Bücher für alle: Bürger gründen Hamburger Bücherhalle
Am 2. Oktober 1899 eröffnet in Hamburg eine Öffentliche Bücherhalle - gegründet von Bürgern der Stadt. Der Senat sieht lange keine Notwendigkeit, breiten Schichten der Bevölkerung Zugang zu Büchern zu ermöglichen.
Als an jenem Oktobertag in der Neustadt Hamburgs erste Bücherhalle ihre Pforten öffnet, ist das Interesse so groß, dass sich schon mittags Hunderte Menschen in den Lesesälen drängen. Auf die dort ausliegenden Zeitungen und Bücher können sie kaum einen Blick werfen. Und in der Ausleihstelle im ersten Stock haben die Bibliothekare alle Hände voll zu tun, um die Bestellungen aus dem Magazin herbeizuschaffen.
Exklusive Bibliotheken für die Elite
Dabei gibt es in der Hansestadt schon seit Jahrhunderten Bibliotheken. Aber während etwa die Ratsbibliothek den Gelehrten, die Commerzbibliothek den Kaufleuten vorbehalten sind und professionelle Leihbibliotheken Geld kosten, fehlt es bisher an Einrichtungen, in denen sich breite Schichten günstig mit dem teuren Lesestoff versorgen können. Auch in anderen deutschen Städten sieht es ähnlich aus.
Bücher für alle
Dagegen wendet sich ab den 1880er-Jahren die Bücherhallenbewegung. Sie stützt sich auf britische und amerikanische Vorbilder, die Public Librarys, und fordert auch für den deutschen Sprachraum Institutionen mit Lesesaal, kostenloser Ausleihe und ausgedehnten Öffnungszeiten. Im Gegensatz zum gelehrten Terminus "Bibliothek" verwendeten sie ausdrücklich den allgemeinverständlichen Begriff "Bücherhalle". Sie wollen gehobene Literatur und Bildungsmöglichkeiten für die gesamte Bevölkerung bereitstellen.
Hamburger Bürgerintiative für das Buch
In Hamburg übernimmt schon bald ein junger Jurist die Initiative, Eduard Hallier, der Sohn eines wohlhabenden, sozial engagierten Hamburger Architekten. Auf einer Reise durch Großbritannien und die USA Anfang der 1890er-Jahre studiert er die dortigen öffentlichen Bibliotheken gründlich. Fortan sucht er in der Hansestadt Mitstreiter und Finanziers für sein Vorhaben.
Senat und Kaufleute sind gegen Bildung für das Volk
Doch der Senat sieht es nicht als seine Aufgabe an, "der Allgemeinheit Zugang zur Literatur zu verschaffen", wie Matthias Gretzschel und Anne Burfeind in ihrer Schrift zum 100-jährigen Jubiläum der Bücherhallen 1999 schreiben ("Hamburgs Bücherhallen. Eine Jahrhundertgeschichte"). Und die vermögenden Kaufleute, Reeder und Fabrikbesitzer befürchten sogar, dass von den Büchern Gefahren ausgehen, dass etwa die Lehrlinge "mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Tätigkeit vernachlässigen" würden, wenn sie Bücher in die Hand bekämen. So beschreibt es Hallier in seinen Lebenserinnerungen.
Hallier setzt den Bürgermeister unter Druck
Erst als er den Werftgründer Hermann Blohm, den Industriellen Robert Schülke sowie die Patriotische Gesellschaft überzeugen kann, sind auch vermögende Hamburger bereit, Geld für eine Volksbibliothek zu spenden. Widerwillig stellt nun auch der Senat ein heruntergekommenes Gebäude bereit, das in der Straße Kohlhöfen, "auf den Kohlhöfen", wie man damals sagt, neben der Synagoge liegt. Doch erst als Hallier droht, an die Öffentlichkeit zu gehen, stimmt Bürgermeister Johann Georg Mönckeberg zähneknirschend zu, es auf Staatskosten sanieren zu lassen.
Die Bücherhalle wird ein großer Erfolg
Der Andrang bleibt nach der Eröffnung unverändert. Mehr als 3.000 Menschen besuchen die Bücherhalle allein in der ersten Woche. Bald sind 1.100 der 6.000 Bücher ausgeliehen. Nach 14 Tagen veröffentlicht die Bücherhallenleitung einen "Nothschrei": Es fehle vor allem an Reisebeschreibungen und Werken über Technik und Gewerbe, die ständig vergriffen seien. Und Werke von besonders beliebten Autoren wie Theodor Storm, Gustav Freytag und Ludwig Ganghofer würden täglich bis zu 80 Mal verlangt. Auch werden dringend ehrenamtliche Helfer für die ausgedehnten Öffnungszeiten gesucht. Denn die Bücherausgabe erfolgt werktags an fünf, sonntags an zwei Stunden. Die Lesesäle haben zehn, am Sonntag zwölf Stunden geöffnet, von 10 bis 22 Uhr.
Selbst Laufburschen lesen jetzt
Die Statistik von 1905 meldet fast 26.000 Leser, mehr als 8.000 Leserinnen und knapp 4.500 Kinder. Das Konzept geht auf: Ein Drittel der Nutzer besteht aus Handwerkern und Arbeitern, zehn Prozent sind kleinere Angestellte und je fünf Prozent Techniker sowie "Boten, Laufburschen und Hausknechte". Bei den Frauen überwiegen die berufslosen Leserinnen, die das kostenlose Bildungsangebot begeistert nutzen. Denn im Kaiserreich ist ihnen der Besuch eines Gymnasiums in der Regel verwehrt, die Ausbildung nur in wenigen Berufen, etwa als Verkäuferin, Kontoristin oder Schneiderin, erlaubt, ein Studium gar noch lange verboten.
