Stand: 18.04.2018 10:32 Uhr

Frank Witzel: 1968 - das ganze Spektrum der Liebe

von Frank Witzel

1968 - ein Epochenjahr wird 50. Die Erinnerungen und die Assoziationen gehen in alle möglichen Richtungen: Protest, Revolte, Rebellion, Bewegung, Aufbruch. Und das Gegenteil: Kritik, Unbehagen, Beklemmung. Die 68er - sie polarisieren bis heute. Wir haben Künstler, Schriftsteller, Zeitgenossen aufgerufen, uns ihre Gedanken aufzuschreiben. Das haben bisher gemacht: Arno Geiger, Sibylle Lewitscharoff, Franziska Augstein, Nora Gomringer, Friedrich Schorlemmer und Elke Heidenreich. Jetzt setzen wir unsere Reihe mit dem Autor Frank Witzel fort. Für seinen Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" erhielt Frank Witzel den Deutschen Buchpreis 2015.

Frank Witzel steht neben einer Säule © dpa - Bildfunk Foto: Arne Dedert
Für seinen Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" erhielt Frank Witzel den Deutschen Buchpreis 2015.

Ohne genau nachzudenken oder in Fotoalben und Aufzeichnungen nachzuschauen, kann ich das Jahr 1968 nur ungenau von dem Jahr davor oder dem danach unterscheiden. Ich war zwölf, auf dem Gymnasium, wegen des Kurzschuljahrs womöglich bereits in der Quarta, aber was genau geschah, welche Lehrer wir in diesem Jahr hatten, zu welcher Freizeit ich mit den Pfadfindern fuhr, mit welchen Freunden ich mich mittags traf, das alles kann ich situativ erinnern, zeitlich aber nur ungenau zuordnen.

Wie setzten sich die Bilder von den Protesten der Studenten in meinem kindlichen Kopf zusammen? Was wusste ich von Vietnam, Prag oder Paris? Ich kann es beim besten Willen nicht sagen, weiß noch nicht einmal mehr, ob ich in diesem Sommer mit meinem Großvater nach London fuhr oder erst im Jahr darauf und ob es im Frühjahr '68 war, als ich mir den rechten Arm brach.

Denke ich allerdings an die Musik, ordnet sich das Jahr in eine recht genaue Abfolge von Songs – und jeder Song wiederum verbindet sich mit einem ganz spezifischen Gefühl. Es war 1968, als Beat und Pop sich für mich auszudifferenzieren begannen. In den Jahren davor war ich allein damit beschäftigt, mich auf eine Handvoll Bands zu konzentrieren, allen voran die Beatles, gefolgt von Kinks, Who, Small Faces und Stones. Ja, es war vor allem eine britische Welt, San Francisco, Hippies und Grateful Dead nahm ich erst mit einiger Verzögerung war, genauso wie den Summer of Love, den ich nicht 1967, sondern 1968 erlebte, als ich selbst noch nicht wusste, was es mit der Liebe eigentlich genau auf sich hat.

Das Gerüst, der Vierer, Fünfer oder Dreierband war im Jahr zuvor mit Erscheinen der Sergeant Pepper bereits zum Einsturz gebracht worden, und nun kamen orchestral verstärkte Solosänger und Gruppen, die einer Bombastik fröhnten, der ich mich, schließlich spielte ich neben der Gitarre in einem Jugendorchester Cello, weder entziehen konnte, noch wollte.

So lernte ich von Love Affair, dass man erst weggehen muss, um seine Everlasting Love zu erkennen, von Marmalade, dass es sogenannte Lovin' Things gibt, die jemand für einen tut, von Cupid's Inspiration, das Yesterday vergangen ist und nur das Jetzt in der Liebe zählt, während die Kinks umgekehrt an die unwiederbringlich vergangenen Days erinnerten, die man nie vergessen wird, ähnlich wie Mary Hopkin, die sich, nur fünf Jahre älter als ich, bereits an verflossene Tage des Glücks erinnerte. Die Grass Roots konnten ihre Liebe der ganzen Welt nur um Mitternacht gestehen, während die Doors erst ihre Liebe zum Ausdruck brachten und dann nach dem Namen der Geliebten fragten und die Marbles die einzige Frau besangen, an die man sein Herz verliert. Diese eine Frau, das war für die Monkees Valleri, für die Turtles Elenore, für die Casuals Jasemine, für Tom Jones Delilah, für Grapefruit Dear Delilah, für die Hollies Jennifer Eccles und für Barry Ryan am Ende des Jahres mit einem Riesen Orchesteraufwand Eloise.

Ich erfuhr von den Small Faces, dass man als Zinnsoldat bereit ist, in das Feuer der Liebe zu springen, von den Troggs, das Liebe überall ist, von American Breed, das einen die geliebte Frau biegen und formen und von einem Bettler, in einen König, Clown oder Dichter verwandeln kann.

Ich lernte in diesem einen Jahr also das ganze breite Spektrum der Liebe kennen. Natürlich nur in der Theorie. Und manchmal, meist gegen Mitternacht, stelle ich mir noch heute die wahrscheinlich nicht aufzulösende Frage, ob ich in den nach 1968 folgenden Jahren und Jahrzehnten die Liebe genauso oder so ähnlich erlebt habe, weil sie eben genauso oder so ähnlich ist oder weil sie mir damals in all diesen unvergesslichen Songs genauso beigebracht wurde.

 

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Zwei Frauen auf dem Monterey Pop Festival am 17. Juni 1967 © picture alliance / AP Photo

1968: Ein Epochen-Jahr, das die Gesellschaft verändert

Das Jahr 1968 provoziert vielfältige Assoziationen. Die einen denken an Protest und Revolte, andere an ein bewegendes Gefühl des Aufbruchs. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 18.04.2018 | 19:00 Uhr

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