Unverwechselbar: Die Notkirchen im Norden
Die St. Markus-Kirche im Hamburger Stadtteil Hoheluft ist leicht zu übersehen. Sie hat - zumindest auf den ersten Blick - nichts Besonderes. Der Turm ist nicht sonderlich hoch und der rote Backstein schmückt auch viele andere Hamburger Kirchen. Und doch geraten Kirchenbau-Experten ins Schwärmen, wenn sie über den Bau sprechen. Die St. Markus-Kirche ist seit ihrem Wiederaufbau eine der sogenannten Notkirchen, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland entstanden sind. Mithilfe von ausländischen Spenden konnten damals evangelische Gemeinden neue Kirchen errichten. Der renommierte Architekt Otto Bartning hatte eine Art Baukasten-System ausgetüftelt, das günstig und einfach aufzubauen war.
40.000 US-Dollar gespendet
Für die St.-Markus-Gemeinde ist die Bartning-Lösung ideal. Die 1899 erbaute neugotische Vorgängerkirche war in der Nacht vom 24. auf 25. Juli 1943 im Zuge der "Aktion Gomorrha" von Bomben britischer und US-amerikanischer Flugzeuge getroffen worden. Das Dach wird komplett zerstört, nur die Seitenmauern des Kirchenschiffs, der Chor und ein Teil des Turmes bleiben stehen. Im Mai 1948 beginnt die St. Markus-Gemeinde mit dem Wiederaufbau. Hierfür hatte sie - die für damalige Verhältnisse riesige Summe von - 40.000 US-Dollar als Spende erhalten. Das seriell vorgefertigte und leicht montierbare Holz wird aus der Schweiz geliefert.
"Wir hatten das Glück, dass die Holzkonstruktion von Otto Bartning mit ihren Maßen genau in unsere Ruine passte", erzählt der heutige Pastor Otto-Michael Dülge. Und so setzte die Gemeinde die Notkirche kurzerhand in die Reste der alten Kirche. Im September 1948 feiern die Gläubigen das Richtfest, am 20. März 1949 wird die neue Kirche eingeweiht. Als örtlicher Architekt fungiert der Hamburger Architekt Gerhard Langmaack, der später auch den Wiederaufbau der St. Michaelis-Kirche in der Innenstadt leiten sollte.
Die erste wiederaufgebaute Kirche Hamburgs
Die St. Markus-Kirche ist die erste Kirche, die nach 1945 in Hamburg aufgebaut worden ist. Zugleich ist sie die erste von insgesamt elf Notkirchen Norddeutschlands. Bundesweit entstehen zwischen 1948 und 1951 43 Notkirchen, von denen 41 noch erhalten sind. Sie könnten bald in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen werden. Zumindest wenn es nach Immo Wittig von dem Berliner Verein "Otto Bartning-Arbeitsgemeinschaft Kirchenbau" geht. Für ihn sind die Bauten "lebende Gedenkorte" und ein seltenes Zeugnis der Nachkriegsgeschichte. Der Verdienst Otto Bartnings sei es gewesen, eine "genial-einfache Konstruktion" entworfen zu haben. "Die gelieferten Holzteile sollten ja von den Gemeindemitgliedern vor Ort eingebaut werden, also von Laien", sagt Wittig im Gespräch mit NDR.de. "Deshalb war es auch wichtig, dass die Statik des Dachs schon geklärt war, also die Konstruktion selbsttragend war." Die Grundmauern errichteten die Gemeinde-Mitglieder selbst, meist mit Trümmersteinen.
Hilfe für die Seele nach der Diktatur
Die Idee für ein Notkirchen-Programm ist schon während des Kriegs aufgekommen. Bartning wird Ende 1947 als federführender Architekt ausgewählt, weil er sich schon einen Namen als Kirchen-Architekt gemacht hat und - was noch wichtiger ist - als politisch unbelastet gilt. 40 Notkirchen sind anfangs geplant. "Der Löwenanteil der Spenden kam mit rund 90 Prozent der Gesamtsumme von Christen aus den USA", weiß Wittig. Es sei darum gegangen, die deutschen Christen nach der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur nicht allein zu lassen. Sie sollten seelisch gestärkt werden, indem sie einen festen Ort für ihre Gottesdienste haben. Auch die Schweizer Christen sammeln eifrig für die norddeutschen Glaubensbrüder und -schwestern. So heißt die Notkirche in Emden bis heute "Schweizer Kirche", weil sie mithilfe von Spenden aus dem Alpenland fertiggestellt wurde.
