Richard Ohnsorg, Gründer des Ohnsorg-Theaters in Hamburg © Ohnsorg Theater

Richard Ohnsorg: Theatermacher und Plattdeutsch-Pionier

Stand: 28.08.2024 00:00 Uhr

Fast jeder Hamburger kennt das Theater, das Richard Ohnsorg gegründet hat, die Kult-Bühne fürs Schauspiel op Platt. Er war ein Tausendsassa: Chef und Star - und ganz nebenbei noch Bibliothekar.

von Kathrin Bädermann

Richard Ohnsorg war nicht nur ein Mann mit mehreren Berufen, sondern auch mit zwei Gesichtern. Auf der Bühne gab er oft den Komischen. Dazu passte sein Äußeres gut: der runde Kopf mit den gütigen Augen unter buschigen Brauen, das neckische Lächeln. "Er war ein wirklich großartiger Schauspieler, ein hervorragender Typ, kauzig, witzig, trocken", sagte Ensemble-Mitglied Hilde Sicks über den Bühnen-Ohnsorg. Hinter der Bühne jedoch konnte er ein anderer sein. Ein strenger Macher, der zusah, dass der Laden läuft, mutig, rastlos, besessen. Sein größter Star, Heidi Kabel, erzählte einmal: "Er verlangte auch von allen Schauspielern eigentlich alles." War nicht genug Geld da für Kulissen und Kostüme, habe das Ensemble mit anpacken müssen beim Nähen und Malern, so Kabel. "Wenn er sagte, ihr müsst das zuwege bringen, dann musste das gemacht werden." 

Richard Ohnsorg, Gründer des Ohnsorg-Theaters in Hamburg © Ohnsorg Theater
AUDIO: Richard Ohnsorg: Der Hamburger Theatergründer (15 Min)

Teenager Richard will alles sein: Intendant, Regisseur und Star

Das Schulmuseum in Hamburg. © NDR Foto: Heiko Block
In diesem Gebäude fing Richard Ohnsorg im 19. Jahrhundert mit dem Theatermachen an.

Das Energische zeigte sich schon früh. Geboren wird Richard Ohnsorg am 3. Mai 1876. Er lebt mit seinen Eltern - der Vater ist Architekt - am Steindamm 14, direkt vis-à-vis vom Hansa-Saal, dem späteren Hansa-Theater. Ein paar Jahre lang besucht der junge Ohnsorg die Realschule in der Seilerstraße auf St. Pauli - die Schule nahe der Reeperbahn, in der sich heute das Hamburger Schulmuseum befindet. Das "Hamburger Privattheater", das die Primaner und Sekundaner dort 1890 gründen, hätte ebenso gut schon "Ohnsorg-Theater" heißen können: Der 14-jährige Richard ist Intendant, Regisseur und Hauptdarsteller in Personalunion. Er inszeniert den ersten Akt von Lessings Minna von Barnhelm und lässt es sich nicht nehmen, das sächsische Edelfräulein selbst zu spielen.

Der junge Ohnsorg schockt die Familie mit seinem Berufswunsch

Mit 16 erklärt er zu Hause, er wolle die Schule mit dem "Einjährigen" verlassen, dem einfachen Schulabschluss. Sein Ziel: Schauspieler werden. Die Eltern sind entsetzt, die Großmutter tobt. Sie soll, so die Legende, sogar mit Selbstmord gedroht haben: "Wenn du dat mookst, denn bummel ick mi op!" (Wenn du das machst, hänge ich mich auf!) Das schreibt Gerd Spiekermann in seinem reichhaltigen Buch "100 Jahre Ohnsorg-Theater" aus dem Jahr 2002. Der junge Ohnsorg fügt sich. Man schickt ihn aufs Gymnasium am Steintorplatz, wo er 1896 sein Abitur macht. Zum Studium der Philologie geht er nach Marburg, Berlin und Rostock und kehrt vier Jahre später mit einem Doktortitel nach Hamburg zurück. Der Wunsch, Schauspieler zu werden, bleibt - und wird sich auch wenig später bahn brechen. Doch vorerst schlägt er einen anderen Weg ein.

Bücher und Bildung für alle: Ohnsorgs zweite Mission

Richard Ohnsorg hat nämlich gleich zwei Karrieren gemacht. Eine auf der Bühne, und eine in der Bücherei. Im Studium hatte er einen Anhänger der Bücherhallenbewegung kennengelernt. Bücherhallen - also Leihbibliotheken - wurden um die Jahrhundertwende in vielen Städten gegründet. Sie sollten ein breites Publikum zum Lesen bringen. Die Idee gefiel Ohnsorg: Bildung für alle. 1901 heuert er deshalb bei Hamburgs erster öffentlicher Bücherei an. So wird er mit 25 Jahren Bibliothekar und bleibt es über drei Jahrzehnte lang. Bei seinem freiwilligen Ausscheiden 1935 trägt er den Titel Oberbibliothekar der Stiftung Hamburger Öffentliche Bücherhallen.

