1984: Barkasse "Martina" sinkt im Hamburger Hafen - 19 Tote

Stand: 02.10.2024 00:00 Uhr

Mit 43 Menschen an Bord startet die Barkasse "Martina" am 2. Oktober 1984 zu einer fröhlichen Geburtstagsfeier auf der Elbe. Doch nur 24 überleben die Fahrt. Denn: Das Schiff kollidiert mit einer Schute und sinkt.

von Janine Kühl

Es beginnt als fröhliche Geburtstagsfeier und endet mit einem der schwersten Unglücke im Hamburger Hafen: Am 2. Oktober 1984 feiert Wolfgeorg Rosenhagen mit 41 Gästen seinen 40. Geburtstag - auf der Elbe. Für 350 Mark hat er die Barkasse "Martina" angemietet. An Bord wird ausgelassen gefeiert. Musik hallt übers Wasser. Es gibt Bier für die Erwachsenen und Waldmeister-Limonade für die Kinder.

Gegen 19 Uhr steuert Barkassenführer Ulrich Wruck die Geburtstagsgesellschaft durch die Dunkelheit in Richtung Landungsbrücken. Nach einem Abstecher in den Köhlbrand will er zurück in den Hauptarm der Elbe biegen. Zu diesem Zeitpunkt ist Rosenhagen bei Wruck, bietet ihm ein Bier an, das der Schiffsführer vorbildlich ablehnt.

Barkasse sinkt in Sekundenschnelle

"Was ist denn das? Ja gar kein Licht an", sagt Wruck plötzlich, dann gibt es einen lauten Knall. Die "Martina" kollidiert mit einer Schute, die von dem Schlepper "Therese" elbaufwärts gezogen wird. Der Bug der Schute drückt die Barkasse nieder, sodass sie mit Wasser vollläuft und innerhalb von Sekunden sinkt. Im lediglich zwölf Grad warmen Wasser der Elbe schwimmen schreiende Menschen. Die Besatzungen von Schlepper und Schute eilen zur Hilfe und retten 22 Personen. Zwei Geburtstagsgäste werden von dem herbeigeeilten Schlepper "Johanna" an Bord genommen.

350 Rettungskräfte im Einsatz

Bergungschiffe heben am 3. Oktober 1984 die gesunkene Barkasse "Martina" im Hamburger Hafen. © picture-alliance / dpa Foto: Werner Baum
Etliche Einsatzkräfte sind an der Bergung der Opfer und der Barkasse beteiligt.

Nach dem Notruf der "Therese" sind innerhalb kürzester Zeit mehr als 40 Schiffe von Polizei, Feuerwehr und Zoll an den Unglücksort geeilt. Mit starken Scheinwerfern suchen die Einsatzkräfte das Wasser nach weiteren Schiffbrüchigen ab, der Schiffsverkehr wird für drei Stunden gestoppt. Auch die Uferböschungen beziehen die Rettungskräfte in ihre Suche mit ein. Doch sie können nur noch Tote bergen. Nach vier Stunden bricht Joachim Peters, Chef der Wasserschutzpolizei, die nächtliche Suchaktion ab.

Unglück fordert 19 Todesopfer

Die havarierte Barkasse "Martina" im Hamburger Hafen nach der Bergung am 3. Oktober 1984 © picture-alliance / dpa Foto: Cornelia Gus
Die havarierte "Martina" liegt einen Tag nach dem Unglück vertäut im Hafen.

Am nächsten Morgen wird die "Martina" aus zwölf Metern Tiefe geborgen. An Bord finden die Einsatzkräfte weitere Tote, darunter ein Baby, das noch in seinem Kinderwagen an Deck liegt. Auch der 66-jährige Schiffsführer Wruck befindet sich unter den Opfern. Viele bleiben allerdings noch wochenlang verschollen. Der fünfjährige Sohn von Wolfgeorg und Gudrun Rosenhagen, Matthias, wird erst am 19. Oktober tot am Ufer des Köhlbrands geborgen. Sein siebenjähriger Bruder Guntram wird nie gefunden. Von den 43 Geburtstagsgästen haben nur 24 überlebt. Unter den 19 Toten befinden sich elf Kinder, viele Familien haben einen oder gar mehrere Angehörige verloren.

Seeamt befindet Barkassenführer für schuldig

Die Ursache für die tödliche Kollision ist nicht eindeutig. Über Wochen mutmaßen Hamburger Medien über einen technischen Defekt, fehlende Beleuchtung des Schleppverbandes oder die eingeschränkte Sehkraft des Barkassenführers. Eine vollständige Klärung des Unglücks bringt auch die Untersuchung vor dem Seeamt nicht. Mitte Dezember 1984 befindet das Seeamt den Barkassenführer Wruck für schuldig. Da das Seeamt kein ordentliches Gericht ist, dient sein Urteil lediglich als Grundlage für spätere Schadens- und Versicherungsfragen.

Stichwort: Barkasse

Ursache unklar: "Ein Versehen"

Bei einem Barkassenunglueck wurden am 2. Oktober 1984 im Hamburger Hafen 19 Menschen getötet. Die Polizei sichert anschließend Spuren am Wrack. © picture alliance / rtn - radio tele nord Foto:  rtn, Peter Wüst
Spurensuche nach dem Unglück.

