Deutsch-dänische Grenze: Ein Staat für 144 Tage
1920 wurde mit einer Volksabstimmung die Grenze zwischen Deutschland und Dänemark festgelegt. Dafür gab es einen Extra-Staat: das "Plebiszit Schleswig". Es existierte insgesamt 144 Tage.
1920 hatte das Volk an zwei Tagen - am 10. Februar in Nord- und am 14. März in Mittelschleswig - abgestimmt und die bis heute gültige Grenze zwischen Dänemark und Deutschland festgelegt. In Dänemark entstand in der Folge die deutsche und in Schleswig-Holstein die dänische Minderheit. Und es entstand ein dritter Staat zwischen Hamburg und Skagen: Das sogenannte Plebiszit Schleswig existierte exakt 144 Tage lang.
Vorbereitungen für unabhängigen Interimsstaat
Anfang Januar 1920 mussten die Landräte, der Flensburger Oberbürgermeister, Polizei- und Postchefs im Norden die Koffer packen. Für die Zeit der Volksabstimmungen am 10. Februar nördlich und am 14. März südlich der heutigen Grenze hatte die deutsche Obrigkeit den Landesteil Schleswig zu verlassen. Dessen Grenze verlief seinerzeit noch 60 Kilometer nördlich der aktuellen. Im Versailler Vertrag war festgelegt worden, dass beide Wahlzonen für die Abstimmungszeit einen eigenen unabhängigen Staat bilden sollten. An seiner Spitze sollte eine international besetzte Kommission stehen.
Eine fast vergessene historische Episode
Der Flensburger Historiker, Professor Uwe Danker, rückte den Staat "Plebiszit Schleswig" bewusst in den Fokus einer Sondervorlesung für deutsche und dänische Journalisten im Januar 2020: Es ging um Themen und Besonderheiten rund um 100 Jahre deutsch-dänische Grenze. Dass es 1920 zwei Wahlgänge gab, ist manchen bekannt, unter historisch Interessierten vielleicht sogar Allgemeinwissen. Dass für diese Volksabstimmung - das Plebiszit - ein Staat gegründet wurde, erstaunt dann doch viele. Also lauschten die 20 Journalisten gebannt im Haus Oslo der Europauniversität in Flensburg dem Chef des Institutes für regionale Zeitgeschichte.
Die Vorgeschichte und Versailles
Nach dem Ersten Weltkrieg wird im französischen Versailles die Welt neu geordnet. Angestoßen durch den 14-Punkte-Plan des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson wird bei Paris auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker postuliert. Im Artikel 109 wird lapidar festgestellt: "Die Grenze zwischen Deutschland und Dänemark wird in Übereinstimmung mit dem Wunsche der Bevölkerung festgelegt." Ein "Hammersatz" - findet der Historiker. Die These von Uwe Danker: Im bei uns oft als "Schanddiktat" bewerteten Versailler Vertrag stecke viel Neues und viel Experimentelles. In den Artikeln 109 bis 113 wurde der Rahmen für die Wahlen und das Formale festgelegt. Neu war dabei auch, das Gebiet Schleswig für die Zeit der Wahlen zu einem eigenständigen Staat zu machen, damit - im konkreten Fall - der Wille der Menschen nicht unter den Druck der preußischen Verwaltung kommen konnte.
Die Internationale Kommission
Schon am 19. August 1919 nahm die Kommission ihre Arbeit in Kopenhagen auf. Ihr gehörten zwei Vertreter der Alliierten - ein Engländer und ein Franzose- sowie Vertreter zweier neutraler Staaten (ein Norweger und ein Schwede) und je ein Berater der dänischen und der deutschen Seite an. Der Brite Charles Marling wurde Präsident der "Commission Internationale de Surveillance" - kurz CIS. Gebeugt über Karten legte die CIS noch in Kopenhagen die Grundlagen für ihre Arbeit im Grenzland fest. Am 25. Januar 1920 bezog die Kommission ihr Hauptquartier im "Flensburger Hof".
Der Staat "Plebiszit Schleswig"
Die Kommission war Regierung, Gesetzgeber und oberste Gerichtsinstanz. Macht gaben ihr britische Marine-Infanteristen und französische Gebirgsjäger, die ebenfalls am 25. Januar mit dem britischen Zerstörer "B 94" und dem kleinen französischen Kreuzer "La Marseillaise" eingetroffen waren. Dazu gab es eine eigene Polizei. Diese Truppe, mit einer Binde mit den Lettern "CIS" gekennzeichnet, rekrutierte sich aus deutschen Wachtmeistern und dänischen Hilfspolizisten. Die Hauptaufgabe der Kommission war die Organisation der Wahlen in den beiden Abstimmungsgebieten. Deshalb bestimmte sie Wahlkommissionen auf Lokal- und Kreisebene. Auch wenn es während der Wahlkampfzeit nur wenige blutige Nasen gab, wurde hart um jede Stimme geworben. Das war überall so, am heftigsten in Flensburg. Die Dänen und die Deutschen - beide wollten die zentrale, große Stadt in Schleswig gewinnen. Danebrogs und Reichsflaggen hingen überall an den Häusern. Sie gaben schon einen Vorgeschmack, welcher Stadtteil wohl für Dänemark und welcher für Deutschland stimmen würde. Ganze Häuser wurden mit Plakaten geradzu tapeziert. Die Kommission griff ein und durch. Damit es nicht zu Unruhen kam, wurde verboten, Plakate zu entfernen.
Eierpreise und Briefmarken
159 Verordnungen erließ die Kommission für ihre 144-tägige Regierungszeit. Die meisten hatten nichts mit den Wahlen zu tun. Der Staat "Plebiszit Schleswig" musste sich selbst versorgen. Die Kommission schaffte es mit einem sogenannten Volkswirtschaftsrat, der dem Kleinststaat eine Planwirtschaft auferlegte. Einmal mussten Lebensmittel exportiert werden, um im Gegenzug Kohle zu bekommen. Um eine Explosion der Preise zu verhindern, wurden zum Beispiel für Eier Höchstpreise festgelegt. Professor Danker ist sicher, die Planwirtschaft von 1920 war eine der wenigen, die auch funktioniert hat. Ein kluger Schachzug der Kommission zahlte sich besonders aus. Der Staat "Plebiszit Schleswig" durfte eigene Briefmarken drucken. Philatelisten in aller Welt stürzten sich darauf. Nur ein Drittel wurde im Abstimmungsgebiet wirklich auf Karten und Briefe geklebt. Der Rest an Sammler verkauft, die damit die Kasse des Übergangstaates füllten.
Ein zu Unrecht vergessener Staat
Professor Uwe Danker machte den Journalisten aus Dänemark und Deutschland deutlich: die Leistungen der internationalen Kommission im halben Jahr des Staates "Plebiszit Schleswig" waren beachtlich. Der Historiker setzt sich auch für eine Neubewertung der Verträge von Versailles ein. Nicht nur das Beispiel deutsch-dänische Grenzabstimmung zeige, dass bei Paris auch wesentliche Impulse für ein neues Völkerrecht gesetzt und Experimente möglich wurden. Eines davon war der Staat "Plebiszit Schleswig". Im Übrigen vielleicht der einzige Staat bisher, der seinen Auftrag im Namen führte: Es war ein Staat mit dem Zweck, eine Volksabstimmung zu ermöglichen.