Jubel statt Protest: Teodor Currentzis in der Elbphilharmonie
Teodor Currentzis hat am Mittwochabend ein Konzert mit dem SWR-Symphonieorchester in der Elbphilharmonie dirigiert. Das Hamburger Publikum war begeistert - Proteste wegen Currentzis' Haltung gegenüber Russland blieben aus.
Teodor Currentzis hat als Dirigent schon immer viele Schlagzeilen produziert. Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde noch künstlerisch debattiert: Ist er ein Scharlatan, der bekannte klassische Werke künstlich anschärft und grell verzerrt? Oder ein genialer Klangarchitekt, der Bekanntes neu ausleuchtet? Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine bestimmt eine Frage die Diskussion: Darf der gebürtige Grieche mit russischem Pass weiter eine Rolle im westlichen Musikleben spielen? Hätte er sich nicht längst klar gegen die russische Aggression positionieren müssen?
Gerade in den vergangenen Wochen ist wieder viel Papier mit diesen Problematisierungen bedruckt worden. Die Kölner Philharmonie hat das Konzert mit Currentzis und dem SWR-Sinfonieorchester abgesagt. In der Hamburger Elbphilharmonie hat es wie geplant stattgefunden - und von den Irritationen war nichts zu spüren.
Hamburger Publikum feiert Currentzis
Das Hamburger Publikum liebt und bejubelt den umstrittenen Dirigenten. Der tritt inzwischen dezenter auf, die Zeit der Skinny-Jeans und Springerstiefel ist vorbei. Auch sein Dirigat scheint ökonomischer geworden und erinnert weniger an Ausdruckstanz als früher. Mit Igor Strawinskys "Sacre du Printemps" und Sergei Prokofjews 2. Klavierkonzert setzt Currentzis zwei Werke von 1913 aufs Programm.
Musik, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs entstanden ist, zu einer Zeit, als die fortschrittliche russische Kunst in Europa noch maßgeblich war und nicht grimmig abgeschottet von der Gegenwart. Ein Klavierkonzert wie atemberaubender Farbrausch, durch den die russische Pianistin Julianna Awdejewa mit beeindruckender Energie und Überlegenheit navigiert. Das Orchester trägt sie dabei wach und im Stuhlkantenmodus. Die Tempi rasant, die vertrackten Rhythmen sitzen. Auch die Klangfarben tariert Currentzis minutiös aus. Um das zu erreichen, genügt kein exaltiertes Bewegungsrepertoire; hier wurde intensiv geprobt.
Eher Kontrolle als Entfesselung
Es scheint, als setze Teodor Currentzis, anders als bei früheren Konzerten, heute eher auf Kontrolle als auf Entfesselung. Bei einem Werk wie Strawinskys Frühlingsopfer entlädt sich die Orchesterenergie oft brachial. Currentzis hält sie im Zaum, um so wirkungsvoller dann die wohlgewählten Klimax-Momente. Den Bolero von Maurice Ravel begleitet er lange fast bewegungslos, entwirft den Klassikhit wie eine filigrane Minimal-Music-Konstruktion. Die Explosion kommt in den letzten Takten. So kultiviert hat man dieses Tanzstück selten gehört.
Als Zugabe 30 Minuten Kammermusik
In der "Zeit" las man vor Kurzem, wie Teodor Currentzis im Moskauer Konservatorium als unsympathischer Dämon für die oberen 4.000 der Stadt dirigierte. Angekarrt mit einer Limousine, die sonst der Staatsspitze vorbehalten sei. Ist das derselbe Mann, der jetzt in der Elbphilharmonie mit seinen Musikern im Publikum sitzt und der langen Zugabe lauscht? Eine stimmige Tradition, die Currentzis beim SWR eingeführt hat: Abgerundet werden die Sinfoniekonzerte von einem Kammermusikwerk. Aufgeführt von Orchestermusikern, die man sonst nur im Tutti hört. An diesem Abend das 2. Klaviertrio von Dmitri Schostakowitsch. Kaum jemand verlässt den Saal, die Konzentration ist immens. Immerhin ist es schon kurz vor 23 Uhr.
Dirigent mit doppelter Staatsbürgerschaft
Kritiker werfen Currentzis vor, er führe ein Vexierspiel auf: Den öffentlich-rechtlichen Motivationstrainer hier, den düsteren Diktatorenvasallen da. Immerhin, der Grieche hat auch einen russischen Pass und feierte seinen 50. Geburtstag ausgerechnet am 24. Februar in St. Petersburg. Führt er die Konzertveranstalter in Westeuropa hinters Licht? Vielleicht wird aber auch eine Zeit kommen, in der man nach genau diesen Menschen sucht, die beide Kulturen verstehen - die liberale westliche und die sich unverstanden fühlende östliche. Es wird ein Russland nach dem Krieg geben, und es wird Menschen brauchen, die die Sprache dieses Russlands verstehen.