Reeperbahn Festival - Tag 3: Ein gelungener Freitag
Unser Festivalblogger Matthes Köppinghoff macht neue musikalische Entdeckungen: Techno- und Electronica-Musiker Christian Löffler und den Singer-Songwriter mit Punker-Haltung Billy Bragg. Und dann muss er sich entscheiden: The Hives oder Team Scheisse? Das war der dritte Festivaltag …
Vier Tage und Nächte steigt in den Clubs auf und rund um Hamburgs Amüsiermeile St. Pauli Europas größtes Clubfestival: das Reeperbahn Festival. Auch bei der 18. Ausgabe ist NDR Musikjournalist Matthes Köppinghoff mit dabei. In seinem Blog erzählt er von seinen großen und kleinen Entdeckungen in der Popkultur.
"Die Nacht war kurz und ich stehe früh auf"
Es gibt da diesen Thees Uhlmann-Song: "Die Nacht War Kurz (Ich Stehe Früh Auf)". Bei mir war dazu der Schlaf auch noch schlecht: Fünf Stunden nach Abgabe des letzten Blogtextes tobt sich im Nachbargarten ein Mensch mit einem Laubsauger aus. Während er einige wenige frühherbstliche Blätter akribisch von links nach rechts dröhnt, beobachte ich das Geschehen komplett zerscheppert durch das Schlafzimmerfenster. Zu schwach, um ihn aufzuhalten, zu schüchtern, um mich ob des apokalyptischen Lärms zu wehren, aber immerhin noch kreativ genug für einige blumige Gewaltfantasien. Egal, denke ich mir, und entscheide: Das bringt hier zuhause eh nichts mehr, da kann ich auch gleich wieder losziehen. Ich setze mich in die U-Bahn, entscheide frei nach Kettcar und dem besten Haltestellensong der Welt "Landungsbrücken Raus": Ein wenig Hamburger Hafenluft hat noch nie geschadet, um den Kopf frei zu kriegen.
Es wird voller auf St. Pauli
Es ist der dritte Festivaltag. Während ich von den Landungsbrücken zum Park Fiction laufe, über den Hans-Albers-Platz spaziere, rufe ich mir als ehemaliger St. Paulianer ins Gedächtnis: Hier gibt es nicht nur Junggesellenabschiede und Kegelfahrten, die sich klischeemäßig austoben wollen. Das hier ist auch ein sehr schöner und lebenswerter Stadtteil. Noch dazu ist gerade Europas größtes Clubfestival in vollem Gange, heute kommen eben noch etliche Tourist*innen dazu. An diesem Freitag ist es hier auf dem Kiez also traditionell deutlich belebter, als ich durch die Festival-App scrolle und abwäge, was ich mir als nächstes anschaue. Ich streife viel umher, höre "Only The Poets" am N-JOY Reeperbus zu, gehe auch mal im Molotow Backyard vorbei - und wie viele andere Musikfans genieße auch ich das gute Wetter.
Billy Bragg in der Großen Freiheit 36
Nach vielen kleinen Auftritten freue ich mich heute auf mein erstes großes Konzert: In diesem Jahr ist nach einer Abstinenz und Corona-Verstimmungen endlich wieder die Große Freiheit 36 als Location Teil des Reeperbahn Festivals. Und so stehe ich mit vielen Fans mittleren Alters in dem Club für Billy Bragg: Mit dem Œuvre des britischen Singer-Songwriters - bekannt für Protestsongs aus der Working Class, irgendwo zwischen Folk, Punk und Pop - hatte ich bisher nur wenig Berührungspunkte. Nach seiner Show hier und heute bin ich aber ausgesprochen neugierig: Ansagen mit Punker-Haltung, Spitzen gegen das britische Königshaus - Mr. Bragg ist mir auf Anhieb sympathisch.
Die Qual der Wahl...
Als ich später vor dem Sommersalon sitze (ich hätte mir gern drinnen Tiflis Transit oder Easy Easy angeschaut, aber: leider zu voll), stehe ich mit meiner Festival-App immer noch vor der Entscheidung: Schaue ich mir heute Abend nun die mir schon bekannten großartigen Alternative-Rock-Schweden von The Hives an? Oder doch lieber die aktuell hochgehypten Punker von Team Scheisse? Oder pendele ich zwischen zwei Konzerten und schaue also keine Band so richtig? Solche Entscheidungen sind jetzt zwar nicht unbedingt weltverändernd, müssen für mich als Blogger aber trotzdem einigermaßen weise geplant sein, es geht hier auch um eine halbe Stunde Fußweg. So entscheide ich mich für die Punkband aus Bremen. Vorher treffe ich aber eine sowohl spontane als auch genau richtige Entscheidung, als ich erneut in die Große Freiheit 36 einbiege. Hier tritt gerade Christian Löffler auf - und das gefällt mir richtig gut.
