Reeperbahn Festival - Tag 4: Das war's auch schon wieder!
Nach dem letzten Festivaltag zieht Festival-Blogger Matthes Köppinghoff sein Fazit: Das Reeperbahn Festival 2023 war eine angenehme Rückbesinnung auf etwas länger zurückliegende Ausgaben.
Vier Tage und Nächte stieg in den Clubs auf und rund um Hamburgs Amüsiermeile Europas größtes Clubfestival. 475 Konzerte, rund 400 Acts, etwa 49.000 Gäste und rund 4.000 Fachleute: Das Reeperbahn-Festival ist seinem Ruf als bedeutender Treffpunkt der internationalen Musikszene wieder einmal gerecht geworden. Am Abschlussabend des viertägigen Konzertreigens und Branchentreffs erhielt die Japanerin Ichiko Aoba den Anchor-Award für talentierte Newcomer.
Auch bei der 18. Ausgabe war NDR Musikjournalist Matthes Köppinghoff mit dabei. In seinem Blog erzählt er von seinen Festivaltagen auf dem Hamburger Kiez: mit Beobachtungen auf St. Pauli, aber vor allem auch großen und kleine Entdeckungen in der Popkultur.
Auf in den letzten Tag! (mit Verschleißspuren)
Vielleicht kennt ihr es auch: Nach viel Anstrengung und wenig Schlaf neige ich dazu, etwas albern zu werden oder auch seltsame Vergleiche zu ziehen. So sehe ich beim Duschen am Sonnabend des Reeperbahn Festivals recht viele Parallelen bei Batman und mir. Der dunkle Ritter nutzt ein Kostüm (er Maske und Cape, ich Hut und Lederjacke), ist meistens nachts unterwegs zu fragwürdigen Arbeitszeiten (er in Gotham, ich auf St. Pauli), nutzt schnelle Verkehrsmittel (er das Batmobil, ich die U3). Nach getaner Arbeit (er im Kampf gegen das Böse, ich für Premium-Berichterstattung) sitzt er in seiner Bathöhle am Batcomputer und ich eben am Laptop.
Das sind so die Gedanken beim Duschen, als ich bemerke, dass ich Nasenbluten habe. Hoppla. Geht Bruce Wayne das auch so? Jedenfalls ist das bei mir ein Zeichen dafür, dass ich auf der letzten Rille laufe und mich heute vielleicht doch etwas zügeln muss. So atme ich vor der Festivalarbeit noch einmal kurz durch und schaue in den benachbarten Garten (in dem erstaunlich wenig Laub liegt). Anschließend mache ich mich ausgehfertig, greife ein letztes Mal zu Hut und Lederjacke - und auf geht’s ins nächste Abenteuer!
Pendeln zwischen Blood Red Shoes und Holly Humberstone
Mit einem etwas wackeligen Kreislauf beschränke ich das Flanieren auf dem Kiez heute auf das Nötigste, um am frühen Abend mal wieder ins Gruenspan zu gehen. Hier ist gerade sogar kurzfristig Einlassstop, weil sich neben mir auch viele andere Blood Red Shoes anschauen wollen. Laura-Mary Carter und Steven Ansell aus Brighton machen schon seit 2004 Musik - auch heute kommt ihr lauter Alternative Rock super beim Publikum an. Es ist pickepackevoll hier im Gruenspan; mein Kreislauf und ich, wir stehen hinten links in der Ecke, sehen so gut wie nichts von der Bühne, sondern nur Hinterköpfe, und ziehen also doch lieber weiter.
Eine schnelle Überquerung der Simon-von-Utrecht-Straße - und schon ist man wieder in der Großen Freiheit 36. Als Holly Humberstone hier ihren Auftritt mit "The Walls Are Way Too Thin" beginnt, ist der Raum zu meiner Überraschung bei der Indie-Pop-Singer-Songwriterin gerade mal halb voll. Nach und nach kommen aber immer mehr Leute. Den Leuten gefällt die Show der 23-jährigen Engländerin, bei der man entspannt stehen und lauschen kann - das macht Lust auf ihr bald erscheinendes Debütalbum "Paint My Bedroom Black".
