Stand: 28.03.2018 11:47 Uhr

Gomringer: "Pubertät Deutschlands nach '45"

von Nora Gomringer

1968 - ein Epochenjahr wird 50. Die Erinnerungen und die Assoziationen gehen in alle möglichen Richtungen: Protest, Revolte, Rebellion, Bewegung, Aufbruch. Und das Gegenteil: Kritik, Unbehagen, Beklemmung. Die 68er - sie polarisieren bis heute. Wir haben Künstler, Schriftsteller, Zeitgenossen aufgerufen, uns ihre Gedanken aufzuschreiben. Mit Arno Geiger, Sibylle Lewitscharoff und Franziska Augstein ist die Reihe gestartet, diesmal kommt Nora Gomringer zu Wort. Als Lyrikerin hat sie sich einen Namen gemacht, 2015 wurde sie für den Text "Recherche" mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Ihr wurde die Sprachkunst sozusagen in die Wiege gelegt: Ihr Vater ist der Schriftsteller Eugen Gomringer - Begründer der Konkreten Poesie. Weit entfernt von unserem Epochenjahr 1968, nämlich 1980, wurde Nora Gomringer geboren, und trotzdem sind die Auswirkungen auch für sie als heute 38-Jährige spürbar.

Nora Gomringer hält den Finger auf den Mund © NDR/Cordula Kropke Foto: Cordula Kropke
Als Nora Gomringer 1980 zur Welt kam, waren ihre Eltern schon nicht mehr ganz jung.

Ich bin das Kind alter Eltern. Meine Eltern waren schon alt, als ich auf die Welt kam. So alt, dass meine Mutter eine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen musste, die ans Licht brachte, dass ich behindert sein würde. Nicht fein, so was. Meine Mutter war tapfer und sagte "Ja" zu mir, dem obskuren Bauchwesen, und ich spürte den Mut, ließ alle Finger und Zehen ausbilden, auch das kleine Hirn und das etwas größere Herz und kam gesund und proper zur Welt. Das war 1980. Ich war ein Kind der Liebe. Mir war nie wichtig, ob ich geplant oder verunfallt war. Ich war da. Und bin es seitdem.

Voll am Limit und ganz beherzt

Die Zeit der 68er kenne ich nur als mahnende Zahlennennung. Raunend ausgesprochen manchmal. Und auch so, faktisch. So à la: Wenn es die 68er nicht gegeben hätte, wären viele Dinge nicht aufgeklärt worden, wir immer noch ein ziemlich rechts angehauchtes Land. Es wäre eigentlich wie in Österreich. So in etwa haben sich die 68er in mir abgebildet. In meiner Familie, vielleicht aufgrund der Altersstruktur, war keiner viel am sprechen über links und rechts. Wir waren, wir sind. Man ist einfach nicht für den Unsinn der Rechten, für die Wut und den Stumpfsinn, man ist für Internationalität, fürs Reisen, für Sprachen, für großes Leben, nicht sich stetig Verkleinerndes. Wir Gomringers leben immer voll und ganz, was die Finanzen angeht. Voll am Limit und ganz beherzt. Stets die Hoffnung hegend, dass im nächsten Monat wieder was aufs Konto kommt.

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Unbekleidete Besucher des legendären Woodstock-Festivals 1969 © picture-alliance/dpa Foto: UPI

Was übrig ist vom Lebensgefühl der 68er

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Unruhe und Wachsamkeit

Literatur ist kein Garant für Reichtum, aber manchmal für ein Ticket, das man in den Händen hält, das andere bezahlt haben, um einen nach Mumbai zu holen, um dort die eigenen Gedichte vorzulesen. Verrückt! Die 68er sind wie ein großes Gulasch. Alle Bürgerrechtsbewegungen links gerichteter Gruppen sind in einem großen Topf und eine Zahl steht drauf. Von meiner Mutter hab ich von der Erleichterung erfahren, die es bedeutete, ab den 60ern die Antibabypille nehmen zu können; von einem wesentlich älteren Ex-Freund, was es bedeutete, am Abend der Mondlandung 1969 ins Bett geschickt zu werden. Dann weiß ich noch um Kommune 1 und Alice Schwarzer 1971 mit dem Bekenntnis "Ich habe abgetrieben". Und ich vermeine zu wissen, dass alles aus dem großen Topf quoll, aus dem seither immer noch Unruhe und Wachsamkeit hervorköchelt.

Die 68er als Theaterbühne

Manche Geister vermuten heute auch die Political Correctness als Bodensatz. Manchmal schwappt sie hervor, manchmal muss man sie - krustig - herausschaben. Die 68er bilden für mich eine Theaterbühne; auf ihr treten langhaarige Menschen mit Schlaghosen auf, Cordhosenträger, mit Eltern, die schwiegen und ihren Kindern nichts von ihren Taten im Zweiten Weltkrieg erzählten. Sich-frei-geschwommen-Habende, vom Dorf in die Stadt Gezogene, Zuhörer, die 70er-Herbeisehner, Menschen, die Farbenblindheit propagierten und mit Rosa Parks Bus fahren wollten. Langston Hughes, der Jazzdichter in New York, swingte in seinen Worten vom "Nigger" und das Wort klang warm oder erweckend, wenn Malcom X es aussprach, wenn es von Martin Luther King in "Black Man" gewandelt wurde.

Das neue Deutschland passte vielen nicht

"I have a dream" ist mir der Satz der 68er geworden. Der Traum eines schwarzen Predigers in den USA entzündete die Welt und in Deutschland, wo man so lange so schlecht Englisch sprach und eine seltsam ergebene und gleichzeitig neugierige Haltung gegenüber den Alliierten zeigte, traute man sich selbst nicht über den Weg. Vielleicht könnte, würde man wieder dem Faschismus anheimfallen? Gut, dass Rudi Dutschke alle bewegte. Mein Opa sagte noch lange Zeit unschöne Dinge über die Linke, über Willy Brandt, über Dutschke. Das war die Angst und das neue Deutschland, das da aus dem Ei schlüpfte, sich seiner Schuld bewusst, das passte vielen nicht.

Nora Gomringer © ZEIT-Stiftung Foto: Ulrich Perrey
Gomringer: "Den Geist der 68er besaß meine Familie immer."
Kompromisslos und gradlinig

So fühle ich die 68er: als die generelle Pubertät des Deutschlands nach 45. Auflehnung im Inneren durch Einflüsse von anderen, die Beantwortung der Frage, wer man sein wollte für die nächsten Dekaden. Wem man was schuldete und wer einem was schuldete. Die 68er ermöglichten es, dass ich als Kind einer spät Studierenden und einem Literaten zur Welt kam, der damals schon berühmt war. Mit einer Poesie, die kompromisslos und gradlinig aufs Konkrete setzte. Den Geist der 68er besaß meine Familie immer. Und wie bei fast allen Dingen, die man schon immer und für alle Zeit besitzt, muss man nicht darüber sprechen. Man lebt sie mit.

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Zwei Frauen auf dem Monterey Pop Festival am 17. Juni 1967 © picture alliance / AP Photo

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NDR Kultur | 28.03.2018 | 14:00 Uhr

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