Der Hamburger Abenteurer Rüdiger Nehberg steht im Yachthafen von Wedel neben dem 20 Meter langen und neun Tonnen schweren Baumstamm, mit dem er den Atlantik überqueren will (Foto vom 17.08.1999). © picture-alliance / dpa Foto: Oliver Soulas

Rüdiger Nehberg: Als "Sir Vival" das Meer auf einem Baum überquerte

Stand: 17.01.2025 14:20 Uhr

Rüdiger Nehberg war Konditor, Abenteurer und leidenschaftlicher Verteidiger von Menschenrechten. Am 21. Januar 2000 startete der Tausendsassa aus dem Kreis Stormarn eine Atlantik-Überquerung - auf einem Baum.

von Kathrin Bädermann

Rüdiger Nehberg war kaum zu stoppen. Er wollte das Leben voll ausschöpfen, alles mitnehmen, Gutes bewirken. Und er wollte darüber reden. Hatte er erstmal mit dem Erzählen angefangen, hörte er so schnell nicht wieder auf, sprudelnd, quirlig, mitreißend. "Er war Karl May und er war Tausendundeine Nacht", schrieb ein guter Freund im Jahr 2020 in einem Nachruf im "Hamburger Abendblatt".

Der Abenteurer Rüdiger Nehberg sitzt im Produktionsstudio des Landesfunkhauses Kiel. © NDR Foto: Dominik Dührsen
AUDIO: Rüdiger Nehberg - Abenteurer und Menschenrechtler (43 Min)

Erstes Abenteuer als Vierjähriger

Die Abenteuergeschichten gingen Nehberg nicht aus, dafür hatte er gut gesorgt - und im Gegensatz zu Karl May hat er sie auch wirklich erlebt. Schon als kleiner Steppke von vier Jahren, so will es die Familien-Legende, schlief er eine Nacht unter einem Rhododendron. Er hatte sich auf dem Weg zu seiner Oma verlaufen und es sich, müde geworden, kurzerhand unter dem Busch bequem gemacht. Die Polizei fand ihn am nächsten Morgen und brachte ihn zurück zu seiner besorgten Familie.  

In dieser Familie, in die er am 4. Mai 1935 in Bielefeld hineingeboren wurde, war Nehberg mit seiner Rastlosigkeit ein absoluter Außenseiter. Der Vater und der Großvater waren Bänker. "Es war alles immer ruhig und geordnet bis zur zehnten Stelle hinterm Komma", sagte Nehberg im Jahr 2019 dem NDR. Mittagessen Punkt 12.30 Uhr, die blitzenden Sonntagsschuhe: "Das war nicht mein Leben."

Heimlich nach Marrakesch

Mit 15 ging er in die Lehre, erst als Bäcker, dann als Konditor. Auch das war nicht so recht sein Ding, doch er musste ja Geld verdienen für das, was er wirklich wollte: raus in die Welt. Die erste Reise führte ihn, kaum dass er genug Geld und Urlaub angespart hatte, im Jahr 1942 mit 17 Jahren nach Marrakesch - auf einem selbst zusammengeschraubten Fahrrad. Sein Ziel: Schlangenbeschwörer werden, zumindest einen Urlaub lang. Den Eltern gaukelte er vor, er werde seine Ferien bei einem Freund in Paris verbringen, um dort brav Französisch zu lernen. Tatsächlich hielt er in Paris nur kurz an, drückte dem Freund vorgefertigte Postkarten an seine Eltern in die Hand und bat ihn, jede Woche eine davon in den Briefkasten zu stecken. Der Freund erledigte den Auftrag, die Eltern waren beruhigt, und Nehberg radelte nach Marokko.

Zwischen Torten und Torturen

Von da an wechselte Nehberg beides immer wieder ab: Arbeit und Abenteuer. Oder wie Nehberg es später einmal ausdrückte: Torten und Torturen. 1965 gründete er gemeinsam mit seiner ersten Ehefrau Maggy - mit ihr hat er Tochter Kirsten, die Schauspielerin wurde - die Konditorei Nehberg im Hamburger Stadtteil Wandsbek. Der Laden brummte und ermöglichte Nehberg, über Wochen zu verschwinden.

