Bundestagswahl: MV steht vor politischem Erdbeben
Die Parteien stehen im Finale eines kurzen Wahlkampfs. In Mecklenburg-Vorpommern haben sich SPD und CDU in der Vergangenheit an der Spitze immer wieder abgewechselt. Dieses Mal dürfte keine der beiden vorne liegen.
Eine Analyse von Stefan Ludmann
Das Schweriner Ordnungsamt hat den Wahlkampf in dieser Woche für eine besondere Überraschung genutzt: Die Mitarbeiter der Verkehrsüberwachung stellten ihren "Blitzer" an einer vielbefahrenen Ausfallstraße gut versteckt ausgerechnet hinter einem der vielen übergroßen Wahlplakate auf. Unfreiwillig Deckung gab die SPD. Das Messgerät stand hinter einem Scholz-Plakat. Statt "Mit Sicherheit stabile Renten" gab es sehr wahrscheinlich teure Knöllchen. Warum sich die Ordnungshüter mit den Sozialdemokraten tarnten, ist nicht klar. Als Hinweis auf den Wahlsieger darf es nicht verstanden werden.
AfD erstmals mit Direktmandaten?
Denn wenn die Meinungsforscher recht behalten, markiert dieser Wahltag für die AfD in Mecklenburg-Vorpommern einen Sieg, der die politische Karte landesweit blau einfärbt. Die Partei wäre stärkste Kraft. Sie wiederholt damit ihren Erfolg bei der Kommunal- und Europawahl vom Juni 2024. Das Besondere: Die AfD liegt in diversen Rechenmodellen in allen sechs Wahlkreisen vorn, besonders deutlich in Vorpommern. Was sie 2021 noch nicht schaffte, das gelingt ihr bei der Neuwahl mit größter Wahrscheinlichkeit dann gleich mehrfach: Sie zieht mit Direktkandidaten in den Bundestag ein.
Unsicheres Rennen
Das neue Wahlrecht würde den Triumph allerdings nicht absolut machen: Weil die Zahl der Mandate sich nur nach dem Zweitstimmen-Ergebnis berechnet, würden einige Wahlkreis-Sieger der AfD leer ausgehen. Konkret: Nach dem jetzigen Stand könnte die AfD mit 30 Prozent Zweitstimmen rechnen - sie hätte damit Anspruch auf vier der zwölf Bundestagsmandate im Land. Das heißt, wenn sie in allen sechs Wahlkreisen vorn liegt, hätten die beiden Letztplatzierten - die mit den schlechtesten Erststimmen-Ergebnissen - das Nachsehen.
Holm muss zittern
Ausgerechnet der Spitzenkandidat, der Landesvorsitzende Leif-Erik Holm, müsste damit rechnen, wegen eines vergleichsweise mageren Wahlkreis-Resultats in einer Ex-SPD-Hochburg draußen zu sein. Er wäre dann Opfer des eigenen Erfolgs, meinte er vor einigen Tagen im Wahlkampf. Für seine Ambitionen auf höchste Ämter dürfte das ein Rückschlag sein. Das Portal Zweitstimme.org jedenfalls sieht Holms Wahlkreis Schwerin/Westmecklenburg als einen der Wahlkreise, die künftig nicht mehr durch einen eigenen Abgeordneten vertreten werden.
Geld aus der Staatskasse
Angesichts der politischen Kräfteverschiebung scheint das Schicksal des AfD-Manns eher nebensächlich. Mindestens vier Mandate bedeuten mehr Mitarbeiter und eine stärkere Vor-Ort-Verwurzelung. Die AfD versteht es, ihre politische Reserve mit Geld aus der Staatskasse zu alimentieren - andere Parteien machen es ihr vor. Die AfD setzt sich im Parteiensystem fest – auch weil sie von den anderen immer wieder unterschätzt wurde.