Die Untersuchungen ergeben, dass die Beleuchtung des Schleppzuges korrekt gewesen sei. Der Kapitän der "Therese", Günther Peinemann, habe sich vorbildlich verhalten. Ein Gutachten legt die Vermutung nahe, dass der 66-jährige Wruck aufgrund einer Sehschwäche den Schleppverband nicht rechtzeitig erkannt habe. Wegen einer Netzhautnarbe habe er in der Dunkelheit wahrscheinlich nur mit einem Auge sehen können und sei mit voller Kraft in den Schleppzug gefahren. Womöglich habe er die Petroleumlampe auf der Schute für ein Licht am gegenüberliegenden, beleuchteten Ufer gehalten.

Der Vorsitzende Gerd Moritz äußert die Vermutung, dass "ein Versehen, wie es 100 Mal gut geht und einmal zu so einer Katastrophe führt" der Grund für das Unglück gewesen sei. Dennoch zeigen die Seeamtsverhandlungen deutlich, dass die gültigen Vorschriften in Bezug auf das Sehvermögen der Schiffsführer, die Beleuchtung der Schiffe, die Sicherheit der Barkassen und den Funkkontakt der Barkassenführer mit der Berufsschifffahrt reformbedürftig sind. So ist das Dach der "Martina" so eingedrückt gewesen, dass die Rettungsringe unter den Sitzbänken eingeklemmt waren. In Teilbereichen erlässt die Hafenbehörde zügig neue, strengere Vorschriften.

Trauergottesdienst im Michel

Blick auf den Turm der Hauptkirche St. Michaelis. © NDR Foto: Anja Deuble
Das Drama auf der Elbe entsetzt die Hamburger. Zu der zentralen Trauerfeier im Michel kommen 1.000 Trauergäste.

Zu einem Gottesdienst für die Opfer des Barkassenunglücks am 11. Oktober 1984 in der St. Michaelis-Kirche kommen rund 1.000 Trauergäste - unter ihnen etwa 100 Angehörige der Toten und Vermissten. Spürbar betroffen wendet sich der damalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi in seiner Rede an die Hinterbliebenen: "Trauer liegt über unserer Stadt. Wir teilen Ihren Schmerz." Bereits zuvor hatte Innensenator Rolf Lange den Untergang der "Martina" als "schreckliches Unglück" bezeichnet den Hinterbliebenen im Namen des Senats sein Beileid ausgedrückt.

Hohe Spendenbereitschaft hilft Hinterbliebenen

Die Hamburger Bürger zeigen große Anteilnahme - mit Karten, Blumen und nicht zuletzt Geldspenden. Denn viele Kinder sind zu Halbwaisen geworden, Frauen und Männer haben ihre Partner verloren. Zahlreiche Hinterbliebene geraten in eine finanzielle Notlage. Zunächst gesteht die Versicherung lediglich einen Schadenersatz von insgesamt 125.000 Mark zu - kaum genug, um die Beerdigungskosten zu decken, so der Kommentar einiger Hamburger Zeitungen. Auf einem Sonderkonto des Diakonischen Werkes kommen bis Ende 1984 fast 400.000 Mark aus Privat-, Firmen- und Vereinspenden zusammen.

Der Hamburger Sportverein ist zum Beispiel mit 100.000 Mark beteiligt. Der Verein initiiert zudem ein Benefizspiel zwischen der deutschen und der ungarischen Nationalmannschaft im Volksparkstadion. Das Spiel findet im Januar 1985 statt und bringt - zusammen mit weiteren Spenden - einen Erlös von über 500.000 Mark ein. Und auch die Versicherung zahlt nach Verhandlungen mit den Hamburger Barkassenbesitzern schließlich eine Million Mark an die Hinterbliebenen

Ein Leben nach der Tragödie

In einem offenen Brief bedanken sich die Überlebenden am 22. Dezember 1984 im "Hamburger Abendblatt" für jegliche Unterstützung und äußern zugleich den Wunsch nach Maßnahmen, die ein weiteres Unglück verhindern sollen. Insbesondere Wolfgeorg Rosenhagen setzt sich für mehr Sicherheit im Hamburger Hafen ein. Er sei nicht schuldig, fühle sich aber doch verantwortlich für das Geschehene. Die Rosenhagens bekommen zwei weitere Söhne, wollen eine ganz normale Familie sein. Dennoch bestimmt die Tragödie ihr Leben, wie auch das der übrigen Hinterbliebenen.

Barkassen: Umbauten für 100.000 Euro

Menschen fahren auf der Barkasse "Klein Fritzchen" bei einer Hafenrundfahrt auf der Elbe. © picture alliance / dpa Foto: Markus Scholz
Die teilweise fast 100 Jahre alten Barkassen gehören für viele zum Hafenbild dazu. Umbauten sollen sie sicherer machen.

Bis heute ist die Sicherheit der Barkassen ein heiß diskutiertes Thema. 2006 will die Hamburger Hafenbehörde den Umbau der 84 Barkassen im Hamburger Hafen durchsetzen. Zusätzliche Luftkammern, schnell schließbare Schotten, frei zugängliche Rettungsmittel und ein kleineres Panorama-Dach sind zentraler Bestandteil der Forderungen. Die Barkassenbesitzer protestieren wegen der hohen Kosten. Seit 2013 sind die meisten Barkassen entsprechend den neuen Verordnungen umgebaut - bei einer Investition von bis zu 100.000 Euro pro Schiff keine leichte Aufgabe für die oft kleinen Unternehmen, aber unumgänglich, um ein Unglück wie das vom 2. Oktober 1984 zu vermeiden.

Weitere Informationen
Fotos vom Barkassenunfall im "Hamburger Abendblatt" von 1972

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Blick auf den Hamburger Hafen im frühen 19. Jahrhundert. © picture-alliance / Mary Evans Picture Library

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Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 29.09.2024 | 19:30 Uhr

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