"Föhr nach New York": Spurensuche in der Familiengeschichte
Der Hamburger Musiker Bente Faust erzählt in einem neuen Podcast von NDR Schleswig-Holstein und der Ferring Stiftung in Kooperation mit Honig & Gold die Auswanderergeschichte seiner Großeltern zwischen Krise und Weltkrieg.
Mai 1927: Ein kleines blondes Mädchen betritt mit ihrer Mutter und ihren beiden jüngeren Schwestern zum ersten Mal den Boden von New York City. Inge Ketelsen kann bisher kein Wort Englisch sprechen, nur Friesisch und Hochdeutsch. Aber sie wird hier, mitten im Stadtteil Harlem, ihre Kindheit verbringen. Ihr Vater Riewert war schon einige Jahre zuvor ausgewandert, nun ist ihm der Rest seiner Familie von Föhr gefolgt. Inges Vater hatte damals als Milchmann in New York angefangen, mittlerweile besitzt er einen eigenen Deli, eine Art Feinkostladen.
Wortwörtliche Spurensuche auf Föhr und in New York
Zur gleichen Zeit in der nordfriesischen Heimat: Der achtjährige Hermann Rickmers genießt seine Bullerbü-Kindheit auf Föhr. Er spielt mit Murmeln, streift durch die Felder, geht angeln und schwimmen. Kaum zu glauben, dass sich seine Wege in den kommenden Jahren immer mal wieder mit denen von Inge kreuzen - und dass die beiden einmal in der Weltstadt New York zueinander finden werden.
Als Inges und Hermanns Enkel Bente Faust 1994 zum ersten Mal Bruchstücke dieser Geschichte hört, ist er fasziniert. Der Musiker und Produzent aus Hamburg hat viele Sommer in der Kindheit bei seiner Ualmam auf Föhr verbracht - Ualmam ist das friesische Wort für "Oma". Dass sie mal in den USA gelebt hatte, wusste er natürlich. Aber all die Einzelheiten, die hatten ihn bisher nicht interessiert. Später interviewt er Inge mehrfach, zeichnet die Gespräche auf - ein Sprachenmix aus Friesisch, Englisch und Deutsch. Und er reist nach New York, besucht die Orte, an denen seine Oma lebte. "Jetzt kam irgendwie die Gelegenheit, dass wir gesagt haben: Jetzt könnte man diese Schatzkiste mal auspacken und gucken, was da drin ist", sagt er. Die Aufnahmen sind Teil des Podcasts "Föhr nach New York. Eine Auswanderergeschichte." Den gesamten Podcast gibt es ab dem 8. November auch auf Fering, dem Föhrer Friesisch.
Die USA als Traum vieler junger Friesen
Inge, ihre Eltern und Schwestern sind damals längst nicht die einzigen, die sich auf den langen Weg über den Atlantik nach New York machten: "Es sind sehr, sehr viele Nordfriesen ausgewandert, schätzungsweise zehn bis zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts", so Robert Kleih. Er ist Sprachwissenschaftler, leitet die Ferring Stiftung auf Föhr und kümmert sich insbesondere um die Erforschung der friesischen Sprache und Kultur.
Die Gründe dafür seien vielfältig gewesen: Das sehr ländliche, abgeschiedene Leben an der Westküste war entbehrungsreich. Und die meisten Familien hatten viele Kinder, von denen natürlich längst nicht alle den elterlichen Hof übernehmen konnten. "Irgendwann kam dann dieses Deli-Business in New York dazu", erzählt Daniel Hautmann, der den Podcast gemeinsam mit Bente Faust umgesetzt hat. Viele der rund 2.000 Friesen in New York verdienen so in den 1920er-Jahren ihr Geld. Und viele junge Männer wittern ihre Chance auf ein neues Leben in den USA.
Eine eigene kleine Gemeinschaft in der Ferne
"Das hat Oma auch erzählt, dass damals immer andere Leute von Föhr für eine Saison bei ihnen wohnten. Die kamen rüber, um ein halbes Jahr in New York zu arbeiten, Geld zu machen und dann wieder nach Hause zu fahren", sagt Bente Faust. Ohnehin sind die Friesen in der Weltstadt bestens vernetzt: Schon 1884 wird in einem Saloon der Föhrer Jappen-Brüder der "Föhrer und Amrumer Kranken- und Unterstützungs-Verein von New York und Umgegend" gegründet.