Arab Strap: melodiöser Slowcore
Zurück im stickigen Gruenspan habe ich endlich die Gelegenheit, Arab Strap live zu sehen: Von den beiden Schotten Aidan Moffat und Malcolm Middleton gibt es Slowcore, also Iangsamen Indie-Rock. Das ist nicht unbedingt die lebensbejahendste Musik der Welt, aber genau das finde ich ja per se spannend: sensibel, zurückgenommen, sphärisch. Moffat nuschelt in sein Mikro. Vor allem über den Gitarrensound von Middleton würde ich jetzt gerne abnerden.
Heute gibt es von den beiden ein Akustik-Set. Ihre Platte "Philophobia" wird 25 Jahre alt - mir und den anderen Zuschauenden gefällt das. Wobei mir auffällt, dass ich nach und nach immer weiter nach vorne komme - viele brechen auf, vielleicht, um noch bei den Pretenders vorbeizuschauen. Dem gehe ich auf den Grund, verlasse das Gruenspan und gehe wieder rüber zur Großen Freiheit 36.
The Pretenders: keine Lust auf Handyfotos
Es ist der NDR 2 Abend beim Reeperbahn Festival. Vorhin war hier schon eine sehr lange Schlange; ich habe noch Glück und komme rein. The Pretenders kennt man durch Hits wie "Brass in Pocket", "Don’t Get Me Wrong" oder "I’ll Stand by You". Damit waren sie seit den 80er-Jahren sehr erfolgreich, wurden auch in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. Frontfrau Chrissie Hynde ist laut Rolling Stone eine der 100 größten Songwriter aller Zeiten. Vor kurzem gab's mit "Relentless" auch ein neues Album.
So weit, so gut, denke ich mir, ergattere oben auf der Empore einen Platz, höre mir den Beginn der Show an, bei dem Hynde relativ schnell keift: "Gonna put that phone away!" Das macht sie nicht nur einmal, sondern mehrfach. Sie scheint einfach nicht gern fotografiert zu werden oder auf Konzerten gern in Smartphones zu schauen. Nachvollziehbar, ja, ist aber mittlerweile auch ein gelernter Reflex unter Konzertbesuchenden, speziell in den ersten Minuten eines Konzerts, und im Fotograben waren zu der Zeit auch noch professionelle Fotografen. Sollte man mit 44 Jahren Bandgeschichte und Erfahrung eigentlich auch wissen. Nun ja, die Show stampft solide vor sich hin, mehr aber auch nicht. Daher mache ich mich nach sehr wenigen Songs wieder auf den Weg nach draußen.
Ein letzter Spaziergang über den Kiez
Ich gehe die Große Freiheit entlang: Die Clubs versuchen, noch mehr Partyvolk hereinzulocken, während sich die Feiernden ob des schieren Angebots erstmal orientieren müssen. Es ist sehr voll - und die Leute sind es auch. Zumindest oft; an Samstagen ist das hier auf dem Kiez völlig normal. Heute kommen zu den Festivalbesucher*innen und Tourist*innen aus aller Welt allerdings auch noch Fußballfans: Im Millerntor-Stadion gab es heute Zweite Liga - der FC St. Pauli hat den FC Schalke 04 mit 3:1 besiegt, wie ich später erfahre. Daher sieht man hier heute auch noch ein paar königsblaue Trikots aus Gelsenkirchen an den Bars, Tabledance-Bars und Sexshops vorbeiziehen.
Ich biege links ab - über den Beatles-Platz auf die menschenüberflutete Reeperbahn. Der N-JOY Reeperbus wird bereits abgebaut - vor der Spielbude XL hingegen ist richtig gut was los: Only the Poets treten gerade auf. Kurz bleibe ich stehen, um mich dann doch wieder auf den Weg zu meinem letzten Reeperbahn-Festival-Konzert in diesem Jahr zu machen. Eigentlich hatte ich Tickets für die Elbphilharmonie, aber das U3-Teilstück zwischen St. Pauli und Baumwall ist über das Wochenende gesperrt. Auf ein Ersatzverkehr-Abenteuer, wie schon vor ein paar Jahren beim Reeperbahn Festival, habe ich heute überhaupt keine Lust. Daher entscheide ich mich heute für This Is the Kit im Michel als mein Festival-Finale.