1986 hackt sich Rüdiger Nehberg bei Minus 11 Grad Celsius Löcher in den Rausdorfer Mühlenteich. © picture alliance/ dpa Foto: Werner Baum
Zu Hause in Rausdorf trainierte er für seine Abenteuer, wie hier im Jahr 1986 bei minus elf Grad Lufttemperatur.

Was er bei seinen Robinsonaden seit den 70er-Jahren erlebte, hat er in insgesamt 30 Büchern aufgeschrieben. Er brachte sich einige Male in Lebensgefahr, wurde mehrfach überfallen, verlor einen Freund, landete im Gefängnis - aber er kehrte immer wieder heil nach Hause zurück. Er stand Aug in Aug mit Krokodilen, Löwen, Nilpferden und Wildschweinen. Er bezwang Ozeane, reißende Flüsse, Wüsten und Dschungel. Er verstieg sich am Amazonas in den irren Kriminalfall des Tatunca Nara. Er durchquerte Deutschland von Nord nach Süd, allein und ohne Ausrüstung, und aß nur das, was er am Wegesrand fand, und wenn es Würmer und Heuschrecken waren. Er perfektionierte das Überleben und war damit ein Pionier der Survival-Bewegung. So fing er sich auch seinen Spitznamen ein: Sir Vival.

"Sir Vival" wird Menschenrechtsaktivist

Viele Jahre unternahm Nehberg seine Reisen aus reiner Abenteuerlust. Anfang der80er-Jahre kam "zum Abenteuer der Sinn", wie er selbst sagte. Er nutzte nun seinen Ruhm, um Schlaglichter auf Missstände zu werfen - und wurde so vom Würmerfresser zum Weltverbesserer.  Anstoß für den Wandel war Nehbergs Begegnung mit den Yanomami im Jahr 1982. Die Yanomami waren ein kleines indigenes Volk, das bis in 70er-Jahre hinein abgeschieden und friedlich im Amazonas-Gebiet lebte. Dann kamen die Goldgräber, zerstörten ihre Wälder und Dörfer, schleppten Krankheiten ein, mordeten.

Der Abenteurer Rüdiger Nehberg und der Survival-Experte Lars Spanger sitzen am 20.8.1999 an der Hamburger Alster auf ihrem Trimaran aus einer 350 Jahre alten Schweizer Tanne. © picture-alliance / dpa Foto: Stefan Hesse
1999 präsentierte Nehberg (vorn) auf der Hamburger Alster den Baum, mit dem er 2000 über den Atlantik segelte.

Nehberg hörte davon und schlug sich fünf Tage lang durch den Dschungel, um die bedrohten Menschen kennenzulernen. Sie wurden Freunde, und Nehberg verschrieb sich fortan der Aufgabe, für ihren Schutz und ihre Rechte zu kämpfen. Mit spektakulären Aktionen lenkte er den Fokus auf das Thema. Drei Mal überquerte er hierfür den Atlantik: 1987 in einem Tretboot, 1992 mit einem Bambus-Floß und 2000 auf einem Baum -  einer 350 Jahre alten Schweizer Tanne, umgebaut zu einem Trimaran. Er startete am 21. Januar von Mauretanien aus und segelte in 43 Tagen nach Brasilien; auf dem Segel seine Botschaft - die Bitte, die indigenen Völker Brasiliens zu schützen, ihr Land und den Regenwald. Mit Erfolg: Nehberg trug dazu bei, dass den Yanomami ein geschütztes Reservat eingeräumt wurde. Wenn ihm etwas wichtig war, konnte der ungeduldige Nehberg unheimlich geduldig sein.

