum Vorbild genommen. Von der Seite aus betrachtet hatte der Wagen durchaus Ähnlichkeit mit dem Querschnitt einer Tragfläche oder auch einem halben Tropfen. Die Vorteile: die Windschlüpfigkeit und ein geringer Kraftstoffverbrauch. Die Nachteile: eine schlechte Kurvenlage und die Seitenwindanfälligkeit. Deshalb habe Schlör laut DLR Versuchsfahrten auch am liebsten bei Windstille durchgeführt.
Schlörwagen stellte Konkurrenz zum Käfer dar
Die Historikerin Jessika Wichner leitet das Zentrale Archiv des DLR und ist bereits vielen Informationen über das Forschungsfahrzeug auf die Spur gekommen. Zum Beispiel fand sie heraus, dass der Schlörwagen bei der Automobilausstellung 1939 leider draußen bleiben musste. Denn drinnen in den Hallen wurde ein Auto vorgestellt, das Ferdinand Porsche entwickelt hatte - der Käfer. "Der Gedanke liegt nahe, dass der Schlörwagen mit seinen sieben Sitzen, dem niedrigen Verbrauch und der ungewöhnlichen Form nicht mit dem Käfer verglichen werden sollte", sagt Wichner dem NDR 2024. Das Reichsverkehrsministerium habe verhindern wollen, dass der AVA-Versuchswagen als Konkurrenz hätte wahrgenommen werden können.
Für die damaligen Verhältnisse war er ein Flitzer: 146 Kilometer pro Stunde soll er laut Schlörs Messungen erreicht haben. "Was nicht eindeutig bewiesen werden kann", sagt die Historikerin. Denn die Tachos in den Autos zeigten nur Geschwindigkeiten bis 120 Kilometer pro Stunde an. Schlör habe die Zweifel an der Höchstgeschwindigkeit damals auch nicht ausräumen können. Laut DLR kam der Wagen während einer Versuchsfahrt auf der Avus lediglich auf 110 Kilometer pro Stunde.
Schlör wollte das Auto nach Bayern bringen lassen
Der Schlörwagen wurde während des Zweiten Weltkriegs, der eine weitere Entwicklung stoppte, zunächst eingemottet. Schlör brachte von seinem Militärdienst in Riga einen russischen Sternmotor mit nach Göttingen. Dieser wurde versuchsweise an das Heck des Wagens montiert. Nach dem Krieg stand das Auto in einem Abbruchhaus auf dem Gelände des DLR - verbeult, ohne Motor und Sitze. "Letzte Nachweise über den Verbleib des Wagens haben wir aus dem Jahr 1948", sagt Wichner. Karl Schlör wollte das Auto beziehungsweise dessen Reste kaufen und nach Bayern bringen lassen, wo er mittlerweile lebte. Doch die britische Militärregierung erteilte die Genehmigung nicht und der Abschleppwagen musste unverrichteter Dinge wieder aus der Bunsenstraße in Göttingen abziehen.
Verbleib unklar - vermutlich verschrottet
Danach verliert sich die Spur. Eine Theorie, nach der die Alliierten den Schlörwagen mit nach England genommen haben, hält Historikerin Wichner allerdings für unwahrscheinlich. Auch die Theorie, dass der Wagen in Riga, wohin Schlör versetzt worden war, verbrannte, gilt als ausgeschlossen. Schließlich stand der Wagen ja noch 1948 in Göttingen. Vermutlich wurde das "Göttinger Ei" ganz banal verschrottet, zumal die Karosserie in keinem guten Zustand und deshalb für weitere Versuchszwecke unbrauchbar war. Doch dieses Geheimnis konnte im Archiv des DLR noch nicht endgültig gelüftet werden.
Nachbau soll auf die Straßen kommen
Gänzlich verschwunden ist der Schlörwagen dennoch nicht: Ein nach Originalzeichnungen vom DLR gefertigter Nachbau im Maßstab 1:4,5 ist im PS-Speicher in Einbeck ausgestellt. Anfang 2023 entstand in den Reihen der Oldtimer-Freunde Hildesheim ein 1:1-Modell des futuristischen Gefährts, das schon in mehreren Ausstellungen gezeigt wurde. Derzeit ist es im Automuseum Dr. Carl Benz in Ladenburg zu sehen.
Auch bei 1:1-Nachbauten hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan. Der Verein Mobile Welten aus Hannover hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Schlörwagen nachzubauen. Im Gespräch mit dem NDR sagte Vereinsmitglied Horst-Dieter Görg 2024, dass sie 2019 bei einem Sammler im Westerwald drei originale, wenn auch desolate Mercedes 170 H entdeckt hätten. Mit den Teilen würden - parallel mit der Central Garage in Bad Homburg - aktuell zwei Schlörwagen aufgebaut, so Görg.
Die Mobile Welten wollen eine sogenannte teilgeschnittene Variante aufbauen, welche die Technik - teilweise durch Acrylglas abgedeckt - von außen nachvollziehbar macht. Die Version der Central Garage hingegen soll vollständig sein. Die beiden Teams stehen nach eigenen Aussagen in einem engen Austausch miteinander und wollen ihre Erfahrungen gemeinsam nutzen. Allerdings sind die Arbeiten nicht ganz einfach und brauchen Zeit. Außerdem gehen sie ins Geld. Die Schlörwagen-Nachbauer können jede Unterstützung gebrauchen, damit das Auto auf die Straße kommt.