Einmal durchpusten lassen: Christian Löffler
Entgegen meinem Indie-Rock- und Britpop-Image habe ich ein großes Faible für elektronische Musik. Depeche Mode ist meine erklärte Lieblingsband, dazu hatte ich Anfang des Jahres mal wieder eine kleine Kraftwerk-Phase; mit Künstler*innen wie HVOB oder Moderat kann man mir eine große Freude machen. Daher tut es mir richtig gut, mich von den Bässen und dem sphärischen Set des Greifswalder Techno- und Electronica-Künstlers einmal gescheit durchpusten zu lassen. Ja, als Indie-Typ habe ich vermeintlich eh keine Ahnung von Club-/Trance-/House-Musik, aber immerhin ist es bis auf dezente Lichteffekte dunkel und ich lasse mir nichts anmerken, während ich brav in der Ecke stehend vor mich hin tanze. Notiz an mich selbst: Vielleicht mal Platten von Christian Löffler erwerben.
Abwägen: The Hives oder Team Scheisse
Nach Christian Löffler mache ich mich auf den Weg ins Knust. Zwar spielen Team Scheisse auch morgen noch im Uebel & Gefährlich - aber da beide Konzerte garantiert voll werden, gehe ich lieber in den Club auf dem Lattenplatz. Liebe alle, die Team Scheisse im Uebel & Gefährlich anschauen werden: Macht euch darauf gefasst, dass es sehr voll, heiß und stickig werden wird! Hier aber nun ein kurzer Abriss zum Phänomen Team Scheisse - und warum ich (und ehrlicherweise alle anderen auch) so ein Gewese um die Band mache(n): Ja, der Bandname ist einerseits gefühlt mittelprächtig, andererseits gibt er auch gut die inhaltliche Richtung der Songs vor; sprich: (Selbst)Ironie ist bei der Bremer Band die Werkseinstellung. Dieser Spaß der sechs Musiker in den Songs (stichprobenartiges Beispiel: "Sternzeichen Schlagring") bringt eine angenehme Leichtigkeit in das teilweise bierernste Genre Punkrock.
Was hat es mit dem Hype um Team Scheisse auf sich?
Dazu gibt es außerdem scheinbar revolutionäre Entwicklungen im tendenziell derben Männlichkeitsdominierten Punk. So bittet auch heute Abend Sänger Timo Warkus das männliche Publikum: Lasst auch FLINTA-Personen ihren Spaß, achtet aufeinander, rempelt Leute nicht mit Ellbogen an, sondern seid lieber hilfsbereit, wenn jemand auf der Tanzfläche zu Boden geht. Wenn ihr zu viel getrunken habt, geht an den Rand, nervt andere Leute nicht, begrapscht keine Frauen und behaltet verdammt nochmal eure T-Shirts an. Als bebrillter Indie-Schluffi habe ich seit Teenager-Zeiten ohnehin das stete Bedürfnis, mich entweder nach ganz hinten oder zumindest an den Rand eines Publikums zu stellen: Eine energiegeladene Show ist natürlich immer großartig, ich will aber auch nicht andauernd zum Optiker rennen und meine Brille reparieren lassen müssen.
Eine erfreuliche Entwicklung im Punkrock
Bei dem heutigen Konzert von Team Scheisse empfinde ich nicht nur eine bemerkenswerte Gelassenheit, es ist zudem auch sehr erfreulich zu sehen, wie sich die anwesenden Frauen sorglos in den Moshpit stürzen, wild tanzen und pogen - ohne die Angst betatscht zu werden. Songs der Band dauern im Durchschnitt weniger als zwei Minuten, sind wie erwähnt voller Wortwitz (Anspieltipps: "Karstadtdetektiv", "Verjubel Mein Cash", "Vorgesetzer") und eignen sich prima dazu, wie angezündet rumzuspringen. So geht die Show im Knust auch schnell vorbei - sogar schneller vorbei als geplant. Wie gesagt, im Schnitt dauern ihre Songs anderthalb Minuten; da wird der Hit "Schmetterling" gleich zweimal gespielt.
Mit einem angenehmen Rauschen in den Ohren, das sich mit einem schrillen Fiepen abwechselt, latsche ich heimwärts. The Hives habe ich verpasst … ach man. Aber immerhin habe ich dafür ein hervorragendes Konzert von Team Scheisse gesehen - und morgen Zeit für andere Bands. Jetzt geht es für heute also nach Hause, ab an den Laptop, die Arbeit ruft: Dieser Blog schreibt sich schließlich nicht von selbst.
Meine Tipps für den Samstag
Ein Tag ist noch übrig beim Reeperbahn Festival 2023. Euch möchte ich dafür folgende Empfehlungen mit auf dem Weg geben: In der Großen Freiheit 36 kann ich Holly Humberstone (20:20 Uhr) und die Pretenders (22:20 Uhr) empfehlen. Eine Etage tiefer tritt um 23:30 Uhr Bartees Strange auf. Wer ein Konzert in der St. Michaelis Kirche besuchen möchte: Kate Stables alias This Is The Kit ist toll, gibt’s um 23 Uhr im Michel. Im Gruenspan kann ich zudem die Blood Red Shoes und Arab Strap empfehlen. Und wer das Glück hatte, Ticktets zu bekommen: Matt Corby und Altin Gün treten in der Elphilharmonie auf.
Aktuell hoffe ich jedoch inständig, dass morgen nicht in noch einem anderen angrenzenden Garten ein Laubsauger angeworfen wird. In wenigen Sekunden stürze ich mich in einen Traum aus herrlich weichen Daunen und träume von noch mehr Konzerten. In diesem Sinne: Bis später!