Robert Kleih erklärt im Podcast, wie der Verein zustande kam: "Es gab ja keine Krankenversicherung in Amerika. Und da war die Idee, wir schließen uns zusammen und machen eine eigene kleine Versicherung. Jeder zahlt Geld ein und im Krankheitsfall kann man solidarisch unterstützt werden." Doch der Verein ist viel mehr als das: Ein Stück Heimat in der Fremde, eine Anlaufstelle für alle Probleme. Heiratsbörse, Festausrichter - und die Rettung in der Weltwirtschaftskrise mit einem eigenen kleinen Bankensystem.
Die Weltwirtschaftskrise zieht jahrelange Folgen nach sich
Als 1929 die Börse in New York zusammenbricht, hat das auch Folgen für Inges Familie. "Da waren überall Schlangen vor den Suppenküchen", erinnert sich Inge im Interview. Noch Jahre später lassen viele Kunden im Deli ihres Vaters nur anschreiben. Das ist ein Detail seiner Familiengeschichte, das Bente Faust besonders beschäftigt:
"Dann wird Zeitgeschichte plötzlich interessant, wenn du so einen persönlichen Bezug bekommst. Vom Börsencrash hat man vielleicht in der Schule im Geschichtsunterricht gehört. Aber wenn dann meine Oma erzählt, wie sie als 16-Jährige die Schulden von ihrem Vater eintreiben musste, bekommt das plötzlich eine ganz andere Tiefe." Bente Faust
Übrigens lebt Hermann mittlerweile auch in New York - auch, wenn er das ganz anders geplant hatte. Er arbeitet im Deli seiner Brüder und trifft schließlich auf Inge, die er schon von Sommerurlauben auf Föhr kannte. Die beiden werden ein Paar, blicken wegen des Zweiten Weltkriegs aber plötzlich in eine ungewisse Zukunft.
Wenn der Weltkrieg alles durcheinander wirbelt
Drei Wochen nach ihrer spontanen Hochzeit muss Hermann nämlich an die Front nach Europa - für die Amerikaner. Eine Sache habe ihm dabei "horrormäßig Angst gemacht", erzählt Bente im Podcast: "Was ist, wenn ich drüben, auf der anderen Seite, jemanden sehe, den ich kenne und auf ihn schießen muss?" Wie es seinem Opa im Krieg letztlich erging, konnte Bente in unzähligen Briefen nachlesen. "Das Bild wurde so immer schärfer. Was haben die gemacht zu der Zeit? Wie war ihre politische Einstellung? Was waren deren Sorgen? Das war auf jeden Fall ein großer Schatz." Seine Recherche verarbeitet der Musiker in Songs, die auch im Podcast zu hören sind.
Monatelang bangt Inge um ihren Hermann, dann sehen sie sich endlich wieder. Auch der Kontakt in die Heimat ist nach Kriegsende wieder möglich. Und für die Familie auf Föhr sind die Auswanderer in New York die Rettung: Lebensmittel, Kleidung, Hygieneartikel - alles ist knapp in Deutschland. In den USA hingegen nicht. Inge und Hermann sind bei weitem nicht die einzigen, die unzählige Care-Pakete verschicken.
Ein Stück New York auch in der Föhrer Heimat
Fortan leben die beiden irgendwie zwischen den Welten. New York ist zwar die neue Heimat, hier sind ihre Kinder geboren worden, wachsen nun ganz ähnlich auf, wie Inge damals. Aber die Sehnsucht nach den Eltern und Geschwistern, dem ländlichen Föhr mit all den Freiheiten für die Kinder und nach dem Friesischen, wächst zunehmend. 1955 ergibt sich für Inge, Hermann und ihre kleine Familie dann eine einmalige Chance, in der Heimat wieder Fuß zu fassen. Aber ein Stück ihres alten Lebens in der Großstadt nehmen sie mit auf die Nordseeinsel - in Form eines Cocktails: Der Föhrer Manhattan ist bis heute "das Nationalgetränk" der Insel.
Bente Faust und Daniel Hautmann machen im Podcast mehrere Jahrzehnte Zeitgeschichte anhand des Lebens von Inge und Hermann lebendig und greifbar. Eine Liebesgeschichte zwischen einigen der größten Ereignissen des 20. Jahrhunderts. Und eine Auswanderergeschichte, die ihre Familie und die Insel Föhr bis heute prägt.
"Föhr nach New York. Eine Auswanderergeschichte." ist eine Koproduktion von NDR Schleswig-Holstein und der Ferring Stiftung in Kooperation mit Honig & Gold. Alle Folgen gibt es in der ARD Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.