Beharrlich gegen Genitalverstümmelung

Auch bei seiner zweiten großen Mission blieb Rüdiger Nehberg beharrlich bis an sein persönliches Ende. Gemeinsam mit seiner späteren zweiten Ehefrau Annette Nehberg-Weber, die er 1997 bei einem seiner Vorträge kennengelernt hatte, kämpfte er gegen das grausame Ritual der Genitalverstümmelung bei Mädchen. Ein Verbrechen, das - im Glauben, es "schütze" die Mädchen vor ihrer Sexualität - Tag für Tag tausendfach begangen wird und für die Opfer lebenslange Folgen hat.

Ausgezeichnet: Die Preise und Ehrungen Nehbergs

Rüdiger Nehberg demonstriert am Mittwoch (15.12.2004) mit einer Kamelkarawane in der Hamburger Innenstadt gegen die Genitalverstümmelung bei Frauen. © picture-alliance/ dpa/dpaweb Foto: Kay Nietfeld
2004 zieht Nehberg mit Kamelen durch Hamburg, um auf das Verbrechen der Genitalverstümmelung aufmerksam zu machen.

Die Nehbergs gingen bei ihrem Vorhaben geschickt vor: Zum einen erzeugten die beiden mit Kampagnen Aufmerksamkeit und somit Druck, etwa 2005 mit ihrer "Karawane der Hoffnung", einem Marsch durch die Sahara mit elf Kamelen. Zum anderen versuchten sie, die Menschen nicht zu konfrontieren, sondern mitzunehmen. Immer wieder reisten sie in Regionen, in denen die Genitalverstümmelung verbreitet ist - die meisten Opfer sind Muslimas - und klärten die Menschen auf. Das Argument der beiden: Die "Beschneidung" stehe gar nicht im Koran und widerspreche der Aussage der Heiligen Schrift, Gott habe den Menschen perfekt geschaffen. Dabei half, dass Rüdiger Nehberg Arabisch sprechen konnte.

Wenngleich es die Genitalverstümmelung noch immer gibt: Etliche Mädchen konnten die Nehbergs davor bewahren. Und auch heute noch kämpft der Verein TARGET e.V. Rüdiger Nehberg für die Beendigung dieses Verbrechens. Das Paar hatte den Verein im Jahr 2000 zu diesem Zweck und zum Schutz indigener Völker gegründet. Er wird heute von Annette Weber-Nehberg und ihren Kindern aus erster Ehe, Roman Weber und Sophie Weber, geführt.

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Rausdorf: "Mein Paradies, meine Tankstelle, mein Magnet"

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Rüdiger Nehberg brannte zeit seines Lebens für Abenteuer und den Einsatz für Menschenrechte.

Der Mann, der sich auf der ganzen Welt sicher fühlte, kehrte immer wieder an einen Ort zurück: Rausdorf im Kreis Stormarn in Schleswig-Holstein. Hier hatte Nehberg in den 80er-Jahren die alte Rausdorfer Wassermühle gekauft samt zwei Hektar Brachland, das er über die Jahre in ein wunderschönes Stück Natur verwandelte. "Das ist mein Paradies, meine Tankstelle, mein Magnet", sagte er dem NDR im Jahr 2020, nicht lang vor seinem überraschenden Tod. Hier begann er jeden einzelnen Tag des Jahres, Sommer wie Winter, mit einem Kopfsprung in den grundstückseigenen See. Und mittags gab es, wenn er Glück hatte, sein Lieblingsessen: Spiegeleier mit Spinat und Kartoffeln. Nur wenige Kilometer von ihm entfernt lebte sein bester Freund und Weltenbummler-Kollege Klaus Denart, der Gründer des Outdoor-Unternehmens Globetrotter.

Rüdiger Nehberg starb am 1. April 2020 in Rausdorf, wenige Tage vor Erscheinen seiner Autobiografie mit dem Titel "Dem Mut ist keine Gefahr gewachsen: Ein abenteuerliches Leben". Er wurde 84 Jahre alt. Nehberg hat immer gesagt:"Ich möchte lieber kurz und knackig leben als lang und langweilig." Es ist dann doch lang geworden - aber alles andere als langweilig.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur à la carte | 13.05.2020 | 11:27 Uhr

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