Historische Aufnahme vom Friedhof Pankow, hinter einem Grabstein vor der Friedhofsmauer ist ein auf das Bild aufgemalter Pfeil zu sehen, der auf ein Loch deutet, darüber steht "Einstieg". © BStU

DDR-Tunnelflucht: Die Frau, die in ein Grab stieg und verschwand

Stand: 19.12.2024 00:15 Uhr

Sie hat in der DDR ein gutes Leben, dennoch entschließt sich Hannelore Froese kurz nach dem Mauerbau zur Flucht. Dafür steigt sie in ein Grab und gelangt durch einen Tunnel nach West-Berlin. Seither lebt sie in Hamburg.

von Daniel Sprenger, NDR.de

Es ist der Abend des 18. Dezember 1961, als es bei Hannelore Froese und ihrem Mann im Ost-Berliner Stadtteil Pankow klingelt. Eine Freundin steht vor der Tür und wird von Rüdiger Froese mit den Worten "Na, du hast wohl ein Loch in der Mauer gefunden!" begrüßt - aus Spaß, erinnert sich Hannelore Froese 63 Jahre später in ihrer Küche in Hamburg-Hamm im Gespräch mit dem NDR. "Er ahnte ja nicht, dass das stimmte." Denn Waltraud Niebank will fliehen, am nächsten Vormittag bereits - durch einen Tunnel in den Westen. Und die Froeses könnten auch mit, bietet sie ihnen an. "Sie brachte uns einen Fluchtplan, den wir uns aber so merken und dann verbrennen mussten", erzählt Froese.

Die Eheleute müssen sich noch an diesem Abend entscheiden: "Entweder gehen wir mit ihr oder nie", sagt die 1937 geborene Froese. Sollen sie Hals über Kopf die DDR und ihr bisheriges Leben hinter sich lassen oder nicht? "Wir haben sofort Ja gesagt."

Ein gutes Leben in der DDR - aber "politisch immer enger"

Hannelore Froese sitzt in ihrer Wohnung in Hamburg-Hamm. © NDR Foto: Daniel Sprenger
Hannelore Froese lebt seit ihrer Flucht aus der DDR in Hamburg.

Dabei hatte Hannelore Froese in der DDR ein sehr gutes Leben, wie sie rückblickend immer noch findet. "Ich bin hofiert worden. Den glücklichsten Weg, den man einem Menschen gönnen kann, den hatte ich durch den Sport." Denn seit ihrem 13. Lebensjahr turnt Froese, zunehmend professioneller und erfolgreicher. Sie wird staatlich gefördert, erhält zunächst zusätzliche Essensmarken und später auch Geld - "und vor allem jeden Tag ein Steak in der Kantine". Sie wird Leistungsturnerin und erst Jugendmeisterin, dann DDR-Meisterin an unterschiedlichen Geräten. Einmal darf sie wegen ihrer Erfolge dem Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht die Hand schütteln. "Ich wurde wirklich in den Himmel gehoben im Osten", sagt Froese. Nach ihrer sportlichen Karriere beginnt sie ein Fernstudium als Diplom-Sportlehrerin und arbeitet an einer Schule in Pankow.

"Aber es wurde politisch schwieriger. Ich war nicht in der FDJ, ich war kein Junger Pionier, ich war nicht in der Partei", erzählt Froese. "Ich war Hochleistungssportlerin, dadurch konnte ich mich immer rausreden. Aber irgendwann kam der Zeitpunkt, wo gesagt wurde, ich müsste ja mal ..." Als sie und ihr Mann von einem Besuch in West-Berlin in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 zurückfahren wollen, heißt es, dass es keine S-Bahnen Richtung Ost-Berlin mehr gebe. Sie bekommt ein mulmiges Gefühl, dass nun wirklich eine Mauer gebaut werden könnte. "Ob ich das dann auch ausgesprochen hätte oder die Straßenbahn klingelt, das hätte mir ja keiner abgenommen", sagt Froese heute. Doch sie sollte Recht behalten. Der Mauerbau am 13. August 1961 zementiert die deutsche Teilung im wahrsten Sinne des Wortes. An jenem Tag bringt sie ihre Eltern, die schon länger ausreisen wollen, über die Grenze. Am Baumschulenweg müssen sie nur einen Graben überqueren und sind im Westen. Hannelore Froese und ihr Mann bleiben. "Wir haben gedacht, wir fahren zurück, wir wollten nicht rüber. Ich, die alles hatte ..." Doch in den Folgemonaten nimmt der politische Druck noch einmal zu. "Zum Schluss wollte ich auch rüber", sagt Froese. Und so nimmt sie den Fluchtvorschlag ihrer Freundin Waltraud Niebank wenige Monate später an.

