Wie sich der Kieler Matrosenaufstand bis heute auswirkt
Der Kieler Matrosenaufstand von 1918 gehört zu den weniger beachteten Ereignissen in der deutschen Geschichte. Dabei hatten es die Folgen durchaus in sich - und sie sind heute noch spürbar.
Historiker sprechen zwar von der vergessenen oder gar der verschämten Revolution, die in einem Aufmerksamkeitsloch der Erinnerung gelandet ist. Aus dem Matrosenaufstand entwickelte sich aber die Novemberrevolution und anschließend folgte die Ausrufung der Weimarer Republik - der ersten parlamentarische Demokratie in Deutschland. Aus den Matrosen, die den Befehl verweigerten und zunächst Verbesserungen in Marine erstreiten wollten, wurden Vorkämpfer für die Demokratie. "1918 ist ein gewaltiger Umbruch in der deutschen Geschichte", sagte Historiker Martin Rackwitz in der Sendung Zur Sache auf NDR 1 Welle Nord. "Das ist keine tote Geschichte. Die Entscheidungen, die damals getroffen wurden, die Rechte die erkämpft wurden, beeinflussen noch heute unser Leben, unsere Demokratie, aber auch unsere Arbeitswelt."
Matrosen wollten auch Frauenwahlrecht
Ein Beispiel: Bis zur Novemberrevolution galt "ein äußerst ungerechtes Wahlrecht", wie Rackwitz sagte. Auf kommunaler Ebene durften nur die Männer wählen, die ein bestimmtes Einkommen hatten. "Nur die wenigsten Leute durften wählen. 80 Prozent der Arbeiter in Kiel waren ausgeschlossen", berichtete Rackwitz. Und auf Landesebene wurden die Stimmen nach dem Steueraufkommen des Einzelnen unterschiedlich gewichtet. Frauen durften überhaupt nicht wählen. Hier wollten nicht nur die Matrosen Veränderungen. Und so kam es auch: Arbeiter und Frauen seien innerhalb weniger Monate mit Wahlrecht ausgestattet worden, berichtete Rackwitz. "Für viele Leute eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten."
Wichtige Grundrechte abgerungen
Außerdem setzten die Revolutionäre weitere wichtige Grundrechte durch: "Die Matrosen forderten die Aufhebung der Presse- und Briefzensur und die Wiedereinführung der freien Meinungsäußerung", erzählte Rackwitz. "Dass man sich versammeln, dass man demonstrieren, frei seine Meinung gegen den Krieg äußern konnte - all das musste der Militärmacht wieder abgerungen werden." Freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, Vereinigungsfreiheit - dass Menschen sich zusammenschließen können, um Parteien und Gewerkschaften zu gründen, ihre Rechte zu vertreten: "Das alles ermöglicht den Menschen Teilhaben am politischen System", sagte Rackwitz. Und es war in der Verfassung der Weimarer Republik später festgeschrieben.
Spuren bis ins Grundgesetz
Und das hat Folgen bis heute: "Wir können feststellen, dass die Verfassung von 1919 in weiten Teilen hineinreicht in die Verfassung 1949 - unsere Bundesrepublik", sagte Rolf Fischer, der Vorsitzende der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte in der NDR Sendung zur Sache. "Da ist eine lange historische Linien zu ziehen: Bestimmte Abschnitte wurden fast wörtlich übernommen." Interessant sei auch, dass es ein Teil der Revolutionäre von 1918/1919 waren, die dann in anderen politischen Funktionen die Verfassung von 1949 mitgeschrieben hätten.
Gewerkschaften und Industrielle einigen sich
Und auch wie die Wirtschafts- und Arbeitswelt heute funktioniert, ist durch die Geschehnisse im November 1918 stark beeinflusst. Bis dahin rangen Gewerkschaften um die Anerkennung durch die Arbeitgeber und forderten deutliche Verbesserungen für die Arbeitnehmer - gleichzeitig wollten Sozialisten die Enteignung der Schwerindustrie nach sowjetischem Vorbild - kurz nach der Revolution keine völlig unrealistische Option. Am 15. November 1918 schließen der Industrielle Hugo Stinnes und der Gewerkschaftschef Carl Legien ein Abkommen, das nach ihrem Namen benannt wird. Inhalt: Die Gewerkschaften werden von den Arbeitgebern anerkannt, der Acht-Stunden-Tag wird eingeführt. Die Gewerkschaften akzeptieren dafür das freie Unternehmertum. Damit nahmen die Arbeitgeber den Sozialisten den Wind aus den Segeln.
Die Lehre? "Für Demokratie einsetzen"
Vor allem wegen der demokratischen Errungenschaften, sehen Fischer und Rackwitz die Geschehnisse rund um den 3. November 1918 als Appell, sich für die Demokratie einzusetzen. "Die Lehre ist, Demokratie zu leben und sie zu einer eigenen Lebensauffassung zu machen", sagt Fischer. Außerdem müsse man Zivilcourage zeigen und Mut beweisen, sich gegen Demokratiefeinde zu wehren - und sich mit der eigenen Geschichte befassen. "Wir müssen uns nur in Europa einmal umgucken, wie autoritäre Regierungen versuchen, demokratische Grundrechte, Presse- und Meinungsfreiheit sowie Demonstrationsrechte einzuschränken", sagte Rackwitz. "Das ist jeder gefragt. Die Rechte müssen wir verteidigen."