Theoter op Plattdütsch wird zum Erfolgsrezept

Schauspieler Richard Ohnsorg im Stück „De Fährkroog“, wahrscheinlich 1918 © Ohnsorg-Archiv
Ganz schön zerzaust: Richard Ohnsorg als Schauspieler im Klassiker "De Fährkroog", wahrscheinlich 1918.

Doch zurück zum jungen Ohnsorg und seiner anderen, der glamouröseren Karriere:  Ein Jahr nach seinem Start als Bibliothekar kann er dem Sog des Theaters nicht länger widerstehen. Er schaltet eine Anzeige: Er suche "feingebildete Damen und Herren aus angesehenen Kreisen" für eine Theatervereinigung, die "unter fachkundiger Leitung erstklassige Werke in möglichster Vollendung" aufführen wolle. 18 Männer und Frauen treffen sich daraufhin mit ihm in einem Lokal am Gänsemarkt und gründen die "Dramatische Gesellschaft Hamburg". Es ist der 12. Oktober 1902 - der Geburtstag des späteren Ohnsorg-Theaters. Am Anfang ist Ohnsorgs Truppe noch nicht festgelegt auf das, was später ihr Markenzeichen wird: das unterhaltende niederdeutsche Theater. Doch 1909 landet sie einen ersten Hit, der sie in diese Richtung schubst. Es ist die Inszenierung von Fritz Stavenhagens plattdeutschem Stück "Der Lotse". In der Hauptrolle: Richard Ohnsorg. Oder wie er sich da noch mit Rücksicht auf seine Stellung als Bibliothekar nennt: Richard Waldow. "Un so bün ick langsom op den Gedanken komen, man sull ook plattdütsch Theoter speelen", sagt Ohnsorg später.

Mit Gorch Fock auf Kneipentour über den Kiez von St. Pauli

Der Schriftsteller und Marinesoldat Johann Wilhelm Kinau alias Gorch Fock auf einer undatierten Aufnahme. © picture-alliance/ dpa
Mit dem Schriftsteller und Marinesoldaten Johann Kinau alias Gorch Fock verband Ohnsorg die Liebe zum Plattdeutschen.

Der ehrgeizige Ohnsorg will mehr. Mehr Erfolg, mehr Professionalität. Allein: Er hat nicht die Mittel. Seine Leute sind seinerzeit noch allesamt Laiendarsteller, die nach ihrer "richtigen" Arbeit zum Proben kommen. Kulissen und Kostüme werden improvisiert. Gespielt wird da, wo man sie lässt, etwa in Wirtshäusern oder Vereinsräumen. Dieses Provisorische macht Ohnsorg nervös: "Dat hett mi männigeen Sweetduppen kost't." (Das hat mich manchen Schweißtropfen gekostet.) Besonders zu schaffen macht ihm der Mangel an guten plattdeutschen Stoffen. Den Finkenwerder Schriftsteller Gorch Fock kann er überreden, für seine Gruppe Stücke zu schreiben. Eines verfassen sie sogar gemeinsam: "Die Königin von Honolulu". Im Zentrum der Komödie steht eine gleichnamige Hafenkneipe auf St. Pauli. Aus Recherchezwecken, so heißt es, seien Ohnsorg und Fock als Matrosen verkleidet über den Kiez gezogen. Die Inszenierung wird ein Erfolg, die Hauptrolle des Kneipenwirts Krischan Honolulu übernimmt, na klar, Ohnsorg. Die Premiere des Stückes im September 1916 erlebt Gorch Fock nicht mehr, er ist als Marinesoldat wenige Monate vorher bei der Seeschlacht am Skagerrak im Ersten Weltkrieg gestorben.

Das Ohnsorg-Theater wird zur Hamburgensie

Henry Vahl und Heidi Kabel in "Tratsch im Treppenhaus" © NDR
Den großen Ruhm seines Teams erlebt Ohnsorg nicht mehr: Henry Vahl und Heidi Kabel in den 60ern in "Tratsch im Treppenhaus".