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Am Berliner Wedding in der Bernauer Strasse stehen Volkspolizisten am 13. August 1961 mit Gewehren im Anschlag hinter einer Strassensperre aus Stacheldraht. © picture alliance / Konrad Giehr Foto: Konrad Giehr

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Die hatte kurz vor dem Mauerbau einen West-Berliner geheiratet und war zu ihm gezogen, ganz offiziell mit Umzugserlaubnis der ostdeutschen Behörden. Zwei, drei Tage nach dem 13. August fährt Niebank noch einmal zu ihren Eltern in den Osten. "Doch sie kommt nicht mehr zurück zu ihrem Mann", sagt Froese. Obwohl ihre Freundin mittlerweile sogar einen West-Berliner Pass hat, lassen die Grenzbeamten sie nicht ausreisen. "Mit den Worten, es herrsche Kriegszustand und was zuvor genehmigt worden sei, gelte jetzt nicht mehr, wird die Umzugserlaubnis vor ihren Augen zerrissen", heißt es in der "Chronik der Mauer", wo Niebanks Fluchtgeschichte erzählt wird. "Im Krieg sei es normal, dass Ehepaare lange getrennt seien."

Alle Versuche, beim DDR-Außenministerium, der sowjetischen Botschaft oder auch Walter Ulbricht persönlich ihre Ausreise zu beantragen, scheitern. Daraufhin heuert ihr Mann Lothar Niebank in West-Berlin Fluchthelfer an. Die sollen seine Frau über einen Tunnel zu ihm bringen.

Einstieg beim Familiengrab Schröder

"Der Fluchtplan ging von Pankow über den Friedhof in den Westen, und zwar beim Familiengrab Schröder", erinnert sich Hannelore Froese. Das lag damals auf dem Friedhof Pankow III direkt an der Außenmauer. Dahinter verlief nur noch ein Kolonnenweg der DDR-Grenztruppen. Die etwas erhöhte S-Bahn-Trasse gehörte bereits zum West-Sektor.

Um 10 Uhr am 19. Dezember 1961 sollen sich die drei Fluchtwilligen am Familiengrab Schröder einfinden - um den Schein von trauernden Angehörigen aufrechtzuerhalten, haben sie Tannenzweige als Grabschmuck dabei. Rüdiger Froese soll den Frauen mit einigem Abstand folgen. "Das wäre sonst ja sofort aufgeflogen", meint Hannelore Froese.

Das Familiengrab Schröder habe in etwa in der Mitte der Friedhofsmauer gelegen. "Wir Frauen haben es sofort gefunden." Schröder sei zwar zusammen mit Meier und Schulze ein Name, der auf diesem Friedhof sehr häufig vertreten gewesen sei, doch sei es ja logisch, entlang der Mauer nach dem richtigen Schröder-Grab zu suchen. "Denn es musste ja der kürzeste Weg in den Westen sein."

Karte: So lief die Tunnelflucht am 19. Dezember 1961 ab

Tannenzweige auf dem Grab werden angehoben, der Tunnel öffnet sich

Pünktlich um 10 Uhr hebt sich der Tannenschmuck, der auf dem Grab liegt - von unten! Ein Fluchthelfer taucht auf und sagt: "Bitte folgen Sie mir." Später habe er sich mit seinem Spitznamen Kiki vorgestellt. Er sei ein West-Berliner Student gewesen, der sich mit einigen Kommilitonen als Fluchthelfer betätigt habe. Bereits im September 1961 flohen DDR-Bürger durch diesen Tunnel. Er gilt als der erste dokumentierte Fluchttunnel aus der DDR überhaupt. Lothar Niebank zahlt Kiki und seinen Freunden für die Fluchthilfe für seine Frau 650 D-Mark, die Froeses dürfen so mit.