Die Buchbestände sind in "schöne Literatur", also vor allem Romane beliebter Schriftstellerinnen und Schriftsteller, und "belehrende Literatur" unterteilt. Dazu gehören etwa Sprachlehrwerke, Bücher über Naturwissenschaften, Geografie, Kunst, Technik und Geschichte, Biografien und Hamburgensien. Außerdem wird von Anfang an Kinder- und Jugendliteratur vorgehalten. Etwa der Abenteuerroman der Altonaer Erfolgsschriftstellerin Sophie Wörishöffer, "Onnen Visser, der Schmugglersohn von Norderney".
Die Bücherhalle expandiert
Bis 1909 wird an den Kohlhöfen ein Neubau errichtet, der jetzt über 28.000 Bücher verfügt. Zusammen mit einem Bibliothekar ist der Architekt nach England gefahren, um sich in den dortigen Public Librarys über die Anforderungen eines modernen Bibliotheksbaus zu informieren. Ihre größte Neuerung ist der Freihandbereich in Deutschland, in dem die Leserinnen und Leser sich die Bücher selbst aussuchen können. Inzwischen gibt es Bücherhallen auch am Pferdemarkt, in den Arbeiterstadtteilen Rothenburgsort, Barmbek und Hammerbrook und in der Hamburgischen Exklave Cuxhaven.
Umwandlung in eine Stiftung
Nach dem Ersten Weltkrieg lässt die finanzielle Lage der Patriotischen Gesellschaft den Weiterbetrieb der Bücherhallen in eigener Regie nicht mehr zu. Sie werden in eine Stiftung überführt, die fortan noch stärker von der meistens knappen Unterstützung des Senats abhängig ist, der es aber noch immer nicht als vorrangige Aufgabe ansieht, die Weiterbildung der Bevölkerung zu finanzieren.
Bücherhalle wird zum Propaganda-Instrument
Nach der "Machtergreifung" im Januar 1933 wird die Bücherhalle unter staatliche Aufsicht gestellt und zu einem Instrument der NS-Propaganda umgewandelt. Der Direktor Wilhelm Schuster beeilt sich, eine Liste mit linken und Autoren jüdischer Herkunft anzulegen, die aus den Regalen zu entfernen sind. Dazu gehören Werke von Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann und Erich Kästner. Stattdessen werden vermehrt Bücher angeschafft, die der braunen Ideologie entsprechen. Besucherinnen und Besucher müssen jetzt mit dem "deutschen Gruß" empfangen werden. Jüdische Mitarbeiterinnen werden entlassen. "Juden" sind seit 1938 "unerwünscht".
Demokratische Erneuerung in der Bundesrepublik
Nach dem Krieg, in dem zahlreiche Filialen durch Bomben beschädigt oder zerstört worden sind, Tausende Bücher auch bei den Entleihern zu Hause verbrannten, werden die verbliebenen Bestände auf Anordnung der britischen Besatzungsmacht erneut "gesäubert", diesmal von Nazischriften. Der frühere Stiftungsauftrag aus der Weimarer Republik wird erneuert, allen Einwohnern der Hansestadt "das gute Schrifttum" zugänglich zu machen. Die Stadt unterstützt den Neuankauf von Büchern jetzt mit hohen Summen. Nach und nach werden auch Neubauten errichtet. 1961 gibt es bereits 96 Filialen, die über die Stadt verteilt sind, dazu eine Fahrbücherei und eine Musikbibliothek, die vor allem Noten bereithält. 1968 werden die Medien 4,5 Millionen Mal entliehen.
Die Bücherhallen in der Gegenwart
Bis heute hat sich an den ursprünglichen Zielen und Aufgabe der Bücherhallen wenig geändert. Sie ist noch immer eine gemeinnützige Stiftung, die von der Stadt gefördert wird. Hinzugekommen sind über die Jahre neue Veranstaltungsformen wie Lesungen mit Autorinnen und Autoren, Tauschbörsen, Weiterbildungsberatung, die Unterstützung von Deutsch lernenden Jugendlichen, eine E-Medien-Sprechstunde. 2011 zog die Zentralbibliothek an den Hühnerposten am Hauptbahnhof. Darüber hinaus existieren heute zwei Bücherbusse sowie Bücherhallen an 32 Standorten in der Stadt. Sie besitzen rund 1,8 Millionen Bücher und andere Medien, die im Jahr 2023 rund 13 Millionen Mal ausgeliehen wurden.
Platz 1 der Ausleihe ist ein Sprachlehrwerk
Am häufigsten verleihen die Hamburger Bücherhallen ein Sprachlehrwerk: "Mit Erfolg zu telc Deutsch B2" aus dem Bereich Deutsch als Zweitsprache - insgesamt bislang 4.434 Mal (Stand: 2024). Bei den Romanen liegt Bernhard Schlinks "Der Vorleser" aus dem Jahr 1995 vorn, die Geschichte einer ungleichen Liebe zwischen einem Jugendlichen und einer mysteriösen Frau, deren Geschichte als KZ-Wärterin nach und nach enthüllt wird. Im Kinderbereich führt das Wissensbuch "Entdecke die Ritter" aus der Reihe "Wieso? Weshalb? Warum?" Bei den Spielfilm-DVDs wird "Lost in Translation" (2003) der US-amerikanischen Regisseurin Sofia Coppola mit Bill Murray und Scarlett Johansson in den Hauptrollen am meisten ausgeliehen.