"Ohnsorg und Fock wollten weg von den plattdeutschen Possenspielen und Schwänken des 19. Jahrhunderts", sagt Michael Lang, der aktuelle Intendant des Ohnsorg-Theaters, mit Blick auf diese wichtige Phase. "Das neue niederdeutsche Theater sollte gleichberechtigt stehen neben dem bürgerlichen hochdeutschen Theater, sich also als plattdeutsches Stadttheater verstehen." 1922 zementiert Ohnsorg die Ausrichtung aufs Plattdeutsche und nennt sein Theater "Niederdeutsche Bühne". Und jetzt wächst der Erfolg. In den 20er- und 30er-Jahren etablieren sich sein Ensemble und seine Inszenierungen, er holt Leute wie Heidi Kabel an Bord und schafft sich eine eigene Spielstätte in der Straße Große Bleichen. Die "Niederdeutsche Bühne" wird allmählich zur kulturellen Institution Hamburgs.

Ärger am Ende der Karriere

Historische schwarzweiß-Aufnahme von dem Schriftzug "Ohnsorg Theater" am ehemaligen Standort des Theaters in Hamburg in der Straße Große Bleichen © Screenshot
Die Ehrung des Erfinders: Seit 1946 heißt die Bühne Ohnsorg-Theater; hier eine spätere Aufnahme.

Doch dann beginnt der Zweite Weltkrieg, und das kulturelle Leben der Stadt kommt zum Erliegen. Und nach dem Krieg ist alles anders für Ohnsorg. Zwar nimmt sein Theater den Spielbetrieb schon kurz nach Kriegsende wieder auf, aber ohne ihn an der Spitze. Die Kulturverwaltung setzt ihm Rudolf Beiswanger als Intendanten vor die Nase, er selbst erhält den funktionslosen Titel Ehrenintendant. Das gefällt ihm schon deshalb nicht, weil er nun nicht mehr bestimmen kann, was läuft. Aber auch, weil der andere einen ganz anderen Kurs einschlägt und vermehrt hochdeutsche Stücke auf den Spielplan setzt. Manche spekulieren, die Entscheidung für Beiswanger und gegen Ohnsorg sei aus politischen Gründen gefallen: Beiswanger habe sich in der Zeit der NS-Diktatur als Kommunist klarer gegen die NSDAP positioniert als Ohnsorg, der ein "aufrechter Demokrat" gewesen sei, so ein Wegbegleiter aus dem Ensemble. Andere munkeln, die Entscheidung habe an Ohnsorgs schlechtem Gesundheitszustand gehangen.

Immerhin wird das Theater 1946 ihm zu Ehren von der Kulturverwaltung in "Richard Ohnsorg Theater" umbenannt. Im selben Jahr spielt er - 70-jährig - ein letztes Mal auf seiner Bühne. Es ist seine Lieblingsrolle: die des phlegmatischen Trinkers Hein Dickback in "Stratenmusik".

Ein Grab Seite an Seite mit Hamburger Promis

Das Grab von Richard Ohnsorg und seiner Frau Anna in der Dichterecke des Ohlsdorfer Friedhofs © NDR Foto: Irene Altenmüller
Das Grab von Richard Ohnsorg und seiner Frau Anna befindet sich in der Dichterecke des Ohlsdorfer Friedhofs.

Ein Jahr später, am 11. Mai 1947, stirbt Richard Ohnsorg nach "langem Leiden", wie es in einer Zeitungsnotiz heißt. Zurück bleibt seine Ehefrau Anna Marie, geborene Glöckner. Sie hatte er im Jahr seines Berufseinstiegs geheiratet - mehr ist über die Frau nicht bekannt, die Ehe blieb kinderlos. Seine letzte Ruhestätte findet Richard Ohnsorg auf dem Ohlsdorfer Friedhof in der sogenannten Dichterecke. Damit befindet er sich nun Seite an Seite mit vielen Wegbegleitern und bekannten Hamburgern. Ihm gegenüber liegt etwa der Schriftsteller Fritz Stavenhagen, dessen "Lotse" Ohnsorg die Richtung wies. Ganz in der Nähe: die Gräber seiner Bühnenkollegen Henry Vahl und Edgar Bessen. Und auch Hamburgs ehemaliger Erster Bürgermeister Henning Voscherau liegt im Kreise dieser Menschen beerdigt. Sein Vater Carl Voscherau und sein Onkel Walter Scherau(eigentlich Voscherau) hatten beide als Schauspieler eng mit Ohnsorg zusammengearbeitet, Henning Voscherau selbst machte sich für den Erhalt und die Verbreitung des Plattdeutschen stark.

Richard Ohnsorg tut genau das sogar noch heute - via Grabstein. Auf dem steht: "Hollt fast! Hollt fast! Denn geiht dat klor, denn lewt uns Sprok noch dusend Johr!" (Halt fest! Halt fest! Dann geht das klar, dann lebt unsere Sprache noch tausend Jahre!)

Weitere Informationen
Szene aus dem Theaterstück "Meister Anecker" mit Henry Vahl (r.) und Karl Heinz Kreienbaum. © Ohnsorg Theater

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