Alexander Schulz: Wohin steuert das Hamburger Reeperbahnfestival?
Geschlechtergerechtigkeit, Nachwuchsmangel, KI - all diese Themen und mehr treiben Alexander Schulz, den Chef des Hamburger Reeperbahnfestivals um. Er erzählt wie das Clubfestival dazu steht und - gibt einen Geheimtipp!
Die vergangenen Jahre, waren für das Hamburger Reeperbahnfestival eine echte Herausforderung durch Corona, explodierende Energiepreise und Veranstaltungskosten. Natürlich hat sich auch das Clubfestival als Spiegelbild der Branche gezeigt. Der kreative Kopf hinter allem, das ist Festivalchef Alexander Schulz, Gründer und Veranstalter.
Geht es jetzt denn wieder richtig bergauf nach der zuletzt eher schwierigen Zeit?
Alexander Schulz: Ja, so ist es. Wir sind fast wieder da, wo wir 2019 also vor der Pandemie aufgehört haben, was unser Programmangebot betrifft, sowohl an die Fachbesucher als auch an das öffentliche Publikum. Und wir erwarten auch annähernd so viele Besucher sowohl bei den Fachbesuchern, als auch im öffentlichen Teil.
Welche Faktoren haben denn eine Rolle gespielt bei der Auswahl der Acts?
Schulz: Das Reeperbahn Festival hat sich auf die Fahnen geschrieben, dass wir die neuesten Talente aus aller Welt zeigen und das ist letztlich auch unser Erfolgsgarant. Das geht jetzt auch nach der Pandemie zum ersten Mal wieder so richtig gut, weil auch das Reisen wieder funktioniert. Und insofern prüfen wir genau diese Künstler. Es gibt ganz wenig etablierte Acts in jedem Jahr. Die gibt es auch dieses Jahr. Aber der Schwerpunkt liegt eben auch auf neuen Talenten aus aller Welt, weil wir abbilden wollen, wie sich die Musik in einem Jahr weltweit entwickelt.
Vor allem neue Musik entdecken will das Festival. Und es ist deshalb kein Headliner-Festival. Bekannte Musiker trifft man hier aber trotzdem.
Schulz: Ja, so ist es, das kann man nicht vermeiden und das machen wir auch gerne. In diesem Jahr sind unter den bekannten Künstlerinnnen "The Hives" oder Billy Bragg oder auch "The Pretenders". Solche Verpflichtungen entstehen: Der Frontman von "The Hives" Pelle Almqvist ist in diesem Jahr der Moderator unserer Abschlussgala und da lag es nahe, dass er auch noch schnell eine Show mit seiner Band spielt.
Das Reeperbahn-Festival ist ja auch ein Branchentreffen, bei dem Herausforderungen besprochen und wichtige Weichen für die Zukunft gestellt werden: Geschlechtergerechtigkeit vor und hinter den Bühnen hatten sie sich auf die Fahnen geschrieben - mit welchem Erfolg bisher?
Schulz: Wir haben 2016 begonnen mit einer Initiative namens "Keychange" mit zehn weiteren europäischen Partnern und auch einem Partner in Kanada. Da geht es darum, die Musikangebote, also Radioprogramme, Festival Line-Ups, Playlists und Streaming-Services gendergerecht zu verändern, weil wir glauben, dass es auch der Musik und der Musikwirtschaft hilft. Inzwischen haben 600 Organisationen weltweit: Spielorte, Festivals, Radiostationen und andere, die Keychange Absichtserklärung unterschrieben, innerhalb von fünf Jahren ihre Programme geschlechtergerecht anzubieten. Das würden wir als Erfolg verbuchen.
Soziale Verantwortung der Musikwirtschaft - wir erinnern uns natürlich alle an den Diskurs um Machtmissbrauch auch in diesem Bereich. Wo steht denn das Reeperbahn-Festival heute mit Blick auf ein geschlechtergerechtes Line-Up? Können wir da etwas Genaueres hören.
Schulz: 55 Prozent der auftretenden Künstlerinnen und Künstler sind weiblich, in diesem Jahr und im Conference-sessions-Programm, also dem Fachbesucherangebot tagsüber sind 48 Prozent der Speakerinnen weiblich. Da stehen wir selbst.