Legendär ist die Aussage des damaligen Ministerpräsidenten Erwin Sellering (SPD), der 2014 nach den Wahlerfolgen der Partei in ostdeutschen Bundesländern erklärte, die Partei werde absehbar bedeutungslos bleiben. Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, die viele in der AfD verkörpern, ist längst kein Hindernis mehr bei der Wahlentscheidung. In einer NDR Umfrage zur politischen Stimmung in Mecklenburg-Vorpommern haben im Herbst 2024 mehr als Dreiviertel der AfD-Anhänger erklärt, es sei ihnen egal, dass die Partei als rechtsextrem gilt.
Rechtsextremer für Rügen
Erstmals schickt die AfD sehr wahrscheinlich auch einen Abgeordneten in den Bundestag, der sich immer wieder rechtsextrem äußert und der Gründungsmitglied der rechtsextremen Jungen Alternative im Land ist. Dario Seifert dürfte den alten Merkel-Wahlkreis Rügen-Vorpommern erobern. Für die Partei hätte diese politische Landnahme Symbol-Charakter. Deutschlands größte Ferieninsel Rügen wird dann in Berlin von einem Parlamentarier vertreten, der zum Volkstrauertag im Stil von Nazis Hitlers Wehrmacht glorifiziert und der sich immer wieder völkisch-nationalistisch äußert.
MV macht keinen Unterschied mehr
Bisher hat sich Mecklenburg-Vorpommern, in dem die Sozialdemokraten seit mehr als 25 Jahren regieren, vom Rest der ostdeutschen Bundesländer unterschieden. Die AfD hatte gegen den SPD-Platzhirsch oft das Nachsehen. Mit dem Wahltag dürfte sich der Nordosten einreihen in das neue Erscheinungsbild Ostdeutschlands. Dort, wo früher die DDR war, wird im 35. Jahr nach der Wiedervereinigung mehrheitlich extrem rechts bis rechtsextrem gewählt.
Durch die politische Landkarte der Bundesrepublik läuft ein trennscharfer Riss exakt entlang der alten innerdeutschen Grenze. Rechts die blaue Alt-DDR, links die schwarze Alt-BRD mit roten und ganz wenigen grünen Einsprengseln. Die Republik ist parteipolitisch geteilt. Auch politische Kümmerer wie der Ostbeauftragte der Bundesregierung haben daran nichts geändert. Der Befund müsste spätestens ab Montag eine neue Debatte nicht nur in den Parteizentralen auslösen.
SPD in Vorpommern blank
Für die SPD kündigt sich auch deshalb ein Desaster an. Statt ihrer bisher sechs Direktmandate könnte sie mit dem prognostizierten 15-Prozent-Ergebnis auf nur noch zwei Abgeordnete schrumpfen - so schlecht war sie zuletzt 2017. Bitter für die Regierungspartei ist ihre Vorpommern-Schwäche, die sich schon jetzt abzeichnet. Die beiden ersten Plätze auf der Landesliste werden mit Reem Alabali-Radovan und Frank Junge mit Kandidaten aus Westmecklenburg besetzt. SPD-Leute aus Vorpommern kommen im Bundestag sehr wahrscheinlich nicht mehr vor.
Warnungen vor Scholz
Verwunderlich ist, mit welcher Ruhe die Landes-SPD der sich abzeichnenden Niederlage entgegen geht. Durchhalteparolen, die einen Wahlsieg herbeirufen, klingen eher wie das Pfeifen im Walde. Nur der Juso-Landesvorsitzende Marvin Müller und der Neustrelitzer SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Arlt hatten davor gewarnt, weiter auf Bundeskanzler Olaf Scholz als SPD-Spitzenkandidat zu setzen. Sehr zurückhaltend gab sich die Landesvorsitzende, Ministerpräsidentin Manuela Schwesig. Sie vermied es, sich öffentlich für Scholz stark zu machen, wagte aber auch nicht, als einzige der SPD-Granden vor einer Kandidatur zu warnen.
Neue Rolle für Schwesig?
Schwesig hat entschieden, den Wahlabend in der Parteizentrale in Berlin zu verbringen. Die Ministerpräsidentin will dabei sein, sollten in der SPD angesichts des Wahlergebnisses auch personelle Weichenstellungen in einer Nach-Scholz-Ära verabredet werden. Gerade erst spekulierte der "Spiegel" über Schwesig als SPD-Chefin. Sie selbst hat bisher bundespolitische Ambitionen abgelehnt. Nicht auszuschließen, dass eine neue Situation auch neue Entscheidungen möglich macht.