Notkirchen auch in der DDR
Das Notprogramm macht nicht an der innerdeutschen Grenze halt: Auch in der DDR entstehen zwischen 1949 und 1951 sieben Notkirchen, unter anderem in Rostock, Wismar und Stralsund. "Die evangelische Kirche hat sich damals noch als Einheit verstanden", sagt Wittig. Und die DDR habe sich über die ausländischen Devisen gefreut. Mit dem Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik läuft das Notkirchen-Programm aus. "Das war das natürliche Ende; da konnte man ja keine Spenden mehr aus dem Ausland erwarten."
Nicht als Provisorium gedacht
Obwohl das Bartning-Programm aus der Not heraus entstanden ist: "Die Notkirchen waren nie als Provisorium gedacht", hebt Wittig hervor. Dafür spricht auch, dass mehr als sechzig Jahre später die meisten Notkirchen erhalten sind - und die Gemeinden sich in den Räumen wohl fühlen. Das berichtet auch Pastor Dülge von der St. Markus-Gemeinde. "Es gibt bei der älteren Generation eine große emotionale Bindung an die Kirche, sie haben sie ja teilweise selbst mit aufgebaut." Und die Kirche sei von der Größe her ideal für die heutigen Anforderungen. "Wenn am Sonntag 40 oder 50 Mitglieder zum Gottesdienst kommen, hat man den Eindruck, die Kirche ist ganz gut gefüllt."
Mit dem Geld kam der Abriss-Plan
Die St. Markus-Gemeinde in Hamburg hat nur einmal den Abriss der Bartning-Kirche erwogen. In den 70er-Jahren ist ihr der Bau nicht mehr gut genug. "Als die Gemeinde damals nur so in Geld schwamm, gab es die Idee, die kriegszerstörte Kirche wieder aufzubauen", berichtet Dülge. Aber da habe die Denkmalschutzbehörde nicht mitgemacht. Und so hat die Notkirche in Hoheluft die Jahrzehnte überdauert. Ab und an sei mal eine Dachpfanne heruntergefallen, aber ansonsten sei noch keine große Renovierung vonnöten gewesen, sagt der Pastor.
Der Traum vom Weltkulturerbe
Notkirchen-Experte Wittig findet, dass die Bauten bis heute ihre Faszination nicht verloren haben."Wer jetzt eine Notkirche betritt, ist immer noch positiv erstaunt." Zudem seien die Gebäude ein ganz besonderes Zeugnis der Nachkriegsgeschichte. Nicht allein wegen der Architektur, sondern auch weil sie für den Geist der Versöhnung stünden. Denn ohne die Spenden aus dem Ausland wäre das Programm nie zustande gekommen. Und so hofft Wittig, dass die Notkirchen eines Tages als Weltkulturerbe anerkannt werden. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Zunächst muss geklärt werden, welche Gemeinden bei dem Projekt mitziehen. Welche Kirchen sollen in den Antrag mit aufgenommen werden? "Wir haben die Gemeinde alle angeschrieben und warten jetzt auf die Antworten", sagt Wittig von der Otto Bartning-Arbeitsgemeinschaft Kirchenbau.
"Wir machen nicht mit"
Die St. Markus-Gemeinde hat sich schon entschieden: Sie will nicht mitmachen. Zu schlecht seien die jüngsten Erfahrungen mit Denkmalschützern gewesen. "Anderthalb Jahr lang haben wir zuletzt über unsere Kirchenbeleuchtung gestritten", erzählt Pastor Dülge. Die historischen Leuchten über den Kirchenbänken durften nicht abgenommen werden. "Aber mit dem schmalen Lichtkegel konnten gerade mal zwei Leute in einer Reihe das Gesangsbuch lesen." Erst nach zähen Verhandlungen sei eine Lösung gefunden worden. Der Gemeinde-Vorstand befürchtet nun, dass solche Auseinandersetzungen im Falle einer Welterbe-Bewerbung noch zunehmen. Andere Gemeinden wie die Adventskirche in Hamburg-Schnelsen sehen die Welterbe-Initiative hingegen positiv.
Ob nun mit oder ohne UNESCO-Titel: Ein Abstecher in eine der norddeutschen Notkirchen lohnt sich. Das Schöne ist: Wer einmal eine Notkirche betreten hat, wird fortan auch jede andere Notkirche erkennen.