55 Prozent der Acts mit weiblicher Beteiligung, heißt aber nicht 55 Prozent Frauen auf der Bühne, wenn ich das richtig verstehe?
Schulz: Die Zählweise in "Keychange" definiert sich etwas anders. Man addiert nicht alle auftretenden Musikerinnen. Ich kann gar nicht sagen, wie hoch die Quote wäre - ob noch höher oder geringer? Nach der Zählweise von Keychange sind es 55 Prozent.
Jetzt gibt es neben den Konzerten den sogenannten Kongress, das ist ein Treffpunkt für die Musikbranche. Welche Themen spielen da in diesem Jahr eine besondere Rolle? Und warum?
Schulz: Neben Gender-Equality in der Musik aus den genannten Gründen haben wir jetzt in diesem Jahr ganz oben auf der Agenda: Nachhaltigkeit, Artificial Intelligence und Nachwuchskräftemangel. Mit Nachhaltigkeit meinen wir zunächst einmal die ökologische Nachhaltigkeit. Wir glauben, dass viele Musikfestivals, aber auch andere Musikprodukte darauf Rücksicht nehmen müssen, zum einen in der Gesamtverantwortung für gesellschaftliches Handeln, aber auch, weil die Nutzerinnen und Käuferinnen von Musikangeboten immer mehr darauf achten. Wir betrachten dann - ganz wichtig für die Musik, aber für andere kreative Branchen auch - das Thema künstliche Intelligenz. Für einige Teilmärkte in der Musik ist das bedrohlicher als für andere. Für manche ist es eher eine Chance, Prozesse zu vereinfachen. Das wird in den nächsten Tagen von allen Seiten beleuchtet. Das dritte sehr wichtige Thema ist der Nachwuchskräftemangel. Es ist eben nicht mehr so, dass die Musikwirtschaft die allererste Adresse ist für die Personen, die in einen neuen Beruf einsteigen wollen. Wir müssen tatsächlich für Nachwuchskräfte werben.
Bleiben wir noch mal kurz bei der künstlichen Intelligenz. Es gibt natürlich die, die das fürchten, die sagen wenn künstliche Intelligenz das Texten und Komponieren übernimmt, dann könnte das im schlimmsten Fall unsere Jobs kosten. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, gibt es auch Befürworter?
Schulz: Genau. Wir teilen die Musik in unterschiedliche Teilmärkte. Ich fange mal bei denen an, für die der Umstand, dass künstliche Intelligenz irgendwann eine Rolle spielen wird und immer mehr eine Rolle spielen wird eher eine Chance ist, nämlich die Konzertveranstalter. Wir gehen nicht davon aus, das künstliche Intelligenz - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen wie die ABBA-Produktion in London - jemals das einzigartige und multi-sensuale Konzerterlebnis ersetzen können wird. Das heißt umgekehrt: Das wird noch mal wertvoller. Wenn es wirklich so kommt, dass künstliche Intelligenz beim Verfertigen von Musik irgendeine Rolle spielt, wird das Live-Erlebnis nochmal einzigartiger und also wertvoller. Anders ist es bei der aufgenommenen Musik. Da gibt es Befürchtungen, dass Titel automatisiert geschrieben werden. Da geht es dann um Urheberrechte und Leistungsschutzrechte, die angegriffen werden könnten auf der einen Seite. Und es geht darum, dass natürlich das Produkt Musik sich möglicherweise nicht mehr verbessert, weil er kein neuer Input entstehen kann.
Abschließend gefragt, auf welche menschengemachte Musik freuen Sie sich bei diesem Festival denn besonders? Haben Sie einen Geheimtipp?
Schulz: Wir haben einen eigenen Wettbewerb, der heißt "Anchor". Da sind die - nach unserer Ansicht oder nach Ansicht der Expertinnen - besten sechs Talente eines Musikjahres vereint unter der Betrachtung einer Jury. Ich habe zwei Favoriten. Ich kann das sagen, weil die Jury urteilt, wie sie urteilt und nicht auf mich hört. Das ist einmal der Künstler "Hannes" aus Schweden. Und dann empfehle ich ganz dringend "The Last Dinnerparty" aus UK.
Das Interview führte Philipp Cavert.