Das Finale: This Is the Kit im Michel
Insgeheim bin ich auch ein bisschen froh, denn ich war in diesem Jahr noch nicht bei einem Konzert in der St. Michaelis Kirche. Auftritte im Michel sind immer etwas Besonderes; ich wüsste von keiner Band, keiner Künstler*in, die mich hier mal komplett enttäuscht hätte.
Zur Musik heute: Hinter This Is the Kit verbirgt sich die englische Musikerin Kate Stables mit ihrer Begleitband. Wenn ich mich nicht täusche, habe ich sie schon einmal vor einer Ewigkeit als Supportact für The National gesehen - aber ehrlich gesagt frage ich mich schon seit ein paar Jahren, ob das wirklich This Is the Kit war oder doch wer anders. Daher freue ich mich umso mehr, heute einen definitiven Haken dahinter machen zu können.
Im Juni kam das aktuelle Album "Careful Of Your Keepers" raus. Auch Stables ist - wie wir alle - enorm beeindruckt von der Kulisse hier in der Barockkirche: Dieses Gebäude, heute mal wieder als Konzertlocation, bewegt sowohl Künstler*innen als auch das Publikum. Ob nun Andacht, Ehrfurcht oder sonst was - obendrauf ist es schön, dass speziell bei den Konzerten hier nicht so viel gequatscht wird. Die Musik bekommt automatisch etwas Spirituelles. Zugegebenermaßen sind hier noch einige Plätze leer (vielleicht versuchen es heute doch viele bei Team Scheisse im Uebel & Gefährlich?) - trotzdem ist auch dieses Michel-Konzert wieder gelungen: prima Songs, prima musiziert und natürlich diese fantastische Kulisse. Nach vier Tagen mache ich mich auf den Weg nach Hause. Das Reeperbahn Festival 2023 ist vorbei - jetzt muss ich das nur noch aufschreiben.
Mein Fazit zum Reeperbahn Festival 2023
Das Reeperbahn Festival 2023 war für mich eine angenehme Rückbesinnung auf etwas länger zurückliegende Ausgaben. Gut, die Corona-Jahre waren selbstverständlich eine Katastrophe - selbst im vergangenen Jahr waren die Folgen für die Gäst*innen noch etwas zu spüren. Bei Vor-Corona-Konzerten von Stadionrock-Giganten wie Muse, die ins Docks gequetscht wurden, hatte man sich allerdings schon gefragt, wie groß das hier denn noch alles werden sollte. Kaum ein großer Name schien ausgeschlossen. Ja, ein paar dieser großen Namen ziehen auch immer viele Leute und verkaufen somit Tickets. Das Reeperbahn Festival bietet aber vor allem auch den Reiz, hier Neues zu entdecken und viele Newcomer*innen geballt an einem Wochenende sehen zu können - also die nächsten Muse oder den nächsten Ed Sheeran, dessen Karriere ja hier einst seinen Anfang nahm.
Zurück zum Fazit: Nach diesen vier Tagen bin ich zufrieden. Offen gestanden, hätte ich schon gern mehr Konzerte gesehen. The Hives nicht geschafft zu haben, ist echt bitter - aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Arlo Parks, Sparkling, K.I.Z., The Last Dinner Party, Team Scheisse, Blood Red Shoes - da war doch viel Schönes dabei. Es liegt in der Natur der Veranstaltung, grundsätzlich irgendwas zu verpassen. Fragt man zehn Leute, wie das Reeperbahn Festival gewesen ist, bekommt man in zehn Antworten komplett andere Festivals vorgestellt.
Ich habe Euch meines gezeigt. Der Schrittzähler sagt in diesem Jahr "57.159". Das ist für meine Verhältnisse ehrlicherweise ganz schön wenig - aber heute war eben ein bisschen der Kreislauf-Wurm drin. Und die U3 ist mein Batmobil, hatte ich ja eingangs erwähnt, - die habe ich auch ein bisschen genutzt. Nun denn: Ich danke fürs Lesen - bis zum nächsten Mal!