Arno Geiger: "Verhältnisse grundlegend geändert"
1968 - ein Jahr, das vielfältigste Assoziationen und Erinnerungen provoziert: Die einen denken an Protest und Revolte, andere an ein bewegendes Gefühl des Aufbruchs. Bis heute polarisieren die sogenannten Achtundsechziger. NDR Kultur hat Schriftsteller, Intellektuelle, Künstler und Zeitgenossen aufgerufen, sich zu äußern zu jenem Epochenjahr, das in diesem Jahr 50 wird.
Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger macht den Anfang. Für sein Buch "Es geht uns gut" wurde er 2005 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. In dem Roman "Der alte König in seinem Exil" erzählt Arno Geiger berührend von der Demenzkrankheit seines Vaters, 2011 erschienen. Und vor Kurzem erst kam sein Buch "Unter der Drachenwand" heraus. Arno Geiger, selbst Jahrgang 1968, erinnert sich für uns an ein aufwirbelndes Jahr und die Nachwirkungen, die prägend waren für seine Kindheit und Jugend.
Gesellschaft im Umbruch
"Ich bin 1968 geboren, aufgewachsen in Wolfurt, Vorarlberg, wo ab 1962 ein Twist-Verbot bestand, denn das Twisttanzen wurde als Frontalangriff auf die herrschenden Wertmaßstäbe empfunden. Auch "Bravo" und "Quick" waren zu dieser Zeit in Vorarlberg verpönt. Zwölf Jahre später - da war ich sechs - hatten sich die Verhältnisse grundlegend geändert, was zeigt, wie sehr sich die Gesellschaft im Umbruch befand. Oder besser gesagt: im Aufbruch. Meine Kindergärtnerinnen trugen teils ungeheuer imposante Schlaghosen aus Schnürlsamt und gingen auf Plateausandalen. Das imponierte mir so sehr, dass ich noch Jahre später beim Zeichnen Frauen mit Schlaghosen darstellte. Und meine ältesten Cousins, 15 Jahre älter als ich, hatten Haare bis tief in den Rücken hinein. Von ihnen hörte ich erstmals die Passwörter der neuen Zeit: Freiheit, Selbstverwirklichung, Flower Power, aussteigen - ich genoss es, solche Wörter zu gebrauchen.
Gleichberechtigung zu Hause realisiert
Von noch größerer Bedeutung war, dass meine Mutter im Vergleich zu den meisten Frauen ihres Alters ziemlich moderne Ansichten vertrat. Sie arbeitete trotz der vier Kinder als Lehrerin und ging über dörfliche Gepflogenheiten mit großer Sorglosigkeit hinweg. Und da mein Vater nicht das Bedürfnis verspürte, sich als Haushaltsvorstand hervorzutun, war bei uns zu Hause die Gleichberechtigung realisiert. Ich erinnere mich an keine andere Familie aus der Nachbarschaft, in der - wie bei uns - die Mutter den Wagen lenkte. Mein Vater schaute verträumt zum Fenster hinaus. Insgesamt ging es in Wolfurt auf dörfliche Weise bürgerlich zu mit Restbeständen des Bäuerlichen. Alkoholiker gab es viele, Drogenabhängige keine, also, nicht dass ich wüsste. Oder möglicherweise nur eine einzige: Ulli, meine Pfadfinderführerin bei den Wölflingen. Wir alle liebten Ulli. Alle Buben waren in Ulli verliebt. Sie hatte schwarze Haare bis über den Hintern, trug ihre Haare aber immer unter dem T-Shirt und steckte sie sich in die Hose hinein. Und im Winter trug sie darüber einen gestrickten Pullover, der noch länger war als ihre Haare. Später hieß es, Ulli habe Heroin genommen. Verbürgt ist das nicht. Eine frühe große Liebe von mir.
Revolution und Erschütterung
Zur selben Zeit, 1977, kam dann doch noch die Revolution nach Wolfurt: die offene Revolution! Ein junger Bursche aus dem Ort hatte sich in Wien der Bewegung 2. Juni angeschlossen, einer Schwester-Fraktion der RAF, benannt nach dem Todestag von Benno Ohnesorg. Der junge Wolfurter, ein früherer Schüler meiner Mutter, beteiligte sich an der Entführung des Wäscheindustriellen Palmers. Und was ich bis heute nicht begreife und nicht verstehe: warum seine Mitkämpfer ausgerechnet ihn, den Vorarlberger, zum Telefon schickten, damit er die Forderungen der Bewegung bekannt mache. Einen Vorarlberger erkennt man überall, jederzeit und immer - am Akzent! Und spricht er nur das Wort Revolution aus oder das Wort Kapital, man erkennt ihn sofort. Ein kapitaler Fehler.
In den Vorarlberger Nachrichten wurde eine Telefonnummer abgedruckt, unter dieser Nummer konnte man sich die Stimme des jungen Mannes anhören zwecks Identifizierung - das tat ich mehrfach, neunjährig, von gruseligen Schauern durchlaufen. Meine Mutter, die den Palmers-Entführer unterrichtet hatte, war sehr betroffen. Und mein Vater, der mit dem Vater des Entführers auf Gemeindeebene zusammenarbeitete und ihn sehr schätzte, war tagelang gedämpft, regelrecht erschüttert. Noch zehn Jahre später standen meine Eltern unter dem Einfluss dieser Erfahrung und untersagten mir, dass ich zum Studieren nach Wien ging, Argument: 'Was daraus wird, hat man beim jungen Gratt gesehen.' Also ging ich nach Innsbruck und begann dort mit meinem ersten Roman. Diesem Roman ist ein Motto vorangestellt: Namen gäb's für dich - viele, viele! Es stammt aus Wladimir Majakowskis 'Ode an die Revolution'."