"All-In" bei der Landtagswahl
Für die Landtagwahl im Herbst 2026 bringt das wahrscheinliche Ergebnis die SPD schon jetzt in die Defensive. Denn: Die AfD gilt den Wählern längst als ganz normale Partei, der Rechtsextremismus und die latente Ausländerfeindlichkeit schrecken nicht ab. Sehr wahrscheinlich wird Ministerpräsidentin Schwesig dann ihren gesamten Amtsbonus und noch mehr in die Waagschale werfen und einen Wahlkampf nach dem Motto: "Ich oder die anderen" führen - wobei damit die AfD gemeint ist. In Brandenburg hat ihr Parteigenosse Dietmar Woidke damit einen knappen Sieg errungen.
CDU hat das Nachsehen
Unter die Räder könnte bei dieser Polarisierung die CDU geraten. Die hat auch schon bei dieser Bundestagswahl wohl nicht viel zu lachen. Die Union hatte 2017 noch alle sechs Direktmandate geholt. Dieses Mal dürfte sie nach Lage der Dinge ziemlich sicher leer ausgehen. Vor allem ihre alte Hochburg Vorpommern ist geschleift. Die fällt an die AfD. Die MV-CDU ist nach den Merkel-Jahren auf Normalmaß geschrumpft. Ohne ihren Generalsekretär und Spitzenkandidaten Phillip Amthor hätte sie auf Bundesebene nichts zu melden.
Spekulationen um Amthor
Amthor allerdings wird nach dem Wahlsonntag schon für Höheres gehandelt. Die Bandbreite reicht vom Parlamentarischen Staatssekretär im Innenministerium bis zum Generalsekretär der Bundespartei, sollte der bisherige "General" Carsten Linnemann zum Minister aufsteigen. Mit ihrem Wahlkampf, in dem die Union immer wieder schrille Anti-Migrationstöne der AfD aufgreift, hat sie im Land bisher keine Geländegewinne erzielt, im Gegenteil. In der vergangenen NDR Umfrage lag sie mit 21 Prozent zehn Punkte hinter der AfD. Im Oktober 2024 waren beide noch gleichauf.
Die "Kleinen" stehen am Rand
Die Aufmerksamkeit, die die großen Drei auf sich ziehen, stellt die anderen in den Schatten. Nur die Linken schafften es, mit ihrer Silberlocken-Kampagne um die drei ostdeutschen Partei-Oldies Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch zu mobilisieren - wobei auch Bartsch klar sein muss, dass er das Ziel, den Wahlkreis in Rostock direkt zu gewinnen, eigentlich nur verfehlen kann. Grüne und FDP waren mehr oder weniger abgemeldet, sieht man von dem Schaumtorten-Wurf auf den liberalen Spitzenkandidaten Christian Lindner in Greifswald ab. Und das BSW mit seinem Spitzenkandidaten Friedrich Straetmanns blieb seltsam blass, der Schwung des Anfangs scheint längst verpufft, die Umfragen zeigten zuletzt nach unten.
AfD zweifelt Auszählung an
Das BSW will dennoch feiern. In einem Ferienpark am Schweriner See warten Mitglieder und Unterstützer am Sonntagabend auf Prognosen und Hochrechnungen. Auch die anderen Landesparteien kommen zu Wahlpartys zusammen. Nur die AfD verzichtet darauf. Landesvorstandsmitglied Thore Stein meinte, es gebe viele Mitglieder, die wollten bei der öffentlichen Auszählung in den Wahllokalen dabei sein.
Unter der Überschrift "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" hat die Bundespartei eine Kampagne für eine sogenannte Wahlbeobachtung gestartet. Die hält die AfD für nötig, um Manipulationen zu vermeiden. Teilnehmer sollen angebliche "Unregelmäßigkeiten" auf einem eigens zur Verfügung gestellten Formular melden. Es gehört zum Vorgehen von Rechtsextremen, Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit des Wahlvorgangs zu säen und demokratische Prozesse madig zu machen.
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