Historische Aufnahme des Fluchttunnels unterhalb des Friedhofs Pankow; die Wände und die Decke sind mit Balken abgestützt. © BStU
Der Tunnel war nur rund 80 Zentimeter hoch und wurde von Holzbalken gestützt. Diese Aufnahme hat die Stasi nach der Entdeckung des Tunnels gemacht.

"Dann sind wir in den Tunnel gesprungen", sagt Froese. Der sei rund 80 Zentimeter hoch und mit Holzpfeilern abgestützt gewesen. "Da mussten wir kriechen." Beschwerlich sei es gewesen, vor allem, weil sie möglichst viele ihrer Kleidungsstücke angezogen hatte. Sonst nimmt sie außer ihren Papieren nichts mit. Etwa 28 Meter lang geht es auf allen Vieren unter der Friedhofsmauer und dem Kolonnenweg hindurch in den Westen. "Dort ging es so ein bisschen schräg hoch, dann kam eine Holzleiter und dann waren wir gesichert."

Mann findet das richtige Grab nicht

Eigentlich habe alles super funktioniert. "Aber mein Mann war nicht da, der fand das Familiengrab Schröder nicht", erinnert sich Froese. Anstatt nur entlang der Außenmauer danach zu suchen, sei er auf dem Friedhof ohne Erfolg umhergeirrt, was sie von der etwas erhöhten S-Bahntrasse im Westen aus beobachten konnte. "Ich wurde wahnsinnig."

Zweiter Versuch am nächsten Tag

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Zum Glück habe der Fluchtplan aber vorgesehen, dass bei Problemen am Folgetag zur selben Zeit ein neuer Versuch unternommen werden sollte. "Kiki hat mir hoch und heilig versprochen, er holt meinen Mann am nächsten Tag." Das macht er auch - und bringt sich selbst in Gefahr, denn Herr Froese findet das Grab wieder nicht.

Also muss Kiki ihm helfen: "Er steigt aus dem Grab raus, holt meinen Mann und bringt ihn auch rüber", beschreibt Froese die nervenaufreibenden Minuten. Er sei der 28. und zugleich der letzte gewesen, der durch diesen Tunnel in den Westen gelangte.

Wochenlange Verhöre durch US-Soldaten - und die ersten Cornflakes

Dort werden die Froeses zunächst wieder getrennt und nach Oberursel geflogen. Amerikanische Soldaten befragen sie unabhängig voneinander, Hannelore Froese über vier Wochen lang, ihren Mann noch länger. Denn die beiden hätten ja auch Kriminelle - oder noch schlimmer: Spione sein können. Doch die Amerikaner behandeln sie gut. "Dort habe ich meine ersten Cornflakes essen dürfen", sagt Froese. Die amerikanischen Soldaten seien mit ihr zudem in Armee-Jeeps in die Frankfurter Innenstadt gefahren - zum Einkaufen.

Schließlich kommen die Froeses bei einer Großtante in Hamburg unter. Um die Ecke findet sich die traditionsreiche Hamburger Turnerschaft von 1816. "Die haben mich mit Kusshand aufgenommen", sagt Froese. Dort arbeitet sie als Trainerin, ehe sie der Hamburger Sportbund als bundesweit erste Trainerin in der Rhythmischen Sportgymnastik fest anstellt.

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In seinem Abschlussbericht vermerkt das Ministerium für Staatssicherheit: "In dem vorliegenden Ermittlungsverfahren wird der Beweis angetreten, dass das Anlegen von unterirdischen Stollen von West-Berlin aus in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik zu einer Methode bei der Organisation des Menschenhandels geworden ist."

Was die Stasi als "Menschenhandel" bezeichnet, war für die Froeses, Waltraud Niebank und die anderen Geflüchteten der Weg in